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Zivilprozessrecht
65
[...]
14
§ 113 lit. a ZPO
Kostenverlegung. Die Anwendung der Bestimmung von § 113 lit. a ZPO
ist entgegen AGVE 1993 Nr. 26 S. 93 auch bei Differenzen von mehr als
10% zwischen dem vorprozessualen Angebot und dem gerichtlichen
Zuspruch nicht ausgeschlossen, da die 10%-Regel zu schematisch ist und
dem Einzelfall nicht gerecht wird, in welchem auch die Höhe des Streit-
werts oder die Natur der Streitsache mit zu berücksichtigen sind.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 2. Zivilkammer, vom 30. Oktober
2002 in Sachen A. S. gegen L. und E. T. | 143 | 121 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2002-14_2002-10-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-14.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-14.pdf | AGVE_2002_14 | null | nan |
760959c2-4f0d-5622-8178-957cf6110d32 | 1 | 417 | 870,053 | 1,029,715,200,000 | 2,002 | de | 2002
Obergericht/Handelsgericht
78
B. Anwaltsrecht
24
Grundhonorar für ein durchschnittliches Eheschutz- bzw. Präliminarver-
fahren
Gegen die Festsetzung eines Grundhonorars von Fr. 2'500.-- für ein
durchschnittliches Eheschutz- bzw. Präliminarverfahren gestützt auf § 3
Abs. 1 lit. b AnwT ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Zusätzlich einge-
reichte Rechtsschriften werden im Rahmen von § 6 Abs. 3 AnwT berück-
sichtigt und mit entsprechenden Zuschlägen entschädigt. Sie führen nicht
zur Erhöhung des Grundhonorars.
Aus dem Entscheid der Inspektionskommission vom 19. August 2002 i.S.
S. gegen Gerichtspräsidium L. | 155 | 105 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2002-24_2002-08-19 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-24.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-24.pdf | AGVE_2002_24 | null | nan |
7789d5fd-1b13-5473-9e30-2eaaddc8f485 | 1 | 417 | 870,172 | 1,073,174,400,000 | 2,004 | de | 2004
Zivilrecht
37
B. Obligationenrecht
3
Art. 739 Abs. 1, 745 Abs. 1, 746 und 823 OR; §§ 66, 223 Abs. 4 lit. b und
234 StG; Art. 54 Abs. 2, 161 Abs. 4 lit. b und 171 DBG.
Betreibungsfähigkeit einer Handelsgesellschaft in Liquidation. Die Liqui-
dation einer Handelsgesellschaft ist erst mit der Tilgung auch der Steuer-
schulden wirklich beendet und die Gesellschaft darf deshalb erst mit Zu-
stimmung des kantonalen Steueramts im Handelsregister gelöscht wer-
den. Die Gesellschaft bleibt solange rechts- und betreibungsfähig und
kann somit für noch offene Steuerschulden betrieben werden.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 4. Zivilkammer, vom 19. Januar 2004
in Sachen K. A. gegen L. T. GmbH in Liquidation.
Aus den Erwägungen
2. Die Vorinstanz trat auf die Rechtsöffnungsklage nicht ein mit
der Begründung, die Beklagte habe nach durchgeführter Liquidation
aufgehört, als juristische Person zu existieren, und sei deshalb bei
Anhebung der Betreibung nicht mehr rechts- und damit auch nicht
mehr betreibungsfähig gewesen. Der Kläger vertritt demgegenüber
die Auffassung, die Beklagte sei so lange betreibungsfähig, als sie im
Handelsregister eingetragen sei.
3. Lehre und Rechtsprechung sind bezüglich der Frage, wann
eine Kapitalgesellschaft wie die Aktiengesellschaft oder GmbH als
juristische Person zu existieren aufhöre, geteilt. Während gewisse
Autoren (und das Bundesgericht für die kaufmännische Kollektivge-
sellschaft) die Auffassung vertreten, eine Gesellschaft höre nach
durchgeführter Liquidation zu bestehen auf (so etwa Meier-
Hayoz/Forstmoser, Schweizerisches Gesellschaftsrecht, Bern 2004,
N 444 zu § 16; Forstmoser/Meier-Hayoz/Nobel, Schweizerisches
Aktienrecht, Bern 1996, N 6 zu § 54; Bürgi/Nordmann-Zimmer-
mann, Zürcher Kommentar, Zürich 1979, N 7 zu Art. 746 OR; BGE
2004
Obergericht/Handelsgericht
38
81 II 361), vertreten andere und das Bundesgericht für die Aktienge-
sellschaft die Meinung, die Gesellschaft nehme ihr Ende erst mit der
Löschung der Firma im Handelsregister nach durchgeführter Liqui-
dation (Funk, Kommentar des Obligationenrechts, Aarau 1951, N 2
zu Art. 746 OR; von Greyerz, Schweizerisches Privatrecht VIII/2,
Basel/Frankfurt am Main 1982, S. 285; Stäubli, Basler Kommentar,
Basel/Genf/München 2002, N 6 zu Art. 746 OR; Bauer-Balmel-
li/Robinson, Kommentar zum schweizerischen Steuerrecht, Ba-
sel/Genf/München 2000, N 21 zu Art. 54 DBG; Acocella, Kommen-
tar zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Ba-
sel/Genf/München 1998, N 4 zu Art. 40 SchKG; Amonn/Walther,
Grundriss des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts, 7. A., Bern
2003, N 3 zu § 41; BGE 117 III 41, 73 III 62, 64 II 151, 42 III 40).
Für die erste Auffassung spricht der Gesetzeswortlaut - gemäss
Art. 739 Abs. 1 OR behält die Gesellschaft in Liquidation die juristi-
sche Persönlichkeit und führt ihre bisherige Firma mit dem Zusatz
"in Liquidation", bis die Auseinandersetzung auch mit den Aktionä-
ren durchgeführt ist, und gemäss Art. 746 OR ist das Erlöschen der
Firma nach Beendigung der Liquidation von den Liquidatoren beim
Handelsregisteramt anzumelden -, für die zweite die Rechtssicherheit
- die juristische Person entsteht und vergeht für jedermann offenbar
mit dem Eintrag bzw. der Löschung des Eintrags im Handelsregister
- und der Umstand, dass Aktiengesellschaft und GmbH ihre juristi-
sche Persönlichkeit auch erst mit dem Eintrag im Handelsregister
erlangen. So führte das Bundesgericht bereits in BGE 42 III 40 aus,
da das Gesetz für den Erwerb der Rechtspersönlichkeit die Eintra-
gung im Handelsregister fordere, müsse angenommen werden, dass
auch ihr Fortbestand an diese Voraussetzung geknüpft sei und die
Streichung der Gesellschaft infolge beendigter Liquidation mit ihrem
Untergang als Rechtssubjekt gleichbedeutend sei. Die Frage braucht
indessen im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden, da sie
sich richtig besehen gar nicht stellt. Die entscheidende Fragestellung
lautet hier vielmehr, wann die Liquidation der Gesellschaft wirklich
beendet ist.
4. Für die Durchführung der Liquidation der GmbH gelten die
Bestimmungen des Aktienrechts (Art. 823 OR). Wie bereits erwähnt,
2004
Zivilrecht
39
behält die Gesellschaft, welche in Liquidation tritt, gemäss Art. 739
Abs. 1 OR die juristische Persönlichkeit und führt ihre bisherige
Firma, jedoch mit dem Zusatz "in Liquidation", bis die Auseinander-
setzung auch mit den Aktionären durchgeführt ist. Diese Auseinan-
dersetzung mit den Aktionären findet gemäss Art. 745 Abs. 1 OR erst
nach Tilgung der Schulden der aufgelösten Gesellschaft statt. Zu den
Schulden der Gesellschaft zählen selbstredend auch ihre Steuer-
schulden (Richner/Frei/Kaufmann, Handkommentar zum DBG, Zü-
rich 2003, N 2 zu Art. 171; Fessler, Kommentar zum schweizeri-
schen Steuerrecht, Basel/Genf/München 2000, N
2 zu Art. 171
DBG). Die Steuerpflicht der Gesellschaft endet mit dem Abschluss
der Liquidation (§ 66 StG, Art. 54 Abs. 2 DBG) und wird mit der
Anmeldung zur Löschung der Gesellschaft im Handelsregister fällig
(§ 223 Abs. 4 lit. b StG; Art. 161 Abs. 4 lit. b DBG). Diese darf nur
mit Einwilligung des kantonalen Steueramts vorgenommen werden
(§ 234 StG; Art. 171 DBG). Es wird deshalb vorerst bloss das Fak-
tum der Anmeldung und das Fehlen der Zustimmung im Schweizeri-
schen Handelsamtsblatt veröffentlicht (Böckli, Schweizer Aktien-
recht, Zürich 1996, N 1961b). Mit anderen Worten ist die Liquidation
der Gesellschaft erst mit der Tilgung auch der Steuerschulden wirk-
lich beendet und darf deshalb die Gesellschaft erst mit Zustimmung
des kantonalen Steueramts gelöscht werden.
Zu bedenken ist auch, dass die Fälligkeit der Steuerschuld ge-
mäss § 223 Abs. 4 lit. b StG bzw. Art. 161 Abs. 4 lit. b DBG späte-
stens mit der Anmeldung der Löschung der Gesellschaft im Handels-
register eintritt und deshalb zu diesem Zeitpunkt noch ein rechtsfähi-
ges Steuersubjekt existieren muss, andernfalls diese Bestimmungen
keinen Sinn ergäben. Die Gesellschaft muss daher für Steuerschulden
betrieben werden können, solange sie im Handelsregister eingetragen
ist, auch wenn bereits die Beendigung der Liquidation angemeldet
wurde.
5. Nach dem Gesagten ist die Liquidation der Beklagten entge-
gen der Auffassung der Vorinstanz noch nicht vollständig abge-
schlossen, weshalb auch nicht gesagt werden kann, die Beklagte sei
nicht mehr rechts- und betreibungsfähig. Die Betreibung ist demnach
auch nicht nichtig und dem Kläger kann ein Rechtsschutzinteresse an
2004
Obergericht/Handelsgericht
40
der Durchführung des Rechtsöffnungsverfahrens nicht abgesprochen
werden. Auf seine Rechtsöffnungsklage ist aus diesen Gründen ein-
zutreten. | 1,553 | 1,289 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2004-3_2004-01-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2004-3.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2004-3.pdf | AGVE_2004_3 | null | nan |
79f7a427-9f15-5cf9-8279-8959362c6090 | 1 | 417 | 871,758 | 1,160,006,400,000 | 2,006 | de | 2006
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
31
[...]
4
Art. 82 Abs. 2 SchKG; provisorische Rechtsöffnung.
Bestreitet der aus einem synallagmatischen Vertrag verpflichtete Schuld-
ner die Erfüllung der Gegenleistung, ist die Rechtsöffnung zu verweigern,
wenn sich die Einwendungen nicht zum vornherein als haltlos erweisen
oder vom Gläubiger sofort durch Urkunden widerlegt werden. Auch nach
vorbehaltloser Entgegennahme der Sache genügt es, dass der Schuldner
Mängel in der Erfüllung substantiiert behauptet, um das Rechtsöff-
nungsbegehren zu Fall zu bringen, und vom betriebenen Schuldner darf
die Glaubhaftmachung einer rechtzeitigen Mängelrüge nicht verlangt
werden.
2006
Obergericht
32
Aus dem Entscheid des Obergerichts, Zivilgericht, 5. Kammer, vom
23. Oktober 2006 in Sachen S.T. gegen L.D.
Aus den Erwägungen
Beim Kaufvertrag handelt es sich um einen synallagmatischen
Vertrag, bei dem Leistung (Lieferung der Kaufsache) und Gegenleis-
tung (Bezahlung des Preises) Zug um Zug zu erbringen sind, sich
mithin in einem Austauschverhältnis gegenüberstehen (Art. 184 Abs.
1 und 2 OR; Leu, Basler Kommentar, 3. A., Basel/Genf/München
2003, N 4 zu Art. 82 OR; Koller, Basler Kommentar, a.a.O., N 89 zu
Art. 184 OR). Die Zug-um-Zug-Regel ist nicht auf die Hauptleis-
tungspflichten beschränkt, sondern gilt für jede in das Aus-
tauschverhältnis einbezogene Leistung. So kann der Käufer den
Kaufpreis zurückbehalten, wenn der Verkäufer zusätzlich zur Liefe-
rung des Kaufgegenstandes eine kauffremde Nebenpflicht übernom-
men hat und diese ins Synallagma einbezogen wurde (Koller, a.a.O.,
N 92 und 96 zu Art. 184 OR; BGE 127 III 199). Ob dies der Fall ist,
lässt sich nicht in allgemeiner Weise beantworten. Schweigt die ver-
tragliche Abrede, so ist massgeblich auf die Bedeutung der Neben-
pflicht im Vertragsganzen abzustellen. Der Austauschcharakter einer
Nebenpflicht ist dann zu bejahen, wenn ohne sie die Hauptleistung
erheblich entwertet würde (Leu, a.a.O., N 6 zu Art. 82 OR; Koller,
a.a.O., N 72 zu Art. 184 OR; Weber, Berner Kommentar, Bern 2005,
N 91 zu Art. 82 OR).
Ein synallagmatischer Vertrag, bei dem sich Leistung und Ge-
genleistung der beiden Parteien in einem Austauschverhältnis gegen-
überstehen, gilt als Schuldanerkennung im Sinne von Art. 82 Abs. 1
SchKG, wenn er die Zahlungsverpflichtung des betriebenen Schuld-
ners enthält. Diese ist bei vertraglicher Vorleistungspflicht des Be-
triebenen unbedingt, sonst jedoch nur bedingt, weil der Schuldner
seine Leistung nur für den Fall verspricht, dass er die Gegenleistung
erhalten hat bzw. sie ihm zumindest angeboten wurde (Art. 82 OR;
Meyer, Die Rechtsöffnung auf Grund synallagmatischer Schuldver-
träge, Diss. Zürich 1979, S. 50 f.; Stücheli, Die Rechtsöffnung, Diss.
2006
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
33
Zürich 2000, S. 341; Staehelin/Bauer/Staehelin, Basler Kommentar
zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Basel/
Genf/München 1998, N 99 zu Art. 82 SchKG). Wird die Erfüllung
der Gegenleistung vom betriebenen Schuldner bestritten, ist die
Rechtsöffnung zu verweigern, wenn sich die Einwendungen nicht
zum vornherein als haltlos erweisen oder vom Gläubiger sofort durch
Urkunden widerlegt werden (AGVE 1989, S. 47 mit Hinw.; Meyer,
a.a.O., S. 51; Stücheli, a.a.O., S. 342; Staehelin/Bauer/Staehelin,
a.a.O., N 99 zu Art. 82 SchKG). Haltlosigkeit ist dann anzunehmen,
wenn sich der behauptete Einwand auf Grund der Gesamtumstände
ohne weiteres als unzutreffend erweist oder wenn er angesichts klarer
gegenteiliger Anhaltspunkte in erhöhtem Mass unglaubwürdig wirkt.
Mithin darf Haltlosigkeit der schuldnerischen Einwände nicht leicht-
hin bejaht werden, also nicht bereits dann, wenn die Wahrheit der
Vorbringen als zweifelhaft erachtet wird (Stücheli, a.a.O., S. 342 f.).
Die Behauptung der Mangelhaftigkeit der Gegenleistung muss aber,
wenn nicht glaubhaft gemacht, so doch substantiiert werden, ansons-
ten sie als haltlos zu bezeichnen wäre (Staehelin/Bauer/Staehelin,
a.a.O., N 105 zu Art. 82 SchKG). Andere Einwendungen, die nicht
die Erfüllung der Gegenleistung betreffen, sind gemäss Art. 82 Abs.
2 SchKG vom Schuldner glaubhaft zu machen (AGVE 1989, S. 47
mit Hinw.; Meyer, a.a.O., S. 51; Stücheli, a.a.O., S. 342; Staehe-
lin/Bauer/Staehelin, a.a.O., N 106 zu Art. 82 SchKG). Ebenfalls
glaubhaft zu machen hat der Schuldner, dass die Gegenleistung in ei-
nem Austauschverhältnis zu seiner eigenen Leistung steht (Staehe-
lin/Bauer/Staehelin, a.a.O., N 101 und N 104 zu Art. 82 SchKG). Ob-
liegen dem Schuldner, der die Leistung entgegengenommen hat, Prü-
fungs- und Rügepflichten, so genügt nach Auffassung eines Teils der
Lehre und kantonalen Rechtsprechung das Bestreiten der Ordnungs-
mässigkeit der Gegenleistung nicht, sondern der Schuldner muss zu-
dem glaubhaft machen, dass er rechtzeitig Mängelrüge erhoben hat
(Staehelin/Bauer/Staehelin, a.a.O., N 104 zu Art. 82 SchKG mit Hin-
weisen). Damit soll dem Umstand Rechnung getragen werden, dass
die Mängelfreiheit ohne Mitwirkung des Schuldners kaum je beweis-
bar wäre, zumal sich das Beweisobjekt in der Sphäre des Schuldners
befindet (Meyer, a.a.O., S. 58 ff.; PKG 189, S. 134 ff.) Diese Argu-
2006
Obergericht
34
mentation lässt ausser Acht, dass es in der Natur der provisorischen
Rechtsöffnung liegt, dem Gläubiger nur dann zu einer raschen
Beseitigung des Rechtsvorschlages zu verhelfen, wenn der Bestand
seiner Forderung ausgewiesen ist. Ein allfälliger Beweisnotstand darf
daher nicht zu einer Umkehr der Beweislast bezüglich Bestand des
Rechtsöffnungstitels führen, da dem Gläubiger für die Durchsetzung
nicht liquider Forderungen das ordentliche Zivilverfahren zur Verfü-
gung steht (Stücheli, a.a.O., S. 344).
Gemäss Kaufvertrag vom 2. Juli 2005 und übereinstimmender
Darstellung der Parteien vor Vorinstanz haben diese auch die Mon-
tage der veräusserten Kühlvitrine und Kühlzelle durch den Kläger
vereinbart. In der Beschwerdeschrift gestand der Kläger sodann zu,
dass in der Kühlvitrine der Motor nicht eingebaut war. Er habe dem
Beklagten gesagt, dass der Motor von Fachleuten eingebaut werden
müsse; am 3. Juli 2005 habe er die Montage der Kühlzelle vorge-
nommen und soweit als möglich auch die Kühlvitrine installiert; da-
mit habe er seine sämtlichen Pflichten aus dem Vertrag erfüllt. So-
weit mit diesen erstmals vor Obergericht vorgebrachten Ausfüh-
rungen des Klägers die Sachdarstellung des Beklagten vor Vorinstanz
bestätigt wird, steht ihrer Berücksichtigung nichts entgegen, da Zu-
geständnisse im Gegensatz zu neuen Angriffs- und Verteidigungs-
mitteln nicht Gegenstand des zweitinstanzlichen Novenverbotes bil-
den. Es ist daher mit dem Beklagten davon auszugehen, dass in der
gekauften Kühlvitrine der Motor nicht eingebaut war und der Kläger
diese Montagearbeit auch nicht nachträglich vorgenommen hat. Es
erscheint im Weiteren als glaubhaft gemacht, dass der Einbau des
Kühlmotors als im Austauschverhältnis zur Bezahlung des Kaufprei-
ses stehende Vertragsleistung des Klägers zu gelten hat, nachdem die
Montage der veräusserten Objekte ausdrücklich und vorbehaltlos im
Kaufvertrag vereinbart war und eine Kühlvitrine ohne Motor notori-
scherweise betriebsuntauglich ist. Bei dieser Sachlage kann offen-
bleiben, ob es sich bei der Montage um eine vertragliche Haupt- oder
Nebenleistungspflicht des Klägers handelte. Entgegen der Auffas-
sung von Kläger und Vorinstanz kann sodann, wie vorab dargelegt,
vom Beklagten nicht die Glaubhaftmachung einer rechtzeitigen Män-
gelrüge verlangt werden. Auch nach vorbehaltloser Entgegennahme
2006
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
35
der Sache, genügt es vielmehr, dass der Schuldner Mängel in der Er-
füllung substantiiert behauptet, um das Rechtsöffnungsbegehren zu
Fall zu bringen (Stücheli, a.a.O., S. 344). | 1,938 | 1,519 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2006-4_2006-10-05 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2006-4.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2006-4.pdf | AGVE_2006_4 | null | nan |
79fd00b7-5a58-5dfc-9c7f-eebd71ecbae3 | 1 | 417 | 870,526 | 1,324,339,200,000 | 2,011 | de | 2011
Strafprozessrecht
57
[...]
16
Art. 61 lit. a, 132 Abs. 1 lit. b, 133 Abs. 1 StPO; § 4 Abs. 7 EG StPO
-
Die Oberstaatsanwaltschaft ist aufgrund des Wortlautes von § 4
Abs. 7 EG StPO und aufgrund des Willens des Gesetzgebers, die Be-
stimmung der amtlichen Verteidigung im konkreten Fall durch die
im Vorverfahren nicht unmittelbar mit der Sache befasste Ober-
staatsanwaltschaft ausführen zu lassen, für die Bestellung der amt-
lichen Verteidigung im Sinne von Art. 133 StPO ausschliesslich zu-
ständig. Die Prüfung der Voraussetzungen gemäss Art. 132 StPO ob-
liegt hingegen nicht der Oberstaatsanwaltschaft, sondern der örtlich
zuständigen Staatsanwaltschaft als Verfahrensleitung (E. 1).
-
Bei der Prüfung, ob ein Beschuldigter im Sinne von Art. 132 Abs. 1
lit. b StPO in der Lage ist, die mutmasslich anfallenden Kosten für
seine angemessene Verteidigung aufzubringen, kann aufgrund der
Einheit der Rechtsordnung und der in Bezug auf die Frage der Mit-
tellosigkeit identischen Formulierung von Art. 117 lit. a ZPO ohne
Weiteres auf die bisherige Praxis zur eidgenössischen und kantona-
len Zivilprozessordnung sowie die Rechtsprechung zu Art. 29 Abs. 3
BV zurückgegriffen werden (E. 2.1).
2011
Obergericht
58
Aus dem Entscheid des Obergerichts, Beschwerdekammer in Strafsachen,
vom 20. Dezember 2011 i.S. M.T. gegen Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach
(SBK.2011.288).
Aus den Erwägungen
1.
Der Beschwerdeführer moniert vorab, dass die Staatsanwalt-
schaft zum Erlass einer Verfügung, mit welcher das Gesuch um Ge-
währung der amtlichen Verteidigung abgewiesen wird, nicht zustän-
dig gewesen sei.
Gemäss Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO ist für die Anordnung der
amtlichen Verteidigung und mithin auch die Prüfung von deren Vor-
aussetzungen die Verfahrensleitung zuständig. Verfahrensleitung im
Sinne von Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO ist bis zur Einstellung oder An-
klageerhebung die örtlich zuständige Staatsanwaltschaft (Art. 61 lit.
a StPO). In Art. 133 StPO ist sodann die Bestellung der amtlichen
Verteidigung vorgesehen, d.h. die Einsetzung einer bestimmten Per-
son als amtliche Verteidigung. Dabei sind nach Möglichkeit die
Wünsche der beschuldigten Person zu berücksichtigen (Art. 133
Abs. 2 StPO). Zuständig ist auch dafür an sich die Verfahrensleitung.
Entsprechend dem gesetzgeberischen Motiv, dass sich der als Verfah-
rensleiter handelnde Staatsanwalt im Falle der notwendigen und amt-
lichen Verteidigung seinen "Gegenspieler" nicht selbst auswählen
können soll (Grossrätliches Wortprotokoll der 26. Sitzung vom
16. März 2010, S. 990), ist in § 4 Abs. 7 EG StPO gestützt auf die
Verweisungsnorm von Art. 14 Abs. 3 StPO, wonach die Kantone
Oberstaatsanwaltschaften einrichten können, festgehalten, dass bis
zum Abschluss des Vorverfahrens nicht die örtlich zuständige Staats-
anwaltschaft, sondern die Oberstaatsanwaltschaft die notwendige
und amtliche Verteidigung bestellt.
Aufgrund des Wortlautes von § 4 Abs. 7 EG StPO, wonach aus-
drücklich von der Bestellung der amtlichen Verteidigung die Rede
ist, und aufgrund des Willens des Gesetzgebers, die Bestimmung der
amtlichen Verteidigung im konkreten Fall durch die im Vorverfahren
2011
Strafprozessrecht
59
nicht unmittelbar mit der Sache befasste Oberstaatsanwaltschaft aus-
führen zu lassen, ist die Oberstaatsanwaltschaft für die Bestellung
der amtlichen Verteidigung im Sinne von Art. 133 StPO ausschliess-
lich zuständig. Die Prüfung der Voraussetzungen gemäss Art. 132
StPO obliegt hingegen nicht der Oberstaatsanwaltschaft, sondern der
örtlich zuständigen Staatsanwaltschaft als Verfahrensleitung. Daran
ändert der vom Beschwerdeführer erwähnte Umstand nichts, dass
sich im Kanton Zürich die Oberstaatsanwaltschaft gestützt auf § 155
GOG nicht nur für die Bestellung der amtlichen Verteidigung im
Sinne von Art. 133 StPO, sondern, ohne dies ausdrücklich zu thema-
tisieren, auch für die Prüfung der Voraussetzungen gemäss Art. 132
StPO zuständig erklärt hat (vgl. Leitfaden Amtliche Verteidigung der
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Büro für amtliche Man-
date).
Offen bleiben kann vorliegend, ob es einem Kanton aufgrund
des Wortlautes von Art. 133 StPO überhaupt zusteht, für die Be-
stellung der amtlichen Verteidigung anstatt der Verfahrensleitung
eine zentrale Stelle wie die Oberstaatsanwaltschaft einzusetzen (vgl.
L
IEBER
,
in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung
[StPO], 2010, N. 2 zu Art. 133 StPO). Der Beschwerdeführer könnte
daraus vorliegend nichts zu seinen Gunsten ableiten.
Nach dem Gesagten hat die Staatsanwaltschaft somit zu Recht
geprüft, ob die Voraussetzungen für die Anordnung der amtlichen
Verteidigung erfüllt sind. Die Beschwerde ist in diesem Punkt daher
abzuweisen.
2.
Gemäss Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO ist eine amtliche Verteidi-
gung dann anzuordnen, wenn die beschuldigte Person nicht über die
erforderlichen Mittel verfügt und die Verteidigung zur Wahrung ihrer
Interessen geboten ist.
Gegenstand der vorliegenden Beschwerde ist einzig die Frage,
ob der Beschwerdeführer über die erforderlichen Mittel verfügt oder
nicht. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Staatsanwaltschaft
habe zu Unrecht Steuern und Schulden nicht berücksichtigt und das
Existenzminimum falsch berechnet. Er verfüge nur über einen Über-
2011
Obergericht
60
schuss von Fr. 408.85. Mit diesem sei er nicht in der Lage, einen
Anwalt zu bevorschussen und zu bezahlen.
2.1.
Bei der Prüfung, ob der Beschwerdeführer im Sinne von
Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO in der Lage ist, die mutmasslich anfallen-
den Kosten für seine angemessene Verteidigung aufzubringen, kann
aufgrund der Einheit der Rechtsordnung und der in Bezug auf die
Frage der Mittellosigkeit identischen Formulierung von Art. 117 lit. a
ZPO ohne Weiteres auf die bisherige Praxis zur eidgenössischen und
kantonalen Zivilprozessordnung sowie die Rechtsprechung zu
Art. 29 Abs. 3 BV zurückgegriffen werden.
Zu prüfen ist somit, ob der Gesuchsteller in der Lage ist, die
mutmasslich für seine angemessene Verteidigung anfallenden An-
waltskosten aus seinem Vermögen oder seinem Einkommen, das er
nicht zur Deckung seines erweiterten Grundbedarfs benötigt, zu be-
gleichen (vgl. BGE 135 I 221 E. 5.1). Bei weniger aufwendigen
Strafverfahren muss er zur Begleichung der anfallenden Anwalts-
kosten innert Jahresfrist in der Lage sein und bei anderen Strafver-
fahren innert zweier Jahre.
Abzustellen ist auf das betreibungsrechtliche Existenzminimum
gemäss den Richtlinien des Obergerichts (KKS.2005.7), erweitert um
einen Zuschlag in der Höhe von 25 % des Grundbetrages
(AGVE 2002 Nr. 15 S. 65 ff.). Praxisgemäss sind im Kanton Aargau
die Prämien für Versicherungen sowie Gebühren für Radio, Fernse-
hen, Telefon und Internet bereits im Grundbetrag enthalten. Laufende
Steuerschulden und Steuerrückstände werden nur berücksichtigt,
soweit regelmässige Zahlungen belegt sind (BGE 135 I 221 E. 5.2;
AGVE 2002 Nr. 18 S. 68). Ohne diesen Nachweis dürfen Steuer-
schulden somit nicht mit monatlichen Raten im erweiterten Existenz-
minimum berücksichtigt werden. Im Übrigen bleibt gemäss Recht-
sprechung des Bundesgerichts die gewöhnliche Tilgung angehäufter
Schulden bei der Beurteilung der Bedürftigkeit grundsätzlich ausser
Betracht, da die unentgeltliche Rechtspflege nicht dazu dienen soll,
auf Kosten des Gemeinwesens Gläubiger zu befriedigen, die nicht
oder nicht mehr zum Lebensunterhalt beitragen (Urteil des Bundes-
gerichts 4P.80/2006 vom 29. Mai 2006 E. 3.1). | 1,649 | 1,368 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2011-16_2011-12-20 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2011-16.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2011-16.pdf | AGVE_2011_16 | null | nan |
7bb081e4-dad7-4e1f-a85a-e534508bce37 | 1 | 414 | 1,497,536 | 1,570,406,400,000 | 2,019 | de | Handelsgericht
2. Kammer
HSU.2019.116 / as / mv
Art. 171
Entscheid vom 7. Oktober 2019
Besetzung Oberrichter Vetter, Vizepräsident
Gerichtsschreiber Schneuwly
Gesuchstellerin N. GmbH, _
Gesuchsgegne-
rin
B.AG, _
Gegenstand Summarisches Verfahren betreffend Bauhandwerkerpfandrecht
Der Vizepräsident entnimmt den Akten:
1.
Die Gesuchstellerin ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit Sitz
in K. Gemäss Handelsregister _.
2.
Die Gesuchsgegnerin ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Z. Sie bezweckt
gemäss Handelsregister _.
Die Gesuchsgegnerin ist Alleineigentümerin des Grdst.-Nr. 123 GB Z. (E-
GRID: CH XXX).
3.
3.1.
Mit Gesuch vom 5. September 2019 (Postaufgabe: 6. September 2019)
stellte die Gesuchstellerin die folgenden Rechtsbegehren:
- 2 -
" Das Grundbuchamt Z. sei anzuweisen, zulasten des in der Gemeinde Z., Grundbuch-/ Grundblatt-Nr. 123 Nr. 321, zugunsten von der gesuchstellenden Partei ein Bauhandwerkerpfandrecht für die Pfandsumme von CHF 38890.65 nebst 5 % Zins seit 12.06.2019 vorläufig als einzutragen.
Die Anweisung sei superprovisorisch (d.h. sofort nach Eingang
des Gesuchs ohne Anhörung der Gegenpartei) zu verfügen und dem Grundbuchamt unverzüglich zur vorläufigen Eintragung im Grundbuch mitzueilen.
Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Gegen-
partei."
3.2.
Am 9. September 2019 erliess der Vizepräsident folgende Verfügung:
1.
In Gutheissung des Gesuchs um Erlass superprovisorischer
Massnahmen vom 5. September 2019 wird der Gesuchstellerin
die Vormerkung einer vorläufigen Eintragung eines Bau-
handwerkerpfandrechts gemäss Art. 837/839 i.V.m. Art. 961
ZGB auf dem Grundstück der Gesuchsgegnerin, Grdst.-Nr. 123
GB Z. (E-GRID: CH XXX) superprovisorisch für eine Pfand-
summe von Fr. 38'890.65 zuzüglich Zins zu 5 % ab dem
12. Juni 2019 bewilligt.
2.
Das Grundbuchamt Z. wird angewiesen, die Vormerkung ge-
mäss vorstehender Dispositiv-Ziff. 1 sofort einzutragen.
3.
Die Gesuchstellerin hat mit beiliegendem Einzahlungsschein
bis zum 23. September 2019 einen Gerichtskostenvorschuss
von Fr. 1'500.00 zu leisten.
4.
Zustellung des Doppels des Gesuchs (inkl. Beilagen) vom
5. September 2019 an die Gesuchsgegnerin zur Erstattung ei-
ner schriftlichen Antwort bis zum 23. September 2019.
5.
Fristerstreckungen werden grundsätzlich nicht gewährt. Aus-
nahmsweise ist eine Fristerstreckung beim Vorliegen zureichen-
der Gründe möglich (Art. 144 Abs. 2 ZPO). Als solche gelten die
Zustimmung der Gegenpartei oder von der Partei nicht vorher-
sehbare oder nicht beeinflussbare Hinderungsgründe.
- 3 -
6.
Die Gesuchsgegnerin wird darauf hingewiesen, dass die Vor-
merkung im Grundbuch gelöscht wird, wenn sie für die ange-
meldeten Forderungen hinreichende Sicherheiten leistet.
7.
Der Stillstand der Fristen gemäss Art. 145 Abs. 1 ZPO gilt
nicht (Art. 145 Abs. 2 lit. b ZPO).
3.3.
Das Grundbuchamt Z. merkte die vorläufige Eintragung am 9. September
2019 (Tagebuchnummer 987) im Tagebuch vor.
4.
4.1.
Mit Gesuchsantwort vom 19. September 2019 stellte die Gesuchsgegnerin
folgende Rechtsbegehren:
" 1. Das Gesuch um vorsorgliche Eintragung eines Bauhandwerker-
pfandrechts sei vollumfänglich abzuweisen.
2. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Gesuch-
stellerin."
4.2.
Mit Verfügung vom 20. September 2019 stellte der Vizepräsident der Ge-
suchstellerin die Gesuchsantwort vom 19. September 2019 inkl. Beilagen
mit dem Hinweis, eine Stellungnahme ihrerseits sei freiwillig und hätte in-
nert 10 Tagen zu erfolgen, zu.
4.3.
Die Gesuchstellerin reichte innert Frist keine Stellungnahme ein.
Der Vizepräsident zieht in Erwägung:
1. Zuständigkeit
Der Einzelrichter am Handelsgericht ist örtlich, sachlich und funktionell zur
Beurteilung der im summarischen Verfahren zu behandelnden Streitigkeit
zuständig (vgl. dazu E. 4 der Verfügung vom 9. September 2019).
2. Allgemeine Voraussetzungen der vorläufigen Eintragung
2.1.
Die Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts setzt im Wesentlichen
die Forderung eines Bauhandwerkers oder Unternehmers für die Leistung
von Arbeit und allenfalls von Material zugunsten des zu belastenden
- 4 -
Grundstücks sowie die Wahrung der viermonatigen Eintragungsfrist voraus
(Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 und 839 Abs. 2 ZGB).
2.2.
Die Eintragungsvoraussetzungen sind im Verfahren betreffend vorläufige
Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts lediglich glaubhaft zu ma-
chen. An diese Glaubhaftmachung werden zudem weniger strenge Anfor-
derungen gestellt, als es diesem Beweismass für vorsorgliche Massnah-
men (Art. 261 ff. ZPO) sonst entspricht.1 Die vorläufige Eintragung darf nur
verweigert werden, wenn der Bestand des Pfandrechts ausgeschlossen o-
der höchst unwahrscheinlich erscheint. Im Zweifelsfall, bei unklarer Be-
weis- oder Rechtslage, ist die vorläufige Eintragung zu bewilligen und die
Entscheidung dem Richter im ordentlichen Verfahren zu überlassen.2 Letzt-
lich läuft es darauf hinaus, dass der gesuchstellende Unternehmer nur die
blosse Möglichkeit eines Anspruchs auf ein Bauhandwerkerpfandrecht
nachzuweisen hat.3
3. Eintragungsfrist
3.1. Parteibehauptungen
Die Gesuchstellerin behauptet, die Arbeiten seien am 14 Mai 2019 fertig-
gestellt worden, indem die angefallenen restlichen Abfälle entsorgt worden
seien (Gesuch Ziff. 6 lit. d und e).
Die Gesuchsgegnerin bestreitet hingegen, dass der 14. Mai 2019 der Fer-
tigstellungszeitpunkt gewesen sein soll. Vielmehr sei an diesem Datum die
Rechnungsstellung erfolgt. Die Gesuchsgegnerin sei letztmals am 3. Mai
2019 auf dem fraglichen Grundstück tätig gewesen. Da es sich bei den Ar-
beiten der Gesuchstellerin um Abbruch- und Aushubarbeiten gehandelt
habe, habe die Gesuchstellerin das abgebrochene Material bei einer De-
ponie abladen bzw. entsorgen müssen. Die entsprechenden Waagscheine
datierten alle vom 2. bzw. 3. Mai 2019. Danach gäbe es keine Waagscheine
mehr, weil die Gesuchstellerin keine Werkleistungen mehr erbracht habe
(Antwortbeilage 1). Zudem bestätigten der Mieter der Gesuchsgegnerin wie
auch dessen Lagermitarbeiter, dass die Gesuchstellerin letztmals am
3. Mai 2019 auf dem fraglichen Grundstück der Gesuchsgegnerin tätig ge-
wesen sei (Antwortbeilage 2). Die Frist zur Eintragung eines Bauhandwer-
kerpfandrechts sei damit nicht eingehalten worden (Antwort Ziff. 2).
1 BGE 137 III 563 E. 3.3; 86 I 265 E. 3; vgl. auch SCHUMACHER, Das Bauhandwerkerpfandrecht,
3. Aufl. 2008, N. 1394; BSK ZGB II-THURNHERR, 6. Aufl. 2019, Art. 839/840 N. 37. 2 BGE 86 I 265 E. 3; 102 Ia 81 E. 2b.bb; BGer 5A_426/2015 vom 8. Oktober 2015 E. 3.4;
5A_924/2014 vom 7. Mai 2015 E. 4.1.2; SCHUMACHER, Das Bauhandwerkerpfandrecht, zur 3. Aufl., 2011, N. 628.
3 SCHUMACHER (Fn. 1), N. 1395.
- 5 -
3.2. Rechtliches
Die Eintragung des Bauhandwerkerpfandrechts muss bis spätestens vier
Monate nach der Arbeitsvollendung erfolgen, andernfalls der Anspruch ver-
wirkt (Art. 839 Abs. 2 ZGB).4 Die Eintragungsfrist berechnet sich nach Art. 7
ZGB i.V.m. Art. 77 Abs. 1 Ziff. 3 i.V.m. Abs. 2 OR. Sie endet somit an dem-
jenigen Tag des letzten Monats, der durch seine Zahl dem Tag der Arbeits-
vollendung entspricht.5
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 839 Abs. 2 ZGB gel-
ten Bauarbeiten grundsätzlich dann als vollendet, wenn alle Verrichtungen,
die Gegenstand des Werkvertrages bilden, ausgeführt sind. Nicht in Be-
tracht fallen dabei geringfügige oder nebensächliche, rein der Vervoll-
kommnung dienende Arbeiten oder Ausbesserungen wie der Ersatz gelie-
ferter, aber fehlerhafter Teile oder die Behebung anderer Mängel. Gering-
fügige Arbeiten gelten aber dann als Vollendungsarbeiten, wenn sie uner-
lässlich sind; insoweit werden Arbeiten weniger nach quantitativen als viel-
mehr nach qualitativen Gesichtspunkten gewürdigt.6
3.3. Würdigung
Die Gesuchstellerin behauptet zwar, die letzten Arbeiten am 14. Mai 2019
ausgeführt zu haben. Die Gesuchsgegnerin bestreitet hingegen, dass die
Gesuchstellerin an diesem Tag noch auf dem Grdst.-Nr. 123 GB Z. gear-
beitet habe. Vielmehr datieren die letzten Waagscheine für die Deponie-
rung des abgebrochenen Materials unbestrittenermassen vom 3. Mai 2019
(Antwortbeilage 1). Demnach hätte es der Gesuchstellerin oblegen, ihre
behaupteten Arbeiten vom 14. Mai 2019 nachzuweisen. Sie tut dies in kei-
ner Weise, so dass ihr Vorbringen nicht als glaubhaft erachtet werden kann.
Denkbar wäre insbesondere das Vorlegen von Arbeitsrapporten gewesen.
Somit hat die Gesuchstellerin nicht glaubhaft gemacht, dass sie nach dem
3. Mai 2019 noch Arbeiten auf dem Grdst.-Nr. 123 GB Z. ausführte. Selbst
wenn die Gesuchstellerin nach dem 3. Mai 2019 noch Arbeiten auf dem
Grdst.-Nr. 123 GB Z. ausgeführt haben sollte, handelte es sich bei der Ent-
sorgung der angefallenen restlichen Abfälle bloss um geringfügige Arbei-
ten, die nicht als Vollendungsarbeiten i.S.v. Art. 839 Abs. 2 ZGB zu qualifi-
zieren sind.
Die Vormerkung der vorläufigen Eintragung des beantragten Bauhandwer-
kerpfandrechts vom 9. September 2019 wurde nach Ablauf der am 3. Mai
2019 beginnenden Viermonatsfrist eingetragen und war damit verspätet.
Das Gesuch der Gesuchstellerin vom 5. September 2019 ist damit abzu-
weisen.
4 BGE 126 III 462 E. 4c.aa; BSK ZGB II-THURNHERR (Fn. 1), Art. 839/840 N. 29. 5 BSK ZGB II-THURNHERR (Fn. 1), Art. 839/840 N. 31a. 6 BGer 5A_613/2015 vom 22. Januar 2016 E. 4 m.w.N.
- 6 -
4. Ergebnis
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die vorläufige
Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts nicht erfüllt sind und die mit
Verfügung vom 9. September 2019 superprovisorisch angeordnete Vor-
merkung der vorläufigen Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts im
Umfang von Fr. 38'890.65 zzgl. Zins zu 5 % seit dem 12. Juni 2019 zu lö-
schen ist.
5. Prozesskosten
Die Prozesskosten, bestehend aus Gerichtskosten und Parteientschädi-
gung, werden der unterliegenden Partei auferlegt (Art. 95 Abs. 1 und
Art. 106 Abs. 1 ZPO). Ausgangsgemäss sind sie von der Gesuchstellerin
zu tragen.
5.1.
Unter Berücksichtigung des verursachten Aufwands sowie des Umfangs
der Streitigkeit werden die Gerichtskosten auf Fr. 1'500.00 festgesetzt (§ 8
VKD; SAR 221.150). Gestützt auf Art. 111 Abs. 1 Satz 1 ZPO werden sie
vorab mit dem von der Gesuchstellerin geleiseten Gerichtskostenvor-
schuss in Höhe von Fr. 1'500.00 verrechnet.
5.2.
Die Gesuchsgegnerin macht eine Parteientschädigung geltend. Indes wird
einer Partei, die nicht durch einen Anwalt vertreten ist, keine Entschädigung
für die Kosten einer berufsmässigen Vertretung gemäss Art. 95 Abs. 3 lit. b
ZPO zugesprochen. Nur in begründeten Fällen, wie bei komplizierten
Streitsachen, grossem Arbeitsaufwand oder Erwerbsausfall eines Selb-
ständigerwerbenden ist allenfalls eine Umtriebsentschädigung gemäss
Art. 95 Abs. 3 lit. c ZPO angezeigt.7 Da es sich vorliegend aber weder um
eine komplizierte noch besonders aufwendige Angelegenheit handelt, ist
der Gesuchsgegnerin keine Umtriebsentschädigung zuzusprechen.
Der Vizepräsident erkennt:
1.
Das Gesuch vom 5. September 2019 wird abgewiesen.
2.
Das Grundbuchamt Z. wird angewiesen, das gemäss Verfügung des Vi-
zepräsidenten vom 9. September 2019 gleichentags unter der Tagebuch-
Nr. 987 auf dem Grundstück der Gesuchsgegnerin Grdst.-Nr. 123 GB Z.
(E-GRID: CH XXX), für die Pfandsumme von Fr. 38'890.65 zuzüglich Zins
7 SUTER/VON HOLZEN, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Hrsg.), Kommentar zur Schweize-
rischen Zivilprozessordnung, 3. Aufl. 2016, Art. 95 N. 40 f.
- 7 -
zu 5 % ab dem 12. Juni 2019 vorläufig eingetragene Bauhandwerkerpfand-
recht zu löschen.
3.
3.1.
Die Gerichtskosten in Höhe von Fr. 1'500.00 sind von der Gesuchstellerin
zu tragen und werden mit dem von ihr geleisteten Gerichtskostenvorschuss
in Höhe von Fr. 1'500.00 verrechnet.
3.2.
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen.
Zustellung an:
die Gesuchstellerin
die Gesuchsgegnerin
Zustellung an:
das Grundbuchamt Z. (nach Ablauf der Rechtsmittelfrist)
- 8 -
Rechtsmittelbelehrung für die Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 ff.,
Art 90 ff. BGG)
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen, von der schriftlichen Eröff-
nung der vollständigen Ausfertigung des Entscheids an gerechnet, die Be-
schwerde an das Schweizerische Bundesgericht erhoben werden.
Die Beschwerde ist schriftlich oder in elektronischer Form beim Schweize-
rischen Bundesgericht einzureichen. Die Beschwerdeschrift ist in einer
Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit An-
gabe der Beweismittel und die Unterschriften bzw. eine anerkannte elekt-
ronische Signatur zu enthalten. In der Begründung ist in gedrängter Form
darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid verfassungsmässige
Rechte (Art. 98 ff. BGG) verletzt. Die Urkunden, auf die sich die Partei als
Beweismittel beruft, sind beizulegen, soweit die Partei sie in den Händen
hat; ebenso ist der angefochtene Entscheid beizulegen (Art. 42 BGG).
Aarau, 7. Oktober 2019
Handelsgericht des Kantons Aargau
2. Kammer
Der Vizepräsident: Der Gerichtsschreiber:
Vetter Schneuwly | 3,317 | 2,394 | AG_HG_002 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_002_-Handelsrecht-Bauhan_2019-10-07 | https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/gesetze___entscheide/gesetze_2/handelsrecht/Entscheid_des_Handelsgerichts_vom_7._Oktober_2019.pdf | null | nan |
||
7c9f4bf8-54fa-524d-b8ec-fd1c94fa6191 | 1 | 417 | 871,487 | 1,114,992,000,000 | 2,005 | de | 2005
Obergericht
58
[...]
12
Art. 80 Ziff. 2 StGB
Vorzeitige Löschung des Eintrags im Strafregister. Der für das
Wohlverhalten relevante Zeitraum bestimmt sich nach Massgabe der
Einreichung des Gesuchs um vorzeitige Löschung resp. der Beurteilung
dieses Gesuchs, indem von diesem Zeitpunkt aus die entsprechenden Lö-
schungsfristen zurückgerechnet werden.
2005
Strafrecht
59
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 2. Strafkammer, vom 26. Mai 2005 in
Sachen E.S. gegen Staatsanwaltschaft
Aus den Erwägungen
2. a) Gemäss Art. 80 Ziff. 2 StGB kann der Richter die vorzeiti-
ge Löschung eines Strafregistereintrags verfügen, wenn das Verhal-
ten des Verurteilten dies rechtfertigt und er den gerichtlich oder
durch Vergleich festgestellten Schaden, soweit es ihm zuzumuten
war, ersetzt hat, die Busse bezahlt, abverdient oder erlassen und das
Urteil bezüglich der Nebenstrafen vollzogen ist. Die Frist für die Lö-
schung beträgt bei den nach Art. 37
bis
Ziff. 1 StGB vollziehbaren Ge-
fängnisstrafen von nicht mehr als drei Monaten und der Busse als
Hauptstrafe zwei Jahre (Art. 80 Ziff. 2 Abs. 2 al. 3 StGB). Die Frist
läuft ab Vollstreckung des Urteils. Die Löschungsfristen sind vom
Entscheid des Richters an zurückzurechnen, was das Wohlverhalten
betrifft (Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar,
2. A., Zürich 1997, N 14 f. zu Art. 80). Gemäss Giger im Basler
Kommentar (Niggli/Wiprächtiger, Strafgesetzbuch
I, Kommentar,
Basel/Genf/München 2003, N 15 zu Art. 80) prüft der Richter das
Wohlverhalten des Verurteilten seit der Verurteilung, auf deren Ein-
trag im Register sich das Gesuch bezieht, und selbstverständlich auch
nach Einreichung des Gesuchs.
Bezüglich der Löschung des Eintrags einer Zuchthausstrafe
führte das Bundesgericht in BGE 76 IV 221 aus, dass unter dem Ver-
halten des Verurteilten, das die Löschung rechtfertigen müsse, nur
das Verhalten während einer Frist zu verstehen sei, die so lange sei
wie die Zeit, die abgelaufen sein müsse, ehe das Löschungsgesuch
gestellt werden könne. Stelle der Verurteilte das Löschungsgesuch
nicht sofort, nachdem die massgebliche Frist (im zitierten Fall:
15 Jahre) seit Vollzug des Urteils verstrichen sei, so müsse er sich in
den letzten 15 Jahren vor der Stellung des Gesuchs wohl verhalten
haben. Würde in einem solchen Fall verlangt, dass sich das Wohlver-
2005
Obergericht
60
halten über die ganze Zeit zwischen dem Vollzug des Urteils und der
Beurteilung des Löschungsgesuchs erstrecke, so wäre einem Verur-
teilten die Löschung ein- für allemal verwehrt, wenn er sich nach der
Verurteilung einen Fehler zuschulden kommen lasse. Solche Strenge
könne nicht im Sinne des Gesetzes liegen. Wer nach der Verurteilung
eine Handlung begehe, die der Löschung bei Ablauf der fünfzehn-
jährigen Frist seit Vollzug des Urteils im Wege stehen würde, solle
die Möglichkeit haben, später die Löschung doch zu erwirken, wenn
er sich in den letzten 15 Jahren vor Beurteilung seines Gesuchs
nichts mehr zu Schulden kommen lasse. Andererseits genüge es
nicht, wenn der Verurteilte, der vom Vollzug des Urteils an mehr als
15 Jahre verstreichen lasse, ehe er das Löschungsgesuch stelle, sich
in den ersten 15 Jahren nach Vollzug gut aufführe, später dagegen
sich schlecht verhalten habe. Rehabilitiert werden sollten nur
Verurteilte, deren künftiges Verhalten voraussichtlich zu keinen
Beanstandungen mehr Anlass gebe. Diese Voraussetzung sei nur er-
füllt, wenn das Verhalten in den letzten 15 Jahren vor Beurteilung
des Löschungsgesuchs gut gewesen sei.
b) Wie die Vorinstanz richtig ausführte, hätte der Gesuchsteller
das Gesuch um vorzeitige Löschung bereits am 9. Oktober 1998 stel-
len können. Der für das Wohlverhalten relevante Zeitraum bestimmt
sich jedoch einzig nach Massgabe der tatsächlichen Einreichung des
Gesuchs. Das Gesuch wurde am 29. Juni 2004 gestellt, weshalb ge-
mäss oben zitierter bundesgerichtlicher Rechtsprechung ausgehend
von diesem Zeitpunkt zwei Jahre zurückzublenden ist (so auch die
Entscheide der Strafkammer des Obergerichts des Kantons Solothurn
vom 9. August 2002
[SOG 2002 Nr. 10], sowie des Obergerichts des
Kantons Obwalden vom 5. Dezember 2001
[in: Rechtsprechung in
Strafsachen 2003, S. 70 Nr. 379
]).
Die Staatsanwaltschaft stützt sich in ihrer Argumentation mass-
geblich auf Giger im Basler Kommentar ab, wonach der Richter das
Wohlverhalten
seit der Verurteilung
, auf deren Eintrag im Register
sich das Gesuch beziehe, und selbstverständlich auch nach Einrei-
chung des Gesuchs prüfe. Giger (a.a.O.) verweist an dieser Stelle un-
ter anderem auf Stratenwerth (Schweizerisches Strafrecht, Allgemei-
ner Teil II, Bern 1989, § 14 N 124). Dort finden sich indessen keine
2005
Strafrecht
61
Hinweise auf den massgeblichen Zeitraum. Trechsel (a.a.O., N 10 zu
Art. 80), auf welchen im Basler Kommentar ebenfalls verwiesen
wird, führt aus, es sei auch das Verhalten nach Einreichung des Ge-
suchs zu berücksichtigen (es wird dabei auf das Journal des Tribu-
naux
[JdT] 1958 IV 32 verwiesen). Aus beiden Zitatstellen ergibt
sich die von Giger aufgeführte Meinung, wonach das Verhalten
seit
der Verurteilung
bis nach Gesuchseinreichung massgebend sein soll,
jedoch nicht. Im Gegenteil führt etwa Trechsel einige Abschnitte spä-
ter aus (a.a.O., N 14 zu Art. 80), was das Wohlverhalten anbetreffe,
seien die Löschungsfristen vom Entscheid des Richters an zurückzu-
rechnen. Zusammenfassend ist das im Basler Kommentar Ausgeführ-
te als Grundsatzfeststellung zu verstehen, dass auf das Wohlverhalten
seit der Verurteilung abzustellen ist, ohne dass dabei der Zeitraum
genauer eingrenzt bzw. auf spezielle Umstände wie im vorliegenden
Fall, in welchem das Gesuch erst Jahre nach Ablauf der Löschungs-
frist gestellt wird, eingegangen wird.
Bezüglich des zitierten Bundesgerichtsentscheids ist zu beden-
ken, dass zum damaligen Zeitpunkt die alte Fassung von Art. 80
StGB in Kraft war, welche die Löschung von Amtes wegen (heute
Ziff. 1) noch nicht kannte (vgl. alte Fassung in der bereinigten
Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen 1848-1947, Band 3
Kapitel VI, S. 226). Eine neuerliche Verurteilung hatte damals also
weitreichendere Konsequenzen, weil keine automatische Löschung
vorgesehen war. Die Beibehaltung der Rechtsprechung rechtfertigt
sich jedoch auch unter dem neuen Recht. Es ist nicht ersichtlich,
weshalb einem erneut straffällig gewordenen Verurteilten nicht die
vorzeitige Löschung gewährt werden sollte, wenn er sich danach -
und zwar zurückgerechnet vom Zeitpunkt der Stellung des Gesuches
resp. von dessen Beurteilung aus - in der vom Gesetz vorgeschriebe-
nen Frist wohl verhalten hat. Denn dieses Wohlverhalten bietet
grundsätzlich Gewähr für künftiges Wohlverhalten. (...)
Zwar hat sich der Gesuchsteller seit Vollzugsende nicht
durchgehend bewährt, wie das Urteil des Obergerichts aus dem Jahr
2001 zeigt. Seither sind jedoch mehr als vier Jahre vergangen, mithin
die doppelte Zeitspanne der vorgesehenen Löschungsfrist. Während
dieser Zeit hat der Gesuchsteller - wie der aktuelle Strafregisteraus-
2005
Obergericht
62
zug zeigt - keinen Anlass mehr zu Klagen gegeben. Aus seinem
Wohlverhalten während dieser relativ langen Zeitspanne darf
geschlossen werden, er werde künftig zu keinen Beanstandungen
mehr Anlass geben. Da auch die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind
(es wurde weder eine Busse ausgesprochen noch war ein Schaden zu
ersetzen; die damaligen Verfahrenskosten wurden dem Gesuchsteller
erlassen), steht der vorzeitigen Löschung nichts im Wege. | 1,657 | 1,424 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2005-12_2005-05-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2005-12.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2005-12.pdf | AGVE_2005_12 | null | nan |
7ff9a400-81e2-5bb1-b1e3-d4a68f9feabe | 1 | 417 | 869,854 | 1,130,803,200,000 | 2,005 | de | 2005
Zivilrecht
25
I. Zivilrecht
A. Familienrecht
1
Art. 111 Abs. 2, 113 und 116 ZGB.
Die Bedenkzeit gemäss Art. 111 Abs. 2 ZGB ist auch im Rahmen von
Art. 116 ZGB zwingend zu beachten. Die Parteien sind mit der Eröffnung
der Bedenkfrist auf die Rechtsfolgen einer Nichtbestätigung des
Scheidungswillens ausdrücklich hinzuweisen. Da im Anwendungsbereich
von Art. 116 ZGB bereits eine Klage und - gegebenenfalls - eine Wider-
klage angehoben worden sind, bedarf es bei Ausbleiben der Bestätigung
des Scheidungswillens keiner Fristansetzung i.S.v. Art. 113 ZGB zur Er-
setzung des gemeinsamen Scheidungsbegehrens durch eine Klage. Bei
Ausbleiben der Bestätigung des Scheidungswillens hat das Gericht den
Parteien in anfechtbarer Form die Abweisung des gemeinsamen Schei-
dungsbegehrens und deren Gründe zu eröffnen.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 1. Zivilkammer, vom 1. November
2005 in Sachen G. B. gegen C. B.
Aus den Erwägungen
Nach Art. 116 ZGB sind die Bestimmungen über die Scheidung
auf gemeinsames Begehren sinngemäss anwendbar, wenn ein
Ehegatte die Scheidung nach Getrenntleben oder wegen Unzumut-
barkeit verlangt und der andere Ehegatte ausdrücklich zustimmt oder
Widerklage erhebt. Der Scheidungsgrund von Art. 114 oder 115 ZGB
kommt alsdann nicht mehr zur Anwendung, sondern weicht - da fak-
tisch ein gemeinsames Begehren vorliegt - jenem nach Art. 111/112
ZGB (Steck, Basler Kommentar, 2. A., Basel/Genf/München 2002,
N 10 zu Art. 116 ZGB; Rumo-Jungo, Die Scheidung auf Klage, in:
AJP 1999, S. 1537; Fankhauser, in: Schwenzer, FamKommentar
Scheidung, 2. A., Bern 2005, N 2 zu Art. 116 ZGB; Reusser, Die
Scheidungsgründe und die Ehetrennung, in: Hausheer, Vom alten
2005
Obergericht
26
zum neuen Scheidungsrecht, ASR 625, Bern 1999, Rz 1.87). Bei
dieser Konstellation bezweckt Art. 116 ZGB in erster Linie die
Einhaltung der Verfahrensgarantien von Art. 111 und 112 ZGB, d.h.
es soll verhindert werden, dass diese - insbesondere die zweimona-
tige Bedenkzeit - durch eine fingierte Streitscheidung umgangen
werden (Botschaft des Bundesrates über die Änderung des schwei-
zerischen Zivilgesetzbuches vom 15. November 1995, BBl 1996,
S. 93; Sutter/Freiburghaus, Kommentar zum neuen Scheidungsrecht,
Zürich 1999, N 9 zu Art. 116 ZGB; Steck, a.a.O., N 3 ff. zu Art. 116
ZGB; Reusser, a.a.O., Rz 1.88; Fankhauser, a.a.O., N 2 f. zu Art. 116
ZGB; Rumo-Jungo, a.a.O., S. 1537). Diese Verfahrensgarantien gel-
ten sowohl für den Scheidungswillen als auch für eine Vereinbarung
über die Nebenfolgen der Scheidung (Fankhauser, a.a.O., N 6, 23 zu
Art. 116 ZGB; Steck, a.a.O., N 14, 30 zu Art. 116 ZGB; Reusser,
a.a.O., Rz 1.98; Bräm, Die Scheidung auf gemeinsames Begehren,
die Wechsel der Verfahren [Art. 111 bis 113, 116 ZGB] und die
Anfechtung der Scheidung auf gemeinsames Begehren [149 ZGB],
in: AJP 1999, S. 1519; Rumo-Jungo, a.a.O., S. 1539; a.A. Sutter/
Freiburghaus, a.a.O., N 15 zu Art. 116 ZGB). Auch die Anfechtung
eines gestützt auf Art. 116 ZGB in analoger Anwendung von Art. 111
oder 112 ZGB ergangenen Scheidungsurteils richtet sich nach den
Bestimmungen über die Scheidung auf gemeinsames Begehren
(Steck, a.a.O., N 33 zu Art. 116 ZGB; Sutter/Freiburghaus, a.a.O.,
N 9 zu Art. 116 ZGB; Rumo-Jungo, a.a.O., S. 1539).
Eine Scheidung auf gemeinsames Begehren darf gemäss
Art. 111 Abs. 2 ZGB erst ausgesprochen und die Vereinbarung
genehmigt werden, wenn beide Ehegatten nach einer zweimonatigen
Bedenkzeit seit der Anhörung schriftlich ihren Scheidungswillen und
ihre Vereinbarung bestätigt haben. Diese Bestimmung ist auch im
Rahmen von Art. 116 ZGB zwingend zu beachten (Steck, a.a.O.,
N 14 zu Art. 116 ZGB; Fankhauser, a.a.O., N 24 ff. zu Art. 116 ZGB;
Bräm, a.a.O., S. 1519; Rumo-Jungo, a.a.O., S. 1539; Reusser, a.a.O.,
Rz 1.98; Sutter/Freiburghaus, a.a.O., N 15 zu Art. 116 ZGB, einge-
schränkt auf den Scheidungswillen). Erfolgt nach Ablauf der
Bedenkzeit von keiner Partei eine schriftliche Bestätigung des Schei-
dungswillens, ist Rückzug sowohl der Klage wie auch der Widerkla-
2005
Zivilrecht
27
ge anzunehmen und das Verfahren abzuschreiben. Bleibt die Bestäti-
gung nur einer Partei aus, ist Rückzug von deren Haupt- oder Wider-
klage anzunehmen, indes mit Bezug auf die hängig gebliebene Klage
bzw. Widerklage das streitige Verfahren weiterzuführen und diese
aufgrund von Art. 114 oder 115 ZGB zu beurteilen (Fankhauser,
a.a.O., N 31 zu Art. 116 ZGB; Steck, a.a.O., N 16 zu Art. 116 ZGB;
Sutter/Freiburghaus, a.a.O., N 19 ff. zu Art. 116 ZGB; Heg-
nauer/Breitschmid, Grundriss des Eherechts, 4. A., Bern 2000, Rz.
9.41; Reusser, a.a.O., Rz. 1.99; Rumo-Jungo, a.a.O., S.
1539;
Hausheer, Die wesentlichen Neuerungen des Scheidungsrechts, in:
ZBJV 1999, S.
10 [der allerdings von einer Abweisung statt
Abschreibung der Klage ausgeht]; Rhiner, Die Scheidungsvorausset-
zungen nach revidiertem schweizerischem Recht [Art. 111 - 116
ZGB], Diss. Zürich 2001, S. 352 f.). Da im Anwendungsbereich von
Art. 116 ZGB bereits eine Klage und - gegebenenfalls - eine
Widerklage angehoben sind, bedarf es bei Ausbleiben der Bestäti-
gung des Scheidungswillens keiner Fristansetzung i.S.v. Art. 113
ZGB zur Ersetzung des gemeinsamen Scheidungsbegehrens durch
eine Klage zwecks Wahrung der Rechtshängigkeit des Verfahrens
(Steck, a.a.O., N 3 zu Art. 113 ZGB; Reusser, a.a.O., Rz 1.60; Haus-
heer/Kobel/Geiser, Das Eherecht des Schweizerischen Zivilgesetzbu-
ches, 2. A., Bern 2002, Rz 10.28; Rhiner, a.a.O., S. 356 ff.; a.A.
Fankhauser, a.a.O., N 31 zu Art. 116 ZGB, der eine Fristansetzung an
die Parteien zur Bekanntgabe, ob sie an Klage oder Widerklage fest-
halten, für nötig erachtet). Hingegen sind die Parteien mit der Eröff-
nung der Bedenkfrist auf die Rechtsfolgen einer Nichtbestätigung
des Scheidungswillens ausdrücklich hinzuweisen (Steck, a.a.O., N 15
zu Art. 116 ZGB). Da nach Art. 44 lit. b
bis
OG gegen letztinstanzliche
kantonale Entscheide über die Verweigerung der Scheidung auf ge-
meinsames Begehren die Berufung ans Bundesgericht offen steht,
hat das Gericht den Parteien in anfechtbarer Form im Sinne eines
Zwischenentscheides (§ 274 Abs. 1 lit. b ZPO) die Abweisung des
gemeinsamen Scheidungsbegehrens und deren Gründe zu eröffnen. | 1,812 | 1,380 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2005-1_2005-11-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2005-1.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2005-1.pdf | AGVE_2005_1 | null | nan |
80011ddf-e8f2-59fb-8477-0e79d6437aab | 1 | 417 | 871,412 | 1,320,883,200,000 | 2,011 | de | 2011
Strafprozessrecht
55
[...]
14
§§ 8, 40 EG StPO
Das Ergreifen eines Rechtsmittels stellt keine von § 8 EG StPO erfasste
Untersuchungshandlung dar. Assistenz-Staatsanwälte sind deshalb nicht
berechtigt, selbständig Beschwerde gegen einen Entscheid des Zwangs-
massnahmengerichts zu führen.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, Beschwerdekammer in Strafsachen,
vom 10.
November 2011 i.S. Staatsanwaltschaft Baden gegen C.S.B.
(SBK.2011.278).
Aus den Erwägungen
1.
(...)
Die Assistenz-Staatsanwälte führen auf Anweisung der Staats-
anwälte Untersuchungshandlungen, insbesondere Zeugeneinvernah-
men, und Übertretungsstrafverfahren durch (§ 8 Abs. 2 EG StPO).
2011
Obergericht
56
Mit Ermächtigung der Leitung der Staatsanwaltschaft dürfen Assis-
tenz-Staatsanwälte im Einzelfall oder in bestimmten Verfahren selb-
ständig Untersuchungshandlungen durchführen (§ 8 Abs. 3
EG StPO).
Das Ergreifen eines Rechtsmittels stellt zweifellos keine von
§ 8 EG StPO erfasste Untersuchungshandlung dar. Der Umstand
alleine, dass sich das Rechtsmittel auf eine Untersuchungshandlung
bezieht, macht dieses noch nicht zu einer solchen. Assistenzstaatsan-
wälte sind deshalb nicht berechtigt, selbständig Beschwerde gegen
einen Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts zu führen. Anders-
lautenden Ermächtigungen, seien sie individuell oder generell erteilt
worden, fehlt die Grundlage in einem Gesetz im formellen Sinne,
weshalb sie unbeachtlich sind. Auf die Beschwerde der Staatsanwalt-
schaft Baden vom 31. Oktober 2011 ist deshalb nicht einzutreten.
Nicht zu entscheiden ist vorliegend die Frage, ob ein Assistenz-
staatsanwalt die Staatsanwaltschaft vor dem Zwangsmassnahmen-
gericht gültig vertreten darf, welche Frage daher offen bleiben kann. | 364 | 302 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2011-14_2011-11-10 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2011-14.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2011-14.pdf | AGVE_2011_14 | null | nan |
8026d5ca-8f10-4c13-bb75-5574f5d794b3 | 1 | 414 | 1,497,315 | 1,550,534,400,000 | 2,019 | de | Urteil/Entscheid
Handelsgericht
2. Kammer
HSU.2018.101 / as / as
Art. 26
Entscheid vom 19. Februar 2019
Besetzung Oberrichter Vetter, Vizepräsident
Gerichtsschreiber Schneuwly
Gesuchstellerin J-AG, _
Gesuchs-
gegnerin
F-AG, _
vertreten durch Dr. iur. Armin Schätti, Rechtsanwalt, Schorenstrasse 8,
Postfach, 5734 Reinach AG
Gegenstand Summarisches Verfahren betreffend Bauhandwerkerpfandrecht
- 2 -
Der Vizepräsident entnimmt den Akten:
1.
Die Gesuchstellerin ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in _. Sie be-
zweckt im Wesentlichen _.
2.
Die Gesuchsgegnerin ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in _. Sie hat
insbesondere _ Zweck.
Die Gesuchsgegnerin ist gemäss Grundbuchauszug Alleineigentümerin
des Grdst.-Nr. XXX GB R (E-GRID: CH _; Gesuchsbei-
lage [GB] 1).
3.
3.1.
Mit Eingabe vom 14. Oktober 2018 reichte die Gesuchstellerin gegen die
Gesuchsgegnerin beim Bezirksgericht Kulm ein Gesuch mit folgenden
Rechtsbegehren ein (vgl. GB 8):
" 1. Das Grundbuchamt Zofingen sei anzuweisen, zulasten des in der Gemeinde _, Grundbuch-Nr. XXX, Gebäude _, zugunsten der gesuchstellenden Partei ein Bauhandwerkerpfandrecht für die Pfandsumme von CHF 77'005.60 nebst Zins zu 5% seit 24.09.2018 vorläufig als Vormerkung einzutragen.
2.
Die Anweisung sei superprovisorisch (d.h. sofort nach Eingang des Gesuchs ohne Anhörung der Gegenpartei) zu verfügen und dem Grundbuchamt unverzüglich zur vorläufigen Eintragung im Grundbuch mitzuteilen.
3. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zulasten der Gegenpartei."
3.2.
Mit Entscheid vom 16. Oktober 2018 (GB 8) trat das Bezirksgericht Kulm
auf das Gesuch vom 14. Oktober 2018 mangels sachlicher Zuständigkeit
nicht ein.
4.
4.1.
Mit Gesuch vom 18. Oktober 2018 (überbracht am 18. Oktober 2018)
stellte die Gesuchstellerin dem Handelsgericht die folgenden Rechtsbe-
gehren:
" Das Grundbuchamt Zofingen, Brühlstrasse 5, 4800 Zofingen sei anzuweisen, zulasten des Grundstücks in der Gemeinde
- 3 -
_, Grundbuch-/ Grundblatt-Nr. XXX Gebäude _, -Nr. , zugunsten von der gesuchstellenden Partei ein für die Pfandsumme von CHF 77'005.6 nebst 5 % Zins seit 24.09.2018 vorläufig als Vormerkung .
Die Anweisung sei superprovisorisch (d.h. sofort nach Eingang
des Gesuchs ohne Anhörung der Gegenpartei) zu verfügen und dem Grundbuchamt unverzüglich zur vorläufigen Eintragung im Grundbuch mitzuteilen.
Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Ge-
genpartei."
4.2.
Am 18. Oktober 2018 erliess der Vizepräsident des Handelsgerichts die
folgende Verfügung:
" 1.
In Gutheissung des Gesuchs um Erlass superprovisorischer
Massnahmen vom 18. Oktober 2018 wird der Gesuchstellerin
die Vormerkung einer vorläufigen Eintragung eines Bau-
handwerkerpfandrechts gemäss Art. 837/839 i.V.m. Art. 961
ZGB auf dem Grundstück der Gesuchsgegnerin Grdst.-Nr. XXX
GB R (AG) superprovisorisch für eine Pfandsumme von
Fr. 77'005.60 zuzüglich Zins zu 5 % ab dem 24. September
2018 bewilligt.
2.
Das Grundbuchamt Zofingen wird angewiesen, die Vormer-
kung gemäss vorstehender Dispositiv-Ziff. 1 sofort einzutra-
gen.
3.
Die Gesuchstellerin hat mit beiliegendem Einzahlungsschein
bis zum 2. November 2018 einen Gerichtskostenvorschuss
von Fr. 2'000.00 zu leisten.
4.
Die Zustellung der Kopie des Gesuchs (inkl. Beilagen) vom 18.
Oktober 2018 an die Gesuchsgegnerin zur Erstattung einer
schriftlichen Antwort bis zum 2. November 2018.
5.
Fristerstreckungen werden grundsätzlich nicht gewährt. Aus-
nahmsweise ist eine Fristerstreckung beim Vorliegen zu-
reichender Gründe möglich (Art. 144 Abs. 2 ZPO). Als solche
gelten die Zustimmung der Gegenpartei oder von der Partei
nicht vorhersehbare oder nicht beeinflussbare Hinderungsgrün-
de.
- 4 -
6.
Bei Säumnis wird das Verfahren ohne die versäumte Handlung
weitergeführt (Art. 147 Abs. 2 ZPO).
7.
Die Gesuchsgegnerin wird darauf hingewiesen, dass die Vor-
merkung im Grundbuch gelöscht wird, wenn sie für die ange-
meldeten Forderungen hinreichende Sicherheiten leistet.
8.
Der Stillstand der Fristen gemäss Art. 145 Abs. 1 ZPO gilt
nicht (Art. 145 Abs. 2 lit. b ZPO)."
4.3.
Das Grundbuchamt Zofingen merkte diese vorläufige Eintragung am
18. Oktober 2018 um 15:23 Uhr mit der Tagebuchnummer _ im
Tagebuch vor und bestätigte die Vornahme dieses Geschäfts dem Vize-
präsidenten mit E-Mail vom 18. Oktober 2018 16:00 Uhr.
5.
5.1.
Ebenfalls am 18. Oktober 2018 reichte die Gesuchstellerin gegen den
Entscheid des Bezirksgerichts Kulm vom 16. Oktober 2018 eine Berufung
mit den folgenden Anträgen am Obergericht des Kantons Aargau, Zivilge-
richt, ein (ZSU.2018.305; vgl. GB 9):
" 1. Das Grundbuchamt Zofingen ist [a]nzuweisen, zulasten des in der Gemeinde Reinach (AG) Grundblatt Nr. XXX Gebäude _ zugunsten der [g]esuchstellenden Partei ein für die Pfandsumme von CHF 77'005.60 nebst 5 % Zins seit 24.09.2018 vorläufig als Vormerkung [e]inzutragen.
2. Die [auf]schiebende Wirkung ist [z]wecks Einhaltung der Fristen zu gewähren. (Die Eingabe an das Bezirksgericht Kulm erfolgte am 14.10.2018, die Frist für die Eintragung läuft am 20.10.2018 ab)."
5.2.
Mit Verfügung vom 18. Oktober 2018 wies die Instruktionsrichterin des
Obergerichts, Zivilgericht, im Verfahren ZSU.2018.305 das Grundbuchamt
Zofingen an, auf dem Grundstück der Gesuchsgegnerin Grdst.-Nr. XXX
GB R zu Gunsten der Gesuchstellerin ein Bauhandwerkerpfandrecht für
die Pfandsumme von Fr. 77'005.60 nebst 5 % Zins seit 24. September
2018 vorläufig als Vormerkung einzutragen.
- 5 -
5.3.
Das durch die Instruktionsrichterin des Obergerichts, Zivilgericht, zur Ein-
tragung angeordnete Bauhandwerkerpfandrecht trug das Grundbuchamt
Zofingen am 18. Oktober 2018 (Tagebuchnummer 024-2018/10871/0) um
16:05 Uhr ins Tagebuch ein (vgl. OGer AG, Entscheid vom 17. Dezember
2018 im Verfahren ZSU.2018.305).
6.
Mit Antwort vom 8. November 2018 stellte die Gesuchsgegnerin folgende
Rechtsbegehren:
" 1. Auf das Gesuch vom 18. Oktober 2018 sei nicht einzutreten; eventuell sei es abzuweisen.
Das Grundbuchamt Zofingen sei anzuweisen, die aufgrund der Verfügung des Handelsgerichts, 2. Kammer, vom 18. Oktober 2018 auf dem Grundstück der Gesuchsgegnerin Liegenschaft R / XXX erfolgte Vormerkung (vorläufige eines Bauhandwerkerpfandrechtes für eine von CHF 77'005.60 zuzüglich Zins zu 5 % ab dem 24. September 2018) wieder zu löschen."
2. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen."
Zur Begründung führte die Gesuchsgegnerin im Wesentlichen aus, der-
selbe Streitgegenstand sei am Obergericht des Kantons Aargau noch
rechtshängig gewesen, als die Gesuchstellerin das Gesuch beim Han-
delsgericht eingereicht habe. Weiter habe die Gesuchstellerin für die G-
AG gearbeitet und diese habe der Gesuchstellerin mit Fr. 197'946.00 be-
reits mehr als den vereinbarten Werklohn von Fr. 194'205.60 überwiesen.
Zudem sei die eingebaute Küche im Juni 2018 bereits mehr als ein Jahr in
Betrieb gewesen, weshalb damals keine Abschlussarbeiten mehr durch-
geführt worden seien und die viermonatige Verwirkungsfrist bereits abge-
laufen sei.
7.
7.1.
Mit Eingabe vom 23. November 2018 nahm die Gesuchstellerin Stellung
zu den Vorbringen der Gesuchsgegnerin.
7.2.
Mit Eingabe vom 29. November 2018 nahm die Gesuchsgegnerin Stel-
lung zur Eingabe der Gesuchstellerin vom 23. November 2018.
- 6 -
8.
8.1.
Mit Verfügung vom 30. November 2018 sistierte der Vizepräsident das
vorliegende Verfahren bis zum Entscheid in der Sache ZSU.2018.305.
8.2.
Mit Entscheid vom 17. Dezember 2018 wies das Obergericht des Kantons
Aargau die Berufung der Gesuchstellerin ab und wies das Grundbuchamt
Zofingen an, das am 18. Oktober 2018 um 16:05 Uhr unter der Tage-
buchnummer 024-2018/10871/0 auf dem Grundstück der Gesuchsgegne-
rin eingetragene Bauhandwerkerpfandrecht zu löschen.
8.3.
Mit Verfügung vom 11. Januar 2019 hob der Vizepräsident die Sistierung
des vorliegenden Verfahrens auf und stellte in Aussicht, es werde nach
dem Eintritt der Rechtskraft des Entscheids im Verfahren ZSU.2018.305
entschieden.
8.4.
Die Gesuchstellerin hat gegen den Entscheid des Obergerichts des Kan-
tons Aargau vom 17. Dezember 2018 (ZSU.2018.305) beim Bundesge-
richt innert der Rechtsmittelfrist von 30 Tagen keine Beschwerde in Zivil-
sachen erhoben.
Der Vizepräsident zieht in Erwägung:
1. Zuständigkeit
Der Einzelrichter am Handelsgericht ist örtlich, sachlich und funktionell zur
Beurteilung der im summarischen Verfahren zu behandelnden Streitigkeit
zuständig (vgl. dazu E. 4 der Verfügung vom 18. Oktober 2018).
2. Einrede der anderweitigen Litispendenz
2.1. Parteibehauptungen
Die Gesuchsgegnerin argumentiert, da die Gesuchstellerin mit Eingabe
vom 18. Oktober 2018 den Entscheid des Zivilgerichts Kulm vom
16. Oktober 2018 an das Obergericht des Kantons Aargau weitergezogen
habe, sei derselbe Streitgegenstand zwischen den Parteien nach wie vor
rechtshängig gewesen, als die Gesuchstellerin vorliegendes Gesuch am
Handelsgericht des Kantons Aargau rechtshängig gemacht habe. Dies
habe eine Sperrwirkung ausgelöst, weshalb eine Prozessvoraussetzung
für das Eintreten auf das vorliegende Gesuch durch das Handelsgericht
nicht erfüllt gewesen sei. Dementsprechend sei auf das Gesuch nicht ein-
zutreten (Antwort S. 3 f.). Die Anweisung zur Eintragung der Vormerkung
des Bauhandwerkerpfandrechts durch das Handelsgericht stelle keine
gültige rechtliche Basis dar, weshalb der besagte Eintrag nicht fristwah-
- 7 -
rend sei (Eingabe vom 29. November 2018 S. 2). Die Vormerkung des
Bauhandwerkerpfandrechts durch das Obergericht des Kantons Aargau
sei ebenfalls nicht fristwahrend, da dieses wegen des Vorliegens einer
handelsrechtlichen Streitigkeit hierfür nicht zuständig gewesen sei (Ein-
gabe vom 29. November 2018 S. 2). Ein Rückbezug der Rechtshängigkeit
nach Art. 63 ZPO sei sodann rechtlich nicht von Belang, da es bei
Art. 839 Abs. 2 ZGB auf das Eintragungsdatum ankomme (Eingabe vom
29. November 2018 S. 2 f.).
Die Gesuchstellerin ist der Ansicht, die Gesuchsgegnerin handle rechts-
missbräuchlich. Sie sei bei der gleichzeitigen Abgabe ihres Gesuchs an
das Handelsgericht und das Obergerichts im Zugzwang gewesen, da der
Ablauf der Viermonatsfrist gedroht habe. Die provisorische Eintragung sei
nun fristwahrend erfolgt (Eingabe vom 23. November 2018 S. 1).
2.2. Rechtliches
Das Gericht kann auf ein Gesuch nur dann eintreten, wenn die Prozess-
voraussetzungen erfüllt sind (Art. 59 Abs. 1 ZPO). Eine Voraussetzung ist
die fehlende anderweitige Rechtshängigkeit der Sache, die sogenannte
Sperr- oder Ausschlusswirkung der Litispendenz (Art. 59 Abs. 2 lit. d
ZPO).
Steht endgültig fest, dass es an einer Prozessvoraussetzung fehlt, darf
nicht zur Sache verhandelt werden und ergeht ein Nichteintretensent-
scheid. 1 Ergeht dennoch ein Sachurteil, kann dieses an schwerwiegenden
Mängeln leiden und unter Umständen nichtig sein. 2 Dabei ist nach der in
Frage stehenden Prozessvoraussetzung zu differenzieren. 3 Fehlerhafte
Entscheide sind nichtig, wenn a) der ihnen anhaftende Mangel besonders
schwer ist, b) er offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und c)
zudem die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht
ernsthaft gefährdet wird. Dabei betont das Bundesgericht, dass als Nich-
tigkeitsgründe vorab funktionelle und sachliche Unzuständigkeit der ent-
scheidenden Behörde sowie krasse Verfahrensfehler in Betracht fallen. 4
Insbesondere bei der vorläufigen Ausschlusswirkung der anderweitigen
Rechtshängigkeit derselben Sache hält die Lehre dafür, dass das als
zweites angerufene Gericht nicht sofort einen Nichteintretensentscheid
fällen, sondern das Verfahren vorerst bis zum Entscheid des zuerst ange-
1 BGE 140 III 159 E. 4.2.4; BGer 4A_229/2017 vom 7. Dezember 2017 E. 3.2.
2 BGE 140 III 227 E. 3.3; BGer 4A_229/2017 vom 7. Dezember 2017 E. 3.2.
3 BGer 4A_229/2017 vom 7. Dezember 2017 E. 3.2.
4 BGE 138 II 501 E. 3.1 mit Verweis auf BGE 137 I 273 E. 3.1, 133 II 366 E. 3.1 und 3.2, 132 II 342
E. 2.1 und 129 I 361 E. 2.
http://relevancy.bger.ch/php/clir/http/index.php?lang=de&type=show_document&page=1&from_date=&to_date=&from_year=1954&to_year=2014&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=0&highlight_docid=atf%3A%2F%2F133-II-366%3Ade&number_of_ranks=0&azaclir=clir#page366 http://relevancy.bger.ch/php/clir/http/index.php?lang=de&type=show_document&page=1&from_date=&to_date=&from_year=1954&to_year=2014&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=0&highlight_docid=atf%3A%2F%2F132-II-342%3Ade&number_of_ranks=0&azaclir=clir#page342 http://relevancy.bger.ch/php/clir/http/index.php?lang=de&type=show_document&page=1&from_date=&to_date=&from_year=1954&to_year=2014&sort=relevance&insertion_date=&from_date_push=&top_subcollection_clir=bge&query_words=&part=all&de_fr=&de_it=&fr_de=&fr_it=&it_de=&it_fr=&orig=&translation=&rank=0&highlight_docid=atf%3A%2F%2F129-I-361%3Ade&number_of_ranks=0&azaclir=clir#page361
- 8 -
rufenen Gerichts sistieren sollte. 5 Dies ist insbesondere dann sinnvoll,
wenn beim zuerst angerufenen Gericht ebenfalls Prozessvoraussetzun-
gen streitig sind.
2.3. Würdigung
Vorliegend befand sich die Gesuchstellerin in einer äusserst prekären
Zwangssituation: Nach ihren Behauptungen fanden die letzten Arbeiten
am 20. Juni 2018 statt. Demnach drohte die viermonatige Eintragungsfrist
nach Art. 839 Abs. 2 ZGB am 20. Oktober 2018 abzulaufen. Das Bezirks-
gericht Kulm entschied am 16. Oktober 2018 auf das Gesuch nicht einzu-
treten (GB 8). Die Gesuchstellerin stand daher vor der schwierigen Frage,
ob sie gegen diesen Entscheid beim Obergericht des Kantons Aargau ein
Rechtsmittel einlegen soll, weil sie der Ansicht war, das Bezirksgericht sei
sachlich zuständig, ob sie sich der Ansicht des Bezirksgerichts Kulm fü-
gen sollte und das Gesuch vor dem Handelsgericht neu einbringen sollte
oder ob sie beides tun sollte.
Hätte die Gesuchstellerin lediglich ein Rechtsmittel gegen den Entscheid
des Bezirksgerichts Kulm vom 16. Oktober 2018 eingelegt und hätte das
Obergericht diesen Entscheid bestätigt, so wäre die Gesuchsgegnerin ih-
res Rechts zur Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts zufolge Ver-
passens der Verwirkungsfrist verlustig gegangen. Art. 63 Abs. 1 ZPO
steht dem nicht entgegen, da Art. 839 Abs. 2 ZGB auf die Eintragung im
Grundbuch an sich und nicht auf die Einreichung des Gesuchs abstellt,
weshalb es nicht auf den Zeitpunkt der Rechtshängigkeit ankommt
(Art. 64 Abs. 2 ZPO). Dasselbe Risiko wäre die Gesuchstellerin einge-
gangen, wenn sie lediglich das Gesuch am Handelsgericht eingereicht
hätte und sich dieses der Ansicht des Bezirksgerichts Kulm nicht ange-
schlossen und sich für sachlich unzuständig befunden hätte (sog. negati-
ver Kompetenzkonflikt). Entsprechend muss das Verhalten der Gesuch-
stellerin als vorsichtig bezeichnet werden, indem sie das Gesuch sowohl
beim sachlich zuständigen Handelsgericht einreichte als auch gleichzeitig
ein Rechtsmittel gegen den bezirksgerichtlichen Entscheid einlegte. 6
Gleichzeitig handelt es sich bei der Ausschlusswirkung nach Art. 59
Abs. 1 lit. d ZPO nicht um eine unveränderlich fehlende Prozessvoraus-
setzung wie die sachliche Unzuständigkeit: Fällt nämlich die vorbestehen-
de Rechtshängigkeit der gleichen Sache weg ohne dass ein Sachent-
scheid dazu erging und dementsprechend eine abgeurteilte Sache vorlä-
ge (Art. 59 Abs. 1 lit. e ZPO), so fällt das Prozessfortführungshindernis
der anderweitigen Rechtshängigkeit nachträglich weg und das als zweites
angerufene Gericht hat den Prozess fortzuführen. Um diese Wirkung in
5 ZÜRCHER in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen
Zivilprozessordnung, 3. Aufl. 2016, Art. 60 N. 22 f; MÜLLER, in: Brunner/Gasser/Schwander (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2016, Art. 60 N. 5.
6 Vgl. auch BSK ZPO-INFANGER, 3. Aufl. 2017, Art. 63 N. 15.
- 9 -
einem Gesuch um Eintragung einer Vormerkung eines Bauhandwerker-
pfandrechts nicht obsolet zu machen, war es vorliegend notwendig, dem
Gesuch der Gesuchstellerin mit einer superprovisorisch angeordneten
Massnahme trotz anderweitiger Rechtshängigkeit nachzukommen.
Kommt der Umstand hinzu, dass das Handelsgericht im Zeitpunkt des Er-
lasses der Verfügung vom 18. Oktober 2018 noch nichts von der ander-
weitigen Rechtshängigkeit wusste. Zwar lag ein Auszug der Berufungs-
schrift dem Gesuch als Beilage 9 bei. Jedoch war nicht ersichtlich, dass
diese Berufung beim Obergericht bereits eingereicht wurde.
Vor diesem Hintergrund kann nicht gesagt werden, die Verfügung vom
18. Oktober 2018 sei fehlerhaft gewesen, weil das Handelsgericht auf das
Gesuch nicht hätte eintreten dürfen. Jedenfalls handelt es sich nicht um
einen schwerwiegenden Mangel, weshalb Nichtigkeit nicht in Betracht
kommt. Hätte das Handelsgericht das Verfahren lediglich sistiert, wäre der
materiellrechtliche Anspruch der Gesuchstellerin infolge Ablauf der vier-
monatigen Eintragungsfrist nach Art. 839 Abs. 2 ZGB aussichtslos ge-
macht worden.
Mittlerweile ist das Verfahren ZSU.2018.305 rechtskräftig abgeschlossen
worden. Auf das Gesuch der Gesuchstellerin vom 14. Oktober 2018 wur-
de nicht eingetreten. Dem vorliegenden handelsgerichtlichen Verfahren
steht daher weder eine anderweitige Rechtshängigkeit noch eine rechts-
kräftig abgeurteilte Sache entgegen.
3. Allgemeine Voraussetzungen der vorläufigen Eintragung
3.1.
Die Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts setzt im Wesentlichen
die Forderung eines Bauhandwerkers oder Unternehmers für die Leistung
von Arbeit und allenfalls von Material zugunsten des zu belastenden
Grundstücks sowie die Wahrung der viermonatigen Eintragungsfrist vo-
raus (Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 und 839 Abs. 2 ZGB).
3.2.
Die Eintragungsvoraussetzungen sind im Verfahren betreffend vorläufige
Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts lediglich glaubhaft zu ma-
chen. An diese Glaubhaftmachung werden zudem weniger strenge Anfor-
derungen gestellt, als es diesem Beweismass für vorsorgliche Massnah-
men (Art. 261 ff. ZPO) sonst entspricht. 7 Die vorläufige Eintragung darf
nur verweigert werden, wenn der Bestand des Pfandrechts ausgeschlos-
sen oder höchst unwahrscheinlich erscheint. Im Zweifelsfall, bei unklarer
Beweis- oder Rechtslage, ist die vorläufige Eintragung zu bewilligen und
7 BGE 137 III 563 E. 3.3; 86 I 265 E. 3; vgl. auch SCHUMACHER, Das Bauhandwerkerpfandrecht, 3.
Aufl. 2008, N. 1394; BSK ZGB II-THURNHERR, 5. Aufl. 2015, Art. 839/840 N. 37.
- 10 -
die Entscheidung dem Richter im ordentlichen Verfahren zu überlassen. 8
Letztlich läuft es darauf hinaus, dass der gesuchstellende Unternehmer
nur die blosse Möglichkeit eines Anspruchs auf ein Bauhandwerkerpfand-
recht nachzuweisen hat. 9
4. Eintragungsfrist
4.1. Parteibehauptungen
Die Gesuchstellerin behauptet, die Arbeiten seien am 20. Juni 2018 fer-
tiggestellt worden. Dabei seien Ablufthauben angeschlossen worden (Ge-
such Ziff. 6; GB 2 und 4).
Die Gesuchsgegnerin bestreitet hingegen, dass die Gesuchstellerin am
15., 18. und 20. Juni 2018 noch Abschlussarbeiten in der Küche des Res-
taurants P_ verrichtet habe. Die von der Gesuchstellerin ins Recht ge-
legte interne Stundenkontrolle sei nicht unterzeichnet worden. Zudem
könnten diese Arbeiten den Einbau der neuen Küche im Restaurant P_
nicht betreffen, nachdem diese schon im Juni 2018 seit mehr als einem
Jahr in Betrieb gewesen sei und keine zusätzlichen Arbeiten hätten ge-
leistet werden müssen. Zudem hätte die Gesuchstellerin ihrer Vertrags-
partnerin, der G-AG, die Schlussrechnung nicht bereits am 6. April 2018
(Antwortbeilage [AB] 4) zugestellt, wenn die Arbeiten zu diesem Zeitpunkt
noch nicht vollendet gewesen wären (Antwort S. 8).
4.2. Rechtliches
Die Eintragung des Bauhandwerkerpfandrechts muss bis spätestens vier
Monate nach der Arbeitsvollendung erfolgen, andernfalls der Anspruch
verwirkt (Art. 839 Abs. 2 ZGB). 10
Die Eintragungsfrist berechnet sich nach
Art. 7 ZGB i.V.m. Art. 77 Abs. 1 Ziff. 3 i.V.m. Abs. 2 OR. Sie endet somit
an demjenigen Tag des letzten Monats, der durch seine Zahl dem Tag der
Arbeitsvollendung entspricht. 11
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 839 Abs. 2 ZGB
gelten Bauarbeiten grundsätzlich dann als vollendet, wenn alle Verrich-
tungen, die Gegenstand des Werkvertrages bilden, ausgeführt sind. Nicht
in Betracht fallen dabei geringfügige oder nebensächliche, rein der Ver-
vollkommnung dienende Arbeiten oder Ausbesserungen wie der Ersatz
gelieferter, aber fehlerhafter Teile oder die Behebung anderer Mängel.
Geringfügige Arbeiten gelten aber dann als Vollendungsarbeiten, wenn
8 BGE 86 I 265 E. 3; 102 Ia 81 E. 2b.bb; BGer 5A_426/2015 vom 8. Oktober 2015 E. 3.4;
5A_924/2014 vom 7. Mai 2015 E. 4.1.2; SCHUMACHER, Das Bauhandwerkerpfandrecht, zur 3. Aufl., 2011, N. 628.
9 SCHUMACHER (Fn. 7), N. 1395.
10 BGE 126 III 462 E. 4c.aa; BSK ZGB II-THURNHERR (Fn. 7), Art. 839/840 N. 29.
11 BSK ZGB II-THURNHERR (Fn. 7), Art. 839/840 N. 31a.
- 11 -
sie unerlässlich sind; insoweit werden Arbeiten weniger nach quantitativen
als vielmehr nach qualitativen Gesichtspunkten gewürdigt. 12
4.3. Würdigung
Die Gesuchstellerin behauptet, sie habe am 10. November 2016 einen
Vertrag mit der G-AG über den Einbau einer Küche abgeschlossen. Die
ersten Arbeiten seien im Februar 2017 erfolgt (GB 4). Es ist unglaubwür-
dig, wenn nun behauptet wird, die Arbeiten hätten sich bis in den Juni
2018 hingezogen. Damit hätte der Kücheneinbau nahezu eineinhalb Jah-
re gedauert. Ferner wird nicht bestritten, dass die Küche bereits im Juni
2017 in Betrieb genommen wurde. Weshalb ein Jahr nach Inbetriebnah-
me der Küche im Juni 2018 noch Vollendungsarbeiten notwendig gewe-
sen sein sollen, ist nicht nachvollziehbar und wird von der Gesuchstellerin
auch nicht erläutert.
Zwar legt die Gesuchstellerin mit ihrer Stellungnahme vom 23. November
2018 zwei Fotos ins Recht, woraus sich ergeben soll, dass der Abluftan-
schluss des Kombisteamergerätes erst am 20. Juni 2018 eingebaut wor-
den sein soll. Allerdings hätte die Gesuchstellerin diese Beweismittel be-
reits mit ihrem Gesuch einreichen müssen. Nach Einreichung der Ge-
suchsantwort trat Aktenschluss ein und die Gesuchstellerin bringt weder
vor noch ist ersichtlich, weshalb es ihr trotz zumutbarer Sorgfalt nicht
möglich war, diese Fotos vorher vorzubringen (Art. 229 Abs. 1 lit. b ZPO).
Die Beilagen 4 und 5 der Eingabe der Gesuchstellerin vom 23. November
2018 haben daher unberücksichtigt zu bleiben. Selbst wenn aber auf die
Fotos abgestellt würde, so ginge aus diesen nur hervor, dass sie am
20. Juni 2018 abgeändert worden sind. Als Erstellungsdatum erscheint
sodann der 23. November 2018. Diese Ungereimtheit erklärt die Gesuch-
stellerin nicht. Aus den Beilagen 4 und 5 lässt sich daher nicht ableiten,
wann die Fotos entstanden sind, weshalb sie auch keine Indizien dafür
darstellen, wann der Abluftanschluss des Kombisteamergerätes einge-
baut wurde.
Es kommt hinzu, dass die Gesuchstellerin der G-AG bereits am 6. April
2018 die Schlussrechnung zukommen liess (AB 4). Es wäre zumindest
ungewöhnlich, wenn die Gesuchstellerin ihrer Vertragspartnerin die
Schlussrechnung bereits vor Vollendung ihrer Arbeiten hätte zukommen
lassen.
Es gilt daher als höchst unwahrscheinlich, dass die Gesuchstellerin ihre
letzten Arbeiten an der Küche im Restaurant P_ tatsächlich noch am
20. Juni 2018 oder überhaupt im Juni 2018 vornahm. Die der Einhaltung
der Viermonatsfrist nach Art. 839 Abs. 2 ZGB zugrundeliegenden Tatsa-
chen konnte die Gesuchstellerin daher nicht glaubhaft machen. Ihr Recht,
12
BGer 5A_613/2015 vom 22. Januar 2016 E. 4 m.w.N.
- 12 -
ein Bauhandwerkerpfandrecht eintragen zu lassen, sofern es denn über-
haupt bestünde, ist daher verwirkt und ihr Gesuch ist abzuweisen.
5. Ergebnis
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die vorläufi-
ge Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts nicht erfüllt sind und die
mit Verfügung vom 18. Oktober 2018 superprovisorisch angeordnete
Vormerkung der vorläufigen Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts
im Umfang von Fr. 77'005.60 zzgl. Zins zu 5 % seit dem 24. September
2018 zu löschen ist.
6. Prozesskosten
Die Prozesskosten, bestehend aus Gerichtskosten und Parteientschädi-
gung, werden der unterliegenden Partei auferlegt (Art. 95 Abs. 1 und
Art. 106 Abs. 1 ZPO). Ausgangsgemäss sind sie von der Gesuchstellerin
zu tragen.
6.1.
Unter Berücksichtigung des verursachten Aufwands sowie des Umfangs
der Streitigkeit werden die Gerichtskosten auf Fr. 2'000.00 festgesetzt
(§ 8 VKD; SAR 221.150). Gestützt auf Art. 111 Abs. 1 Satz 1 ZPO werden
sie vorab mit dem von der Gesuchstellerin geleiseten Gerichtskostenvor-
schuss in Höhe von Fr. 2'000.00 verrechnet.
6.2.
Die Gesuchstellerin hat der Gesuchsgegnerin zudem eine Parteientschä-
digung zu bezahlen (Art. 106 Abs. 1 ZPO). Die Parteientschädigung wird
nach dem Streitwert – vorliegend Fr. 77'005.60 – bemessen (vgl. § 3
AnwT; SAR 291.150). Ausgehend von einer Grundentschädigung von
rund Fr. 11'000.00 (§ 3 Abs. 1 lit. a Ziff. 9 AnwT) resultiert nach Vornahme
eines Summarabzugs von 75 % (§ 3 Abs. 2 AnwT) ein Betrag von rund
Fr. 2'750.00. Damit sind insbesondere eine Rechtsschrift und die Teil-
nahme an einer behördlichen Verhandlung abgegolten (vgl. § 6 Abs. 1
AnwT). Nach einem weiteren Abzug von 20 % wegen der nicht durchge-
führten Verhandlung (§ 6 Abs. 2 AnwT) und nach Hinzurechnung einer
Auslagenpauschale (§ 13 Abs. 1 AnwT) von praxisgemäss 3 % resultiert
ein Betrag in Höhe von Fr. 2'266.00, den die Gesuchstellerin der Ge-
suchsgegnerin als Parteientschädigung zu bezahlen hat.
Die Gesuchsgegnerin macht keinen Kostenersatz für die Mehrwertsteuer
geltend, weshalb ihr keiner zuzusprechen ist. 13
13
Merkblatt zur Frage der Berücksichtigung der Mehrwertsteuer bei der Bemessung der der Gerichte des Kantons Aargau vom 11. Januar 2016: https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/obergerichte/handelsgericht/Merkblatt_M wSt.pdf (zuletzt besucht am 18. Februar 2019).
https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/obergerichte/handelsgericht/Merkblatt_MwSt.pdf https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/obergerichte/handelsgericht/Merkblatt_MwSt.pdf
- 13 -
Der Vizepräsident erkennt:
1.
Das Gesuch vom 18. Oktober 2018 wird abgewiesen.
2.
Das Grundbuchamt Zofingen wird angewiesen, das gemäss Verfügung
des Handelsgerichts vom 18. Oktober 2018 gleichentags um 15:23 Uhr
unter der Tagebuch-Nr. 024-2018/10870/0 auf dem Grundstück der Ge-
suchsgegnerin Grdst.-Nr. XXX GB R, AG (E-GRID: CH
_), für die Pfandsumme von Fr. 77'005.60 zuzüglich 5 %
Zins ab dem 24. September 2018 vorläufig eingetragene Bauhandwerker-
pfandrecht zu löschen.
3.
3.1.
Die Gerichtskosten in Höhe von Fr. 2'000.00 sind von der Gesuchstellerin
zu tragen und werden mit dem von ihr geleisteten Gerichtskostenvor-
schuss in Höhe von Fr. 2'000.00 verrechnet.
3.2.
Die Gesuchstellerin hat der Gesuchsgegnerin eine Parteientschädigung in
richterlich festgesetzter Höhe von Fr. 2'266.00 zu bezahlen.
Zustellung an:
die Gesuchstellerin
die Gesuchsgegnerin (Vertreter; zweifach)
Zustellung an:
das Grundbuchamt Zofingen (nach Ablauf der Rechtsmittelfrist)
Rechtsmittelbelehrung für die Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 ff.,
Art 90 ff. BGG)
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen, von der schriftlichen Er-
öffnung der vollständigen Ausfertigung des Entscheids an gerechnet, die
Beschwerde an das Schweizerische Bundesgericht erhoben werden.
Die Beschwerde ist schriftlich oder in elektronischer Form beim Schweize-
rischen Bundesgericht einzureichen. Die Beschwerdeschrift ist in einer
Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit
Angabe der Beweismittel und die Unterschriften bzw. eine anerkannte
- 14 -
elektronische Signatur zu enthalten. In der Begründung ist in gedrängter
Form darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid verfassungs-
mässige Rechte (Art. 98 ff. BGG) verletzt. Die Urkunden, auf die sich die
Partei als Beweismittel beruft, sind beizulegen, soweit die Partei sie in den
Händen hat; ebenso ist der angefochtene Entscheid beizulegen (Art. 42
BGG).
Aarau, 19. Februar 2019
Handelsgericht des Kantons Aargau
2. Kammer
Der Vizepräsident: Der Gerichtsschreiber:
Vetter Schneuwly | 7,408 | 4,959 | AG_HG_002 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_002_-Handelsrecht-Bauhan_2019-02-19 | https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/gesetze___entscheide/gesetze_2/handelsrecht/Entscheid_des_Handelsgerichts_vom_19._Februar_2019.pdf | null | nan |
||
805b6866-b3d3-58f1-9188-5f64b288c861 | 1 | 417 | 871,803 | 1,158,710,400,000 | 2,006 | de | 2006
Obergericht
46
B. Anwaltsrecht
10
Art. 9 und 12 BGFA; Konsequenzen einer strafrechtlichen Verurteilung
für den ins Anwaltsregister eingetragenen Anwalt
- Strafrechtliche Verurteilung wegen Handlungen aus dem Privatbe-
reich ist disziplinarrechtlich nicht relevant.
- Keine Löschung des Registereintrages im konkreten Fall: Bezüglich
der Frage der Vereinbarkeit einer strafrechtlichen Verurteilung mit
dem Anwaltsberuf spielen die Aspekte der Zutrauenswürdigkeit des
Anwaltes, der Seriosität und der Ehrenhaftigkeit eine entscheidende
Rolle; Überprüfung der konkreten Handlung(en) im Einzelfall.
Aus dem Entscheid der Anwaltskommission vom 20. September 2006 i.S.
RA X.
Sachverhaltszusammenfassung
RA X. wurde mit Urteil des Bezirksgerichts Y vom 14. Mai
2004 bzw. des Obergerichts vom 28. Juli 2005 der Beschimpfung
und mehrfachen Drohung sowie der ungenügenden Aufmerksamkeit
beim Rückwärtsfahren und des pflichtwidrigen Verhaltens nach ei-
nem Unfall schuldig gesprochen. Sie wurde mit einer Busse von
Fr. 1'500.-- bestraft.
Aus den Erwägungen
3.
Während Art. 12 BGFA die Berufsregeln für Anwältinnen und
Anwälte festhält, sind in Art. 7 und 8 BGFA die fachlichen und per-
sönlichen Voraussetzungen für den Registereintrag geregelt.
2006
Zivilprozessrecht
47
4.
4.1.
Die Berufspflichten für Anwälte gemäss Art. 12 BGFA beziehen
sich nicht auf sein Privatleben. Während unter altem Recht teilweise
bei der Beurteilung der ,,Ehrenhaftigkeit und Zutrauenswürdigkeit"
des Anwaltes auch dessen private Lebenshaltung und Lebensführung
mitberücksichtigt wurde (allerdings nur in ,,Extremfällen"; vgl. dazu
ZR 93 Nr. 39, S. 147; F.
W
OLFFERS
, Der Rechtsanwalt in der
Schweiz, Bern 1986, S. 181 f.), beschränkt das BGFA die Relevanz
des Privatlebens auf Art. 8 BGFA (Voraussetzungen für den Register-
eintrag) und spielt bei den Berufsregeln keine Rolle mehr (vgl. auch
Entscheid der Zürcher Aufsichtskommission in ZR 103 [2004] Nr.
11). Einzig bei den persönlichen Voraussetzungen für den
Registereintrag können Vorkommnisse im Privatleben eine Rolle
spielen, sofern eine strafrechtliche Verurteilung wegen Handlungen
vorliegt, die mit dem Anwaltsberuf nicht zu vereinbaren sind (zum
Ganzen: W
ALTER
F
ELLMANN
in: W
ALTER
F
ELLMANN
/
G
AUDENZ
G.
Z
INDEL
[Hrsg.], Kommentar zum Anwaltsgesetz, Zürich 2005,
Art. 12 N 52 f. [zit. N
AME
, BGFA-Kommentar]).
4.2.
Die vorliegend gemäss rechtskräftigem Urteil von der beanzeig-
ten Anwältin erfüllten SVG-Tatbestände berühren nur das Privatle-
ben und sind deshalb vom Gesichtspunkt der Berufsregelverletzung
her nicht relevant. Dasselbe gilt für die Beschimpfung und die
Drohungen. Auch diese Sachverhalte spielten sich im privaten Um-
feld der beanzeigten Anwältin ab. Sie hatten grundsätzlich mit ihrer
beruflichen Tätigkeit als Anwältin nichts zu tun. [...]
4.3.
Nachdem weder die SVG-Tatbestände noch die Drohungen und
die Beschimpfung etwas mit der Anwaltstätigkeit der beanzeigten
Anwältin zu tun haben, besteht kein Anlass für die Einleitung eines
Disziplinarverfahrens und es ist zu überprüfen, ob die beanzeigte An-
wältin die Voraussetzungen für den Eintrag im Anwaltsregister im-
mer noch erfüllt, nachdem eine strafrechtliche Verurteilung mit Ein-
trag im Strafregister vorliegt.
2006
Obergericht
48
5.
Art. 8 Abs. 1 lit. b BGFA lautet wie folgt:
1
Für den Registereintrag müssen die Anwältinnen und An-
wälte folgende persönliche Voraussetzungen erfüllen:
[...]
b.
es darf keine strafrechtliche Verurteilung vorliegen wegen
Handlungen, die mit dem Anwaltsberuf nicht zu vereinbaren
sind und deren Eintrag im Strafregister nicht gelöscht ist;
Konkret stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob die
Handlungen der beanzeigten Anwältin, derentwegen sie verurteilt
wurde, mit dem Anwaltsberuf vereinbar sind oder nicht (Art. 8
Abs. 1 lit. b BGFA). Im Zusammenhang mit dem Registereintrag
können auch Handlungen aus dem Privatbereich des Anwaltes rele-
vant sein (vgl. N.
S
TUDER
, Neue Entwicklungen im Anwaltsrecht, in:
SJZ 100 [2004] S. 233).
5.1.
Beim Registereintrag gemäss BGFA handelt es sich um eine
grundsätzlich widerrufbare Polizeierlaubnis, durch die mittels Verfü-
gung auf Gesuch hin festgestellt wird, dass die zum Schutz der
Polizeigüter aufgestellten gesetzlichen Voraussetzungen für die Aus-
übung dieser Tätigkeit erfüllt sind (U.
H
ÄFELIN
/G.
M
ÜLLER
, Allge-
meines Verwaltungsrecht, 4.
Auflage, Rz. 2523; 2525). Die Lö-
schung des Registereintrages qualifiziert sich somit als Widerruf der
einst erteilten Bewilligung (H
ÄFELIN
/
M
ÜLLER
, a.a.O., Rz. 2552).
Der Widerruf ist in Art. 9 BGFA unter dem Marginale ,,Löschung"
vorgesehen, sofern auch nur eine der Eintragungsvoraussetzungen
nachträglich wegfällt.
5.2.
Bei der Beurteilung des Vorliegens eines ,,Löschungsgrundes"
(bzw. Wegfall einer Eintragungsvoraussetzung) gemäss Art. 9 BGFA
ist vorweg zu klären, welche polizeilichen Rechtsgüter durch
Art. 8 lit. b BGFA geschützt werden sollen, wenn im Gesetz von
,,Unvereinbarkeit mit dem Anwaltsberuf" die Rede ist.
Im Vernehmlassungsentwurf war unter den persönlichen
Voraussetzungen noch das Vorliegen eines ,,guten Leumundes"
2006
Zivilprozessrecht
49
gefordert worden. Eine strafrechtliche Verurteilung wegen Handlun-
gen ,,die das Ansehen des Berufsstandes beeinträchtigen" sollte zu-
dem den Registereintrag ausschliessen. Aufgrund des Ergebnisses
des Vernehmlassungsverfahrens wurde auf das Kriterium des Vorlie-
gens eines ,,guten Leumundes" verzichtet (Botschaft des Bundesrates
zum BGFA vom 28. April 1999, BBl 1999 6013
ff, [Botschaft], Ziff.
252.5). Hinsichtlich der Bewertung einer strafrechtlichen Verurtei-
lung wurde an Stelle der ,,Beeinträchtigung des Ansehens des
Berufsstandes" die ,,Unvereinbarkeit mit dem Anwaltsberuf" gesetzt.
Im Zusammenhang mit dem von einigen kantonalen Anwaltsge-
setzen unter altem Recht für die Berufsausübung noch geforderten
,,guten Leumund" wurden als polizeilich geschützte Rechtsgüter ,,der
Schutz der Klienten" und ,,das Interesse des Ansehens der Rechts-
pflege bzw. des Berufsstandes der Anwaltschaft schlechthin" heran-
gezogen. W
OLFFERS
(a.a.O., S. 179) qualifiziert den an erster Stelle
genannten ,,Schutz der Klienten" als polizeiliches Motiv ,,im engsten
Sinne". Das BGFA hat aber auf das Erfordernis des guten Leumun-
des verzichtet und die Betonung auf die Unvereinbarkeit mit dem
Anwaltsberuf gesetzt. Es muss deshalb davon ausgegangen werden,
dass es dem Gesetzgeber bei den persönlichen Zulassungsvorausset-
zungen gemäss Art. 8 BGFA um den konkreten, polizeilich motivier-
ten Schutz ,,im engeren Sinne" der Klienten ging, wogegen das Inter-
esse des Ansehens der Rechtspflege bzw. des Berufsstandes der An-
waltschaft in den Hintergrund trat und nicht mehr ein massgebendes
Kriterium ist.
5.3.
Wird der Widerruf der Berufsausübungsbewilligung im Rahmen
eines Verwaltungsaktes in Erwägung gezogen, so ist der Grundsatz
der Verhältnismässigkeit zu beachten (vgl. H
ÄFELIN
/
M
ÜLLER
,
a.a.O., Rz. 581 f. und 585). Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit
hat Verfassungsrang, gemäss Art. 5 Abs. 2 BV muss alles staatliche
Handeln verhältnismässig sein. Dieser Grundsatz fordert, dass die
Verwaltungsmassnahmen zur Verwirklichung des im öffentlichen
Interesse liegenden Ziels geeignet und notwendig sind. Ausserdem
muss der angestrebte Zweck in einem vernünftigen Verhältnis zu den
Freiheitsbeschränkungen stehen, die dem Privaten auferlegt werden.
2006
Obergericht
50
Gemäss Rechtssprechung des Bundesgerichts steht der An-
waltsberuf unter dem Schutz der Wirtschaftsfreiheit gemäss
Art. 27 BV. Der Entzug (bzw. die Verweigerung) der Berufsaus-
übungsbewilligung stellt somit einen Eingriff in ein verfassungsmäs-
sig geschütztes Rechtsgut dar. Durch die polizeilich motivierte
Bewilligungspflicht gemäss Art. 4 ff. BGFA wird auf der anderen
Seite der im öffentlichen Interesse liegende Schutz der potentiellen
Klienten vor persönlich zum Anwaltsberuf generell ungeeigneten
Personen angestrebt.
Für die Löschung aus dem Register muss demnach aus der
strafrechtlichen Verurteilung des Anwaltes mit einiger Wahrschein-
lichkeit der Schluss gezogen werden können, dieser biete keine oder
zu wenig Gewähr für die Einhaltung der Berufsregeln, weshalb seine
Verurteilung mit dem Anwaltsberuf unvereinbar erscheine.
5.4.
Bezüglich der Frage der Vereinbarkeit einer strafrechtlichen
Verurteilung mit dem Anwaltsberuf spielen die Aspekte der Zutrau-
enswürdigkeit des Anwaltes, der Seriosität und der Ehrenhaftigkeit
eine entscheidende Rolle. Die inkriminierte Handlung muss das vom
Gesetzgeber geschützte Vertrauen in den Anwaltsberuf tangieren, um
eine Auswirkung auf den Registereintrag entfalten zu können. Verur-
teilungen wegen Vermögensdelikten sind mit dem Anwaltsberuf klar
nicht vereinbar sind, weil sich Anwälte regelmässig eine Inkassovoll-
macht erteilen lassen und in einem solchen Fall keine oder zu wenig
Gewähr für die vorausgesetzte Einhaltung der Pflicht zur sorgfältigen
Verwahrung und Herausgabe anvertrauter Vermögenswerte bieten
würden (Art. 12 Abs. 1 lit. h BGFA). Demgegenüber wird eine
,,simple" Geschwindigkeitsübertretung in der Regel nicht relevant
sein (L.
W.
V
ALLONI
/
M.
C.
S
TEINEGGER
, Bundesgesetz über die
Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte [BGFA], Zürich 2002,
Einführung Ziff. 5.5.2; S
TUDER
, a.a.O., S. 233).
Grundsätzlich ist immer im Einzelfall aufgrund der konkreten
Handlung zu überprüfen, ob diese mit dem Anwaltsberuf noch ver-
einbar ist oder nicht. Von Bedeutung können insbesondere direkt-
oder eventualvorsätzlich begangene Handlungen sein, eher weniger
dagegen Fahrlässigkeitsdelikte. Eine gewisse Tatschwere ist Bedin-
2006
Zivilprozessrecht
51
gung für die Unvereinbarkeit mit dem Anwaltsberuf, wobei die aus-
gesprochene strafrechtliche Sanktion ein Anhaltspunkt ist (S
TAEHE
-
LIN
/
O
ETIKER
,
BGFA-Kommentar, a.a.O., Art. 8 N 18).
Mit dem Anwaltsberuf nicht zu vereinbaren sind Delikte wie
Mord, vorsätzliche Tötung, schwere Körperverletzung, Vermögens-
delikte, Delikte gegen die Willensfreiheit (Drohung, Nötigung),
Urkundenfälschungen, Geldwäscherei. Demgegenüber sind Delikte,
denen eine heftige Gemütsbewegung zugrunde liegt, die eine speziel-
le Seelenlage voraussetzen oder bei denen die kriminelle Energie ge-
ring ist (z.B. mässige Geschwindigkeitsüberschreitungen), eher mit
dem Anwaltsberuf vereinbar (S
TAEHELIN
/
O
ETIKER
,
BGFA-Kom-
mentar, a.a.O., Art. 8 N 19 ff.).
[...]
6.
[...]
6.4.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Handlun-
gen, welche zur strafrechtlichen Verurteilung und zum Strafregister-
eintrag führten, nicht als ,,mit dem Anwaltsberuf unvereinbar" ge-
mäss Art. 8 Abs. 1 lit. b BGFA einzustufen sind. Es handelte sich
zwar unter anderem um Delikte gegen die Willensfreiheit, es bestand
aber eine starke seelische Drucksituation der beanzeigten Anwältin.
Zudem spielten sich die Handlungen nur im Privatleben ab und hat-
ten keinerlei Einfluss auf die berufliche Tätigkeit der beanzeigten
Anwältin. Insbesondere zeitigen sie keinerlei Auswirkungen hin-
sichtlich des vom Gesetz angestrebten Schutzes der Klienten. Die
vom Gericht ausgefällte, relativ tiefe Strafe weist darauf hin, dass
auch die Strafrichter zweifelsohne die immer noch schwierige per-
sönliche Situation der beanzeigten Anwältin (Arbeitslosigkeit des
Ehemannes, Kinder noch in Ausbildung) mitberücksichtigt haben.
Eine Löschung im Anwaltsregister würde als unverhältnismässig er-
scheinen. Unter all diesen Gesichtspunkten ist auf die Löschung aus
dem Anwaltsregister zu verzichten. | 2,695 | 2,170 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2006-10_2006-09-20 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2006-10.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2006-10.pdf | AGVE_2006_10 | null | nan |
80a5425b-e2fa-420e-9bd0-c6021757ac06 | 1 | 414 | 1,497,354 | 1,587,427,200,000 | 2,020 | de | Urteil/Entscheid
Handelsgericht
2. Kammer
HSU.2020.30 / as / mv
Entscheid vom 21. April 2020
Besetzung Oberrichter Vetter, Vizepräsident
Gerichtsschreiber Schneuwly
Gesuchstellerin B. GmbH, _
Gegenstand Summarisches Verfahren betreffend Bilanzdeponierung
Der Vizepräsident entnimmt den Akten:
Mit Eingabe vom 17. April 2020 teilte A.N. als Geschäftsführer und Inhaber
der Gesuchstellerin dem Handelsgericht mit, dass die Gesuchstellerin in-
folge Illiquidität und Überschuldung gemäss Art. 725 OR die Bilanz depo-
niere.
Der Vizepräsident zieht in Erwägung:
1.
Das Gericht prüft die Prozessvoraussetzungen von Amtes wegen (Art. 60
ZPO). Darunter fallen insbesondere die örtliche und die sachliche Zustän-
digkeit des angerufenen Gerichts (Art. 59 Abs. 2 lit. b ZPO).
2.
Zunächst ist die sachliche und örtliche Zuständigkeit zu prüfen (Art. 59
Abs. 2 lit. b ZPO).
3.
3.1.
Die Gesuchstellerin verlangt gestützt auf Art. 725a OR sinngemäss die
Konkurseröffnung.
- 2 -
3.2.
Die Eröffnung des Konkurses und die Durchführung des Konkursverfah-
rens finden am Konkursort statt. Gemäss Art. 46 SchKG entspricht der or-
dentliche Betreibungsort dem Konkursort (KRÜSI, in: Kren Kostkie-
wicz/Vock, Kommentar zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und
Konkurs SchKG, 4. Aufl. 2017, Art. 46 N. 9 m.w.N.).
Vorliegend hat die Gesuchstellerin ihren Sitz in Baden. Die örtliche Zustän-
digkeit der aargauischen Gerichte ist daher gegeben.
3.3.
Für die Eröffnung des Konkurses ist gemäss Art. 251 lit. a ZPO i.V.m. § 6
Abs. 1 lit. b EG ZPO AG die Bezirksgerichtspräsidentin oder der Bezirks-
gerichtspräsident und nicht das Handelsgericht sachlich zuständig.
3.4.
Damit fehlt es an der Prozessvoraussetzung der sachlichen Zuständigkeit
(Art. 59 Abs. 2 lit. b ZPO), so dass auf das Gesuch vom 17. April 2020 nicht
einzutreten ist (Art. 59 Abs. 1 ZPO).
4.
Wird eine Eingabe, die mangels Zuständigkeit zurückgezogen oder auf die
nicht eingetreten wurde, innert eines Monates seit dem Rückzug oder dem
Nichteintretensentscheid beim zuständigen Gericht neu eingereicht, so gilt
als Zeitpunkt der Rechtshängigkeit das Datum der ersten Einreichung
(Art. 63 Abs. 1 ZPO). Vorbehalten bleiben die besonderen gesetzlichen
Klagefristen nach dem SchKG (Art. 63 Abs. 3 ZPO).
5.
Als unterliegende Partei im vorliegenden Verfahren hat die Gesuchstellerin
die Gerichtskosten zu tragen. Gemäss § 8 VKD beträgt die Entscheidge-
bühr für die Durchführung eines summarischen Verfahrens Fr. 500.00 bis
Fr. 12'000.00. Wird ein Verfahren nicht vollständig durchgeführt, kann auf
die Erhebung von Gerichtskosten ganz oder teilweise verzichtet werden
(§ 13 Abs. 1 VKD). Vorliegend sind die Gerichtskosten entsprechend dem
entstandenen Aufwand auf Fr. 100.00 festzusetzen.
Der Vizepräsident erkennt:
1.
Auf das Gesuch vom 17. April 2020 wird nicht eingetreten.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 100.00 werden der Gesuchstellerin auferlegt.
- 3 -
Zustellung an:
die Gesuchstellerin (mit Rechnung)
Mitteilung an:
die Obergerichtskasse
6.
Rechtsmittelbelehrung für die Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 ff.,
Art. 90 ff. BGG)
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen, von der schriftlichen Eröff-
nung der vollständigen Ausfertigung des Entscheides an gerechnet, die Be-
schwerde an das Schweizerische Bundesgericht erhoben werden.
Die Beschwerde ist schriftlich oder in elektronischer Form beim Schweize-
rischen Bundesgericht einzureichen. Die Beschwerdeschrift ist in einer
Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit An-
gabe der Beweismittel und die Unterschriften bzw. eine anerkannte elekt-
ronische Signatur zu enthalten. In der Begründung ist in gedrängter Form
darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid Recht (Art. 95 ff. BGG)
verletzt. Die Urkunden, auf die sich die Partei als Beweismittel beruft, sind
beizulegen, soweit die Partei sie in den Händen hat; ebenso ist der ange-
fochtene Entscheid beizulegen (Art. 42 BGG).
Aarau, 21. April 2020
Handelsgericht des Kantons Aargau
2. Kammer
Der Vizepräsident: Der Gerichtsschreiber:
Vetter Schneuwly | 987 | 782 | AG_HG_002 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_002_-Handelsrecht-Zivilp_2020-04-21 | https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/gesetze___entscheide/gesetze_2/handelsrecht/Entscheid_des_Handelsgerichts_vom_21._April_2020.pdf | null | nan |
||
80c4f6b4-c865-504d-b81b-57f01d00223b | 1 | 417 | 869,855 | 1,180,742,400,000 | 2,007 | de | 2007
Strafrecht
55
IV. Strafrecht
12
§ 37 Schulgesetz
Die Eltern, welche gemeinsam als Mittäter eine Widerhandlung gegen das
Schulgesetz (hier: § 37 Abs. 3 Schulgesetz) begehen, sind je einzeln zu
bestrafen und bei der Strafzumessung kommt für jeden der beiden El-
ternteile der dafür vorgesehene gesetzliche Strafrahmen zur Anwendung.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 2. Strafkammer, vom 13. Juni 2007
i.S. R.G. und T.G. | 108 | 88 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2007-12_2007-06-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2007-12.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2007-12.pdf | AGVE_2007_12 | null | nan |
80ccc339-0e16-51fe-9440-338201a98ddf | 1 | 417 | 871,752 | 1,078,358,400,000 | 2,004 | de | 2004
Zivilprozessrecht
59
13
§ 126 lit. b Ziff. 1 ZPO; Art. 111 ZGB.
Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege bei der Scheidung auf ge-
meinsames Begehren. Die unentgeltliche Verbeiständung kann nicht mit
dem Argument verweigert werden, bei der Scheidung auf gemeinsames
Begehren handle es sich generell um eine Streitsache mit einfacher
Rechtslage.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 4. Zivilkammer, vom 30. März 2004
in Sachen M. A.
Aus den Erwägungen
1. b) Der Gesuchsteller reichte am 12. Februar 2004 beim Ge-
richtspräsidium Bremgarten Klage ein, mit welcher er die Scheidung
der Ehe beantragte. Formell handelt es sich somit um eine Schei-
dungsklage. Der Gesuchsteller und seine Ehefrau haben sich indes-
sen in einer Vereinbarung vom 12. Februar 2004 über die Beantra-
gung der Scheidung und sämtliche Nebenfolgen geeinigt, so dass es
sich materiell um ein gemeinsames Begehren der Scheidung nach
Art. 111 ZGB handelt. In einem solchen Fall hat sich das Gericht
lediglich davon zu überzeugen, dass das Scheidungsbegehren und die
Vereinbarung auf freiem Willen und reiflicher Überlegung beruhen
und die Vereinbarung voraussichtlich genehmigt werden kann
(Art. 111 Abs. 1 ZGB). Bestätigen beide Ehegatten nach einer zwei-
monatigen Bedenkzeit seit der Anhörung schriftlich ihren Schei-
dungswillen und ihre Vereinbarung, so spricht das Gericht die Schei-
dung aus und genehmigt die Vereinbarung (Art. 111 Abs. 2 ZGB).
Mithin liesse sich argumentieren, es handle sich bei der Scheidungs-
klage auf gemeinsames Begehren um eine Streitsache mit einfacher
Rechtslage, welche eine Rechtsvertretung vor Gericht nicht notwen-
dig erscheinen lasse. Damit aber würde der Realität nicht angemes-
sen Rechnung getragen. Denn es ist davon auszugehen, dass die
scheidungswilligen Eheleute in der Regel nicht in der Lage sind, die
sich bei einer Scheidung stellenden und in einer Scheidungskonven-
tion zu regelnden Probleme wie die Bemessung der
2004
Obergericht/Handelsgericht
60
Unterhaltsbeiträge, die güterrechtlichen Fragen oder die Teilung der
Austrittsleistungen der beruflichen Vorsorge ohne die Hilfe eines
rechtlichen Beistands sachlich und rechtlich korrekt zu lösen. Aus
diesem Grund ziehen die Eheleute regelmässig einen Anwalt oder
eine Anwältin bei. Auch die Gerichte sind bei Scheidungen auf
gemeinsames Begehren auf die Mitwirkung der Anwälte angewiesen,
insbesondere was die Vollständigkeit der Scheidungsvereinbarung
und die Einreichung der entsprechenden Belege betrifft. Es wäre
daher unbillig, eine unentgeltliche Verbeiständung mit dem
Argument zu verweigern, bei der Scheidung auf gemeinsames
Begehren handle es sich generell um eine Streitsache mit einfacher
Rechtslage. Demnach ist die Bestellung eines unentgeltlichen
Rechtsvertreters auch bei Scheidungen auf gemeinsames Begehren
wie im vorliegenden Fall grundsätzlich gerechtfertigt. | 598 | 503 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2004-13_2004-03-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2004-13.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2004-13.pdf | AGVE_2004_13 | null | nan |
80faff53-7b10-5a8e-b1e1-8594f9147346 | 1 | 417 | 871,840 | 988,761,600,000 | 2,001 | de | 2001
Obergericht/Handelsgericht
76
[...]
24
§ 85 Abs. 1
bis
StPO, Verwendung beschlagnahmter Vermögenswerte.
Die genannte Bestimmung erlaubt sinngemäss auch die Verwendung der
zur Sicherung von Bussen, Verfahrens- und Vollzugskosten beschlag-
nahmten Vermögenswerte zu diesem Zweck. - Die Beschlagnahme findet
ihre Grenze im betreibungsrechtlichen Existenzminimum des Schuldners.
Auszug aus dem Entscheid des Obergerichts, 2. Strafkammer, vom 18. Mai
2001 i.S. M.T.
Aus den Erwägungen
2. Die Vorinstanz stellt zu Recht fest, dass es sich bei den frag-
lichen Geldern nicht um Vermögenswerte handelt, die durch eine
strafbare Handlung erlangt worden sind. Eine Einziehung ist folglich
gestützt auf Art. 59 StGB nicht möglich.
Gestützt auf den in Art. 44 SchKG enthaltenen Vorbehalt kan-
tonalen Rechts zur Verwertung von Gegenständen, welche aufgrund
strafrechtlicher oder fiskalischer Gesetze mit Beschlag belegt sind,
und die bundesgerichtliche Rechtsprechung (BGE 76 I 28 und seithe-
rige Praxis) ist die Beschlagnahme und Verwertung von Vermögens-
werten zur Deckung von Bussen, Verfahrens- und Vollzugskosten
möglich. § 85 Abs. 1
bis
StPO erklärt zwar vom Wortlaut her nur die
Beschlagnahme von Vermögenswerten zur Sicherung von Bussen,
Verfahrens- und Vollzugskosten als zulässig, doch ist über den
Wortlaut hinaus zu folgern, dass die beschlagnahmten Vermögens-
werte auch zur Deckung dieser Bussen und Kosten verwendet wer-
den dürfen. Andernfalls wäre die Bestimmung von § 85 Abs. 1
bis
StPO unnötig und sinnlos.
Die Möglichkeit der Beschlagnahme von Vermögenswerten
gemäss § 85 Abs. 1
bis
StPO findet jedoch ihre Grenze im betrei-
bungsrechtlichen Schutz des Schuldners gemäss Art. 92 ff. SchKG.
2001
Strafprozessrecht
77
Ein Eingriff in das betreibungsrechtliche Existenzminimum steht
dem Staat zur Deckung von Bussen, Verfahrens- und Vollzugskosten
nicht zu (OGE, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 5. Februar
2001 i.S. F.W., Erw. 2b; vgl. auch ZR 90 [1991] Nr. 31 S. 103 ff.).
Die Bestimmung ist zudem auch dann nur mit Zurückhaltung anzu-
wenden, wenn mit der Beschlagnahme die Resozialisierung eines
Betroffenen akut gefährdet würde, indem dieser dadurch in eine fi-
nanzielle Notlage gelangen würde (vgl. dazu auch Brühlmeier, Aar-
gauische Strafprozessordnung, Kommentar, 2. Aufl., Aarau 1980,
S. 220). | 560 | 446 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2001-24_2001-05-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-24.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-24.pdf | AGVE_2001_24 | null | nan |
819e505e-ed67-5c28-b062-4f36e22deb67 | 1 | 417 | 870,131 | 1,249,430,400,000 | 2,009 | de | 2009
Obergericht
28
[...]
2
Art. 176 ZGB
Prozesserledigung im Eheschutzverfahren aufgrund einer von den Partei-
en getroffenen Vereinbarung.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 5. Zivilkammer, vom 24. August 2009
i.S. A.S.-Z. gegen G.S.
Aus den Erwägungen
Die von der Vorinstanz gewählte Verfahrenserledigung in den
von den Parteien durch Vergleich erledigten Punkten (darunter Un-
terhalt) ist problematisch. Anders als im Scheidungsrecht bedürfen in
einem Eheschutzverfahren geschlossene Vereinbarungen keiner rich-
terlichen Genehmigung. Folglich hat der Eheschutzrichter dem kan-
tonalen Prozessrecht entsprechend das Verfahren insoweit, als es um
der Parteidisposition unterliegende Ansprüche geht (so der Anspruch
auf persönlichen Unterhalt eines Ehegatten), als durch Vergleich erle-
digt von der Kontrolle abzuschreiben, was in einem ein Urteilssurro-
gat darstellenden Abschreibungsentscheid geschieht (während die
Genehmigung einer Konvention in Urteilsform erfolgt). Hinsichtlich
der der Offizialmaxime unterliegenden Ansprüche (so der Anspruch
auf Kinderunterhalt und andere Kinderbelange) hat der Eheschutz-
richter dagegen - nicht anders als der Scheidungsrichter - eine autori-
tative Anordnung in Urteilsform zu treffen (die materiell dem von
den Eltern in der Vereinbarung gestellten gemeinsamen Antrag ent-
sprechen kann). | 287 | 227 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2009-2_2009-08-05 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2009-2.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2009-2.pdf | AGVE_2009_2 | null | nan |
81e94afc-8668-41b4-a512-5e136eafc312 | 1 | 414 | 1,497,335 | 1,557,878,400,000 | 2,019 | de | Handelsgericht
2. Kammer
HSU.2019.57 / as / mv
Art. 88
Entscheid vom 15. Mai 2019
Besetzung Oberrichter Vetter, Vizepräsident
Gerichtsschreiber Müller
Gesuchstellerin C.G, _
vertreten durch lic. iur. Anton Frank, Rechtsanwalt, Alpenstrasse 1,
6004 Luzern
Gesuchsgegne-
rin
H.M. GmbH, _
Gegenstand Summarisches Verfahren betreffend Mietausweisungsgesuch
- 2 -
Der Vizepräsident entnimmt den Akten:
1.
Die Gesuchstellerin ist eine Genossenschaft mit Sitz in Basel. [...].
2.
Die Gesuchsgegnerin ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit
Sitz in M. (AG). Sie bezweckt hauptsächlich die Führung gastronomischer
Betriebe [...], (Gesuchsbeilage [GB] 2).
3.
3.1.
Die Gesuchstellerin verfügte mit der B. M. GmbH für das Mietobjekt "Res-
taurant EG, B.-Strasse 21, M." über einen Mietvertrag (vgl. Gesuch Rz. 1;
GB 3). Kurz bevor die B. M. GmbH am 27. November 2017 in Konkurs fiel,
schloss diese mit der Gesuchsgegnerin einen Untermietvertrag ab. Das
Konkursamt des Kantons Aargau erklärte mit Schreiben vom 30. November
2017, den Nichteintritt in diesen Untermietvertrag und verwies die Ge-
suchsgegnerin betreffend Abschluss eines neuen Mietvertrags an C. (vgl.
Gesuch Rz. 2; GB 4).
3.2.
In der Folge fanden zwischen der Gesuchstellerin und der Gesuchsgegne-
rin Verhandlungen über den Abschluss eines Mietvertrags für das Mietob-
jekt statt. Ob dabei ein Mietvertrag zustande kam, ist zwischen den Par-
teien umstritten (vgl. GB 5 sowie E-Mail vom 9. August 2018 als Beilage
zur Gesuchsantwort). Ein schriftlicher Mietvertrag wurde indessen nicht ab-
geschlossen, die Gesuchsgegnerin benützte das Mietobjekt jedoch weiter-
hin und bezahlte der Gesuchstellerin den monatlichen Mietzins von
Fr. 5'947.45.
4.
4.1.
Infolge Zahlungsverzugs der Gesuchsgegnerin drohte die Gesuchstellerin
der Gesuchsgegnerin mittels Schreiben vom 14. Januar 2019 die Kündi-
gung an und setzte ihr eine 30-tägige Zahlungsfrist zur Begleichung der
ausstehenden Mietzinsforderungen an (GB 6).
4.2.
Mit amtlichem Formular vom 14. März 2019 wurde das Mietverhältnis mit
der Gesuchsgegnerin auf den 30. April 2019 gekündigt (GB 7).
4.3.
Mit Schreiben vom 18. März 2019 bat die Gesuchsgegnerin die Gesuch-
stellerin um Reduktion des Mietzinses (vgl. Gesuch Rz. 7; GB 8). Zudem
focht die Gesuchsgegnerin die Kündigung mit Eingabe vom 18. März 2019
- 3 -
bei der Schlichtungsbehörde für Miete und Pacht des Bezirks Baden an
(GB 9).
4.4.
Die Gesuchstellerin antwortete der Gesuchsgegnerin mit Schreiben vom
28. März 2019, dass eine Vertragsverlängerung insbesondere aufgrund
des bestehenden Zahlungsverzugs von Monatsmietzinsen nicht möglich
sei und forderte die Gesuchsgegnerin auf, das Mietobjekt am Donnerstag,
2. Mai 2019, 10:00 Uhr, zurückzugeben (GB 10). Die Gesuchsgegnerin hat
das Mietobjekt nicht verlassen (vgl. Gesuchsantwort).
5.
Mit Gesuch vom 16. April 2019 (Postaufgabe: 16. April 2019) stellte die
Gesuchstellerin die folgenden Rechtsbegehren:
" 1. Die Gesuchsgegnerin sei zu verhalten, das Mietobjekt an der B.- Strasse 21, M. (Laden) innert einer in wenigen Tagen , richterlichen Frist, ordnungsgemäss zu räumen, zu reinigen und zu verlassen.
2. Für den Fall der Nichtbefolgung des richterlichen Befehls sei der Gesuchstellerin das Recht einzuräumen, die polizeiliche Räumung des Mietobjekts auf Kosten der Gesuchsgegnerin zu verlangen.
Zudem sei der Gesuchsgegnerin für diesen Fall eine Busse nach Art. 292 StGB anzudrohen.
3. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der ."
Zur Begründung führte die Gesuchstellerin im Wesentlichen aus, sie habe
einen Anspruch auf Mietausweisung der Gesuchsgegnerin. Da die vorge-
brachten Tatsachen unbestritten seien, der Sachverhalt sofort beweisbar
und die Rechtslage klar sei, sei dem Gesuch um schnellen Rechtsschutz
im Sinne von Art. 257 Abs. 1 ZPO zu entsprechen.
6.
Mit Eingabe vom 24. April 2019 bezifferte die Gesuchstellerin den Streitwert
auf Fr. 215'080.20.
7.
Mit Eingabe vom 14. Mai 2019 teilte die Gesuchsgegnerin mit, sie bestehe
nach wie vor auf der Behauptung, dass die Gesuchstellerin ihr einen 5+5
Jahre Mietvertrag mehrmals mündlich per Telefon versprochen habe und
sie in diesem Punkt nicht die Wahrheit sage (vgl. E-Mail vom 9. August
- 4 -
2018 als Beilage zur Gesuchsantwort). Falls die Gesuchsgegnerin das Mie-
tobjekt gemäss Mietausweisungsgesuch räumen müsse, entstände T. A.
als Besitzer der Gesuchsgegnerin ein enormer finanzieller Schaden, wel-
cher seine finanzielle Existenz grundlegend zerstören würde. Deshalb
stelle er den Antrag auf Schadenersatz in Höhe von Fr. 200'000.00. Falls
ein Mietvertrag zustande gekommen sein sollte, sei die Gesuchsgegnerin
bereit, die offenen Mietschulden zu bezahlen. Falls die Gesuchsgegnerin
im vorliegenden Verfahren unterliegen sollte, stelle sie ein Gesuch um eine
Fristerstreckung, so dass sie das gesamte Mobiliar raumen könne und
keine polizeiliche Räumung stattfinden müsse.
Der Vizepräsident zieht in Erwägung:
1. Zuständigkeit
1.1. Örtliche Zuständigkeit
Gemäss Art. 33 ZPO ist für Klagen aus Miete und Pacht das Gericht am
Ort der gelegenen Sache zuständig. Da sich vorliegend das Mietobjekt in
M. (AG) befindet, ist die örtliche Zuständigkeit der aargauischen Gerichte
gegeben.
1.2. Sachliche und funktionelle Zuständigkeit
Die sachliche Zuständigkeit des Handelsgerichts ergibt sich Art. 6 Abs. 2
ZPO, wenn die geschäftliche Tätigkeit mindestens eine Prozesspartei be-
troffen ist, gegen den Entscheid die Beschwerde in Zivilsachen an das Bun-
desgericht offen steht und die Prozessparteien im Handelsregister einge-
tragen sind.
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, da auch Mietverträge über
Geschäftsliegenschaften vom Begriff der geschäftlichen Tätigkeiten erfasst
werden,1 der Streitwert – entgegen der Auffassung der Gesuchsgegnerin –
sechs Monatsmietzinse umfasst2 und damit mit Fr. 35'684.70, die für die
Beschwerde an das Bundesgericht vorgeschriebene Höhe von
Fr. 15'000.00 bzw. 30'000.00 (Art. 74 Abs. 1 BGG) überschreitet und beide
Parteien im Handelsregister eingetragen sind.
Für den Rechtsschutz in klaren Fällen ist das summarische Verfahren an-
wendbar. Gestützt auf Art. 248 lit. b i.V.m. Art. 257 ZPO i.V.m. § 13 Abs. 1
lit. a EG ZPO ist der Vizepräsident des Handelsgerichts funktionell zustän-
dig.
1 BGE 139 III 457 E. 3.2; VETTER, in; Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Hrsg.), Kommentar
zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, 3. Aufl. 2016, Art. 6 N. 21b m.w.N. 2 Siehe zur Streitwertberechnung BGE 144 III 346 E. 1.2.1.
- 5 -
2. Rechtsschutz in klaren Fällen
2.1.
Die Gesuchstellerin behauptet, aufgrund der aufgelegten Belege seien die
Voraussetzungen gemäss Art. 257 ZPO (Rechtsschutz in klaren Fällen) ge-
geben (Gesuch Rz. 9).
2.2.
Das Gericht gewährt Rechtsschutz im summarischen Verfahren, wenn der
Sachverhalt unbestritten oder sofort beweisbar und die Rechtslage klar ist
(Art. 257 Abs. 1 ZPO). Die Voraussetzung des unbestrittenen oder sofort
beweisbaren Sachverhalts wird auch als Liquidität des Sachverhalts be-
zeichnet.3 Ausgeschlossen ist dieser Rechtsschutz, wenn die Angelegen-
heit dem Offizialgrundsatz unterliegt (Art. 257 Abs. 2 ZPO). Kann dieser
Rechtsschutz nicht gewährt werden, so tritt das Gericht auf das Gesuch
nicht ein (Art. 257 Abs. 3 ZPO).
2.3.
Ein unbestrittener Sachverhalt liegt vor, wenn eine Partei die Tatsachenbe-
hauptung ihres Gegners nicht bestreitet. Diesfalls gilt dieser als unbestritten
und die betreffende Tatsache kann dem Entscheid ohne weiteres zugrunde
gelegt werden, da über nicht bestrittene Tatsachen kein Beweis geführt zu
werden braucht (vgl. Art. 150 Abs. 1 ZPO).4
2.4.
Ein Sachverhalt ist dann sofort beweisbar, wenn er ohne zeitliche Verzö-
gerung und ohne besonderen Aufwand nachgewiesen werden kann. Der
Beweis ist in der Regel durch Urkunden zu erbringen, wobei andere sofort
greifbare Beweismittel nicht ausgeschlossen sind.5 Der Rechtsschutz in
klaren Fällen unterliegt keiner Beweisstrengebeschränkung. Blosses
Glaubhaftmachen genügt für die Geltendmachung des Anspruchs nicht,
sondern die Gesuchstellerin hat den vollen Beweis der anspruchsbegrün-
denden Tatsachen zu erbringen.6 Demgegenüber genügt für die Vernei-
nung eines klaren Falls, dass die Gesuchsgegnerin substantiiert und
schlüssig Einwendungen vorträgt, die in tatsächlicher Hinsicht nicht sofort
widerlegt werden können und die geeignet sind, die bereits gebildete rich-
terliche Überzeugung zu erschüttern. Nicht erforderlich ist, dass sie ihre
Einwendungen glaubhaft macht.7
3 SUTTER-SOMM/LÖTSCHER, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Fn. 1), Art. 257 N. 5. 4 BK ZPO I-HURNI, 2012, Art. 55 N. 37 mit Verweis auf Art. 150 Abs. 1 ZPO. 5 BGE 138 III 620 E. 5.1.1; SUTTER-SOMM/LÖTSCHER (Fn. 3), Art. 257 N. 5. 6 BGE 138 III 620 E. 5.1.1; SUTTER-SOMM/LÖTSCHER (Fn. 3), Art. 257 N. 6; LEUPOLD, Der Rechts-
schutz in klaren Fällen nach der neuen Schweizerischen Zivilprozessordnung, in: Leupold//Stauber/Vetter (Hrsg.), Der Weg zum Recht, Festschrift für Alfred Bühler, 2008, S. 70 ff.
7 BGE 138 III 620 E. 5.1.1; SUTTER-SOMM/LÖTSCHER (Fn. 3), Art. 257 N. 7.
- 6 -
2.5.
Die Rechtslage ist klar, wenn die Anwendung und Auslegung einer Norm,
namentlich auf Grund ihres Wortlauts, der Rechtsprechung und der be-
währten Lehre, zu keinem Zweifel Anlass gibt.8 Die Rechtsfolge muss sich
bei der Anwendung des Gesetzes unter Berücksichtigung der Lehre und
Rechtsprechung ohne Weiteres ergeben und die Rechtsanwendung zu ei-
nem eindeutigen Ergebnis führen.9 Dagegen ist die Rechtslage in der Re-
gel nicht klar, wenn die Anwendung einer Norm einen Ermessens- oder
Billigkeitsentscheid des Gerichts mit wertender Berücksichtigung der ge-
samten Umstände erfordert, wie dies beispielsweise bei der Beurteilung
von Treu und Glauben zutrifft.10
3. Ausweisungsanspruch der Gesuchstellerin (Rechtsbegehren
Ziff. 1)
3.1. Parteibehauptungen
Die Gesuchstellerin behauptet für das Mietobjekt "Restaurant EG, B.-
Strasse 21, M." sei zwischen den Parteien ein faktisches Mietverhältnis zu-
stande gekommen, da die Gesuchsgegnerin den monatlichen Mietzins von
Fr. 5'947.45 bezahlt habe, ohne dass ein schriftlicher Mietvertrag mit einer
bestimmten Kündigungsdauer abgeschlossen worden sei (Gesuch Rz. 4).
Infolge Verzug von Mietzinszahlungen habe die Gesuchstellerin der Ge-
suchsgegnerin am 14. Januar 2019 die Kündigungsandrohung zugestellt
(Gesuch Rz. 5; GB 6). Nachdem die Gesuchsgegnerin innert der angesetz-
ten Frist die rückständigen Mietzinsen nicht bezahlt habe, sei ihr mit Schrei-
ben vom 14. März 2019 unter Beilage des offiziellen Kündigungsformulars
die Kündigung auf den 30. April 2019 ausgesprochen worden (Gesuch Rz.
6; GB 7).
Die Gesuchsgegnerin bestreitet die Rechtmässigkeit der Kündigung nicht.
Sie stellt sich jedoch auf den Standpunkt, die Gesuchstellerin habe ihr ei-
nen 5+5 Jahre Mietvertrag mehrmals mündlich per Telefon versprochen
(vgl. E-Mail vom 9. August 2018 als Beilage zur Gesuchsantwort).
3.2. Rechtliches
Benützt jemand ein Mietobjekt, ohne dass zwischen den Parteien ein Miet-
vertrag zustande gekommen ist, geht das Bundesgericht von einem sog.
"faktischen Vertragsverhältnis" aus.11
Ist der Mieter von Wohn- und Geschäftsräumen nach der Übernahme der
Sache mit der Zahlung fälliger Mietzinse oder Nebenkosten im Rückstand,
8 BGer 4A_447/2011 vom 20. September 2011 E. 2.3; SUTTER-SOMM/LÖTSCHER (Fn. 3), Art. 257
N. 9. 9 BGE 138 III 123 E. 2.1.2; SUTTER-SOMM/LÖTSCHER (Fn. 3), Art. 257 N. 9. 10 BGE 138 III 123 E. 2.1.2. 11 BGE 119 II 437 3b; SVIT-Kommentar-ROHRER, 4. Aufl. 2018, Vorbemerkungen zu Art. 253-273c
OR N. 35 m.w.N.
- 7 -
so kann ihm der Vermieter gemäss Art. 257d Abs. 1 OR in einem ersten
Schritt schriftlich eine Zahlungsfrist von mindestens 30 Tagen setzen und
ihm androhen, dass bei unbenütztem Ablauf der Frist das Mietverhältnis
gekündigt werde. Bezahlt der Mieter innert der gesetzten Frist nicht, so
kann der Vermieter in einem zweiten Schritt mit einer Frist von mindestens
30 Tagen auf Ende eines Monats kündigen (Art. 257d Abs. 2 OR). Die Kün-
digung von Wohn- und Geschäftsräumen ist auf dem amtlichen Formular
mitzuteilen (Art. 266l Abs. 2 OR).
Die Anfechtung der Gültigkeit der Kündigung bei Mietschlichtungsstelle
führt mangels identischem Streitgegenstand zu keiner Sperrwirkung der
Rechtshängigkeit bezüglich dem Mietausweisungsbegehren.12 Vielmehr
hat die Mietschlichtungsstelle bei parallelen Verfahren vor der Mietschlich-
tungsstelle und dem Ausweisungsrichter zu sistieren. Falls der Auswei-
sungsrichter, der für den Ausweisungsentscheid zwangsläufig auch vorfra-
geweise über die Gültigkeit der Kündigung zu befinden hat, die Ausweisung
im summarischen Verfahren gewährt, so schreibt die Mietschlichtungs-
stelle den sistieren Fall ab.13
3.3. Würdigung
Es ist unbestritten, dass die Gesuchsgegnerin das Mietobjekt "Restaurant
EG, B.-Strasse 21, M." auch ohne schriftlichen Vertrag zwischen den Par-
teien benutzte und der Gesuchstellerin daher einen monatlichen Mietzins
von Fr. 5'947.45 entrichtete. Damit bestand zwischen den Parteien ein
Mietvertrag und der Einwand der Gesuchsgegnerin, die Gesuchstellerin
habe ihr einen 5+5 Jahre Mietvertrag mehrmals mündlich per Telefon ver-
sprochen, ist irrelevant.
Die Kündigung der Gesuchstellerin vom 14. März 2019 für das Mietobjekt
"Restaurant EG, B.-Strasse 21, M." auf den 30. April 2019 (GB 7) erfolgte
rechtsgültig: Es ist unbestritten, dass die Gesuchsgegnerin die Mietsache
übernommen hatte und mit der Zahlung von Mietzinsen im Rückstand war.
Mit eingeschriebenem Brief vom 14. Januar 2019 hat die Gesuchstellerin
die Gesuchsgegnerin gemahnt und ihr die gemäss Art. 257d Abs. 1 OR
erforderliche Zahlungsfrist von 30 Tagen angesetzt (GB 6). Dieser Brief
wurde der Gesuchsgegnerin am 17. Januar 2019 zugestellt (vgl. GB 6, Zu-
stellungsbeweis). Die 30-tägige Zahlungsfrist endete damit am 16. Februar
2019. Die auf dem amtlichen Formular erklärte Kündigung der Gesuchstel-
lerin vom 14. März 2019 für das Mietobjekt "Restaurant EG, B.-Strasse 21,
M." auf den 30. April 2019 (GB 7) ging bei der Gesuchsgegnerin am
15. März 2019 ein (vgl. GB 7; Zustellungsbeweis) und erfüllte damit die for-
mellen Voraussetzungen von Art. 257d Abs. 2 und Art. 266l Abs. 2 OR.
12 SUTTER-SOMM/LÖTSCHER (Fn. 3), Art. 257 N. 38a m.w.N. 13 SUTTER-SOMM/LÖTSCHER (Fn. 3), Art. 257 N. 38a.
- 8 -
Das Rechtsbegehren Ziff. 1 ist daher vollumfänglich gutzuheissen.
4. Anspruch auf direkte Vollstreckung (Rechtsbegehren Ziff. 2)
In Rechtsbegehren Ziff. 2 beantragt die Gesuchstellerin, für den Fall der
Nichtbefolgung des richterlichen Befehls sei der Gesuchsgegnerin das
Recht einzuräumen, die polizeiliche Räumung des Mietobjekts auf Kosten
der Gesuchsgegnerin zu verlangen. Zudem sei der Gesuchsgegnerin für
diesen Fall eine Busse nach Art. 292 StGB einzuräumen.
Das Handelsgericht ordnet bei der direkten Vollstreckung auf Antrag der
obsiegenden Partei Vollstreckungsmassnahmen an (Art. 219 i.V.m.
Art. 236 Abs. 3 ZPO).14 Die Gesuchsgegnerin hat sich nicht zum Vollstre-
ckungsantrag geäussert. Aufgrund der vorliegend geltenden Dispositions-
maxime (Art. 58 Abs. 1 ZPO) hat sich das Handelsgericht deshalb an die
Anträge der Gesuchstellerin zu halten und lediglich deren Verhältnismäs-
sigkeit zu prüfen.15 Eine offensichtliche Unverhältnismässigkeit der gestützt
auf Art. 343 Abs. 1 lit. a und d ZPO beantragten Vollstreckungsmassnah-
men ist nicht ersichtlich, so dass auch dieses Rechtsbegehren gutzuheis-
sen ist.
5. Schadenersatzanspruch der Gesuchsgegnerin
Der von der Gesuchsgegnerin geltend gemachte Schadenersatzanspruch
ist mangels rechtlicher und tatsächlicher Liquidität im Sinne von Art. 257
Abs. 1 ZPO in einem ordentlichen Verfahren geltend zu machen. Folglich
kann im vorliegenden Verfahren auf den behaupteten Schadenersatzan-
spruch nicht eingetreten werden.
6. Kosten
Abschliessend sind die Kosten zu verlegen. Die Prozesskosten bestehen
aus den Gerichtskosten und der Parteientschädigung (Art. 95 Abs. 1 ZPO).
6.1. Verlegung
Die Prozesskosten werden nach dem Ausgang des Verfahrens verteilt, d.h.
entsprechend dem Ausmass des Obsiegens bzw. Unterliegens (Art. 106
Abs. 1 ZPO). Vorliegend ist das Gesuch vollumfänglich gutzuheissen, wes-
halb die Gesuchsgegnerin als unterliegend gilt und ihr die Prozesskosten
aufzuerlegen sind. Gründe, die eine andere Verlegung nach Ermessen (vgl.
Art. 107 ZPO) rechtfertigen würden, wurden nicht vorgebracht und sind
auch nicht ersichtlich. Für die von der Gesuchsgegegnerin geltend ge-
machte Schadenersatzforderung werden keine Kosten erhoben.
14 SCHNEUWLY/VETTER, Die Realvollstreckung handelsgerichtlicher Entscheide, in: Jusletter 5. Septem-
ber 2016, Rz. 14. 15 SCHNEUWLY/VETTER (Fn. 14), Rz. 29.
- 9 -
6.2. Gerichtskosten
Die Gerichtskosten bestehen aus der Entscheidgebühr (Art. 95 Abs. 2 lit. b
ZPO), welche sich nach § 8 VKD bemisst. Sie wird in Berücksichtigung des
verursachten gerichtlichen Aufwands und angesichts von Schwierigkeit
und Umfang der Streitigkeit auf insgesamt Fr. 3'000.00 festgesetzt und mit
dem von der Gesuchstellerin geleisteten Kostenvorschuss in Höhe von
Fr. 3'000.00 verrechnet (Art. 111 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die Gesuchsgegnerin
hat der Gesuchstellerin die Gerichtskosten, d.h. Fr. 3'000.00, direkt zu er-
setzen (Art. 111 Abs. 2 ZPO).
6.3. Parteientschädigung
Die Gesuchsgegnerin hat der Gesuchstellerin zudem eine Parteientschä-
digung zu bezahlen (Art. 106 Abs. 1 ZPO). Die Parteientschädigung wird
nach dem Streitwert – vorliegend Fr. 35'684.70 (vgl. oben E. 1.2)– bemes-
sen (vgl. § 3 AnwT; SAR 291.150). Ausgehend von einer Grundentschädi-
gung von Fr. 6'872.15 (§ 3 Abs. 1 lit. a Ziff. 9 AnwT) resultiert nach Vor-
nahme eines Summarabzugs von 75 % (§ 3 Abs. 2 AnwT) ein Betrag von
Fr. 1'718.05. Damit sind insbesondere eine Rechtsschrift und die Teil-
nahme an einer behördlichen Verhandlung abgegolten (vgl. § 6 Abs. 1
AnwT). Nach einem weiteren Abzug von 20 % wegen der nicht durchge-
führten Verhandlung (§ 6 Abs. 1 AnwT), resultiert ein Betrag von
Fr. 1'374.45. Nach Hinzurechnung einer Auslagenpauschale (§ 13 Abs. 1
AnwT) von praxisgemäss 3 % resultiert ein Betrag in Höhe von gerundet
Fr. 1'415.00, den die Gesuchsgegnerin der Gesuchstellerin als Parteient-
schädigung zu bezahlen hat.
- 10 -
Der Vizepräsident erkennt:
1.
1.1.
In Gutheissung des Gesuchs vom 16. April 2019 wird die Gesuchsgegne-
rin unter Androhung der Bestrafung ihrer Organe nach Art. 292 StGB ver-
pflichtet, das von ihr benutzte Mietobjekt "Restaurant EG, B.-Strasse 21,
M.", bis spätestens Freitag, 31. Mai 2019, 18:00 Uhr, ordnungsgemäss
zu räumen, zu reinigen und zu verlassen.
1.2.
Art. 292 StGB lautet:
" Wer der von einer zuständigen Behörde oder einem zuständigen Beamten unter Hinweis auf die Strafdrohung dieses Artikels an ihn erlassenen nicht Folge leistet, wird mit Busse bestraft."
2.
Der Gesuchstellerin wird das Recht eingeräumt, im Fall der Nichtbefolgung
von Dispositiv-Ziff. 1 bei der Kantonspolizei Aargau, die Räumung auf Kos-
ten der Gesuchsgegnerin zu verlangen.
3.
Auf die Schadenersatzforderung der Gesuchsgegnerin wird nicht eingetre-
ten.
4.
Die Gerichtskosten in Höhe von Fr. 3'000.00 sind von der Gesuchsgegne-
rin zu tragen und werden mit dem von der Gesuchstellerin geleisteten Kos-
tenvorschuss in Höhe von Fr. 3'000.00 verrechnet. Die Gesuchsgegnerin
hat die von ihr zu tragenden Gerichtskosten der Gesuchstellerin direkt zu
ersetzen.
5.
Die Gesuchsgegnerin hat der Gesuchstellerin deren Parteikosten in rich-
terlich festgesetzter Höhe von Fr. 1'415.00 (inkl. Auslagen) zu ersetzen.
Zustellung an:
die Gesuchstellerin (Vertreter; zweifach mit Doppel der Eingabe der
Gesuchsgegnerin vom 14. Mai 2019 [inkl. Beilage])
die Gesuchsgegnerin
Mitteilung an:
die Obergerichtskasse
die Kantonspolizei Aargau
- 11 -
1.
Rechtsmittelbelehrung für die Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 ff.,
Art. 90 ff. BGG)
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen, von der schriftlichen Eröff-
nung der vollständigen Ausfertigung des Entscheides an gerechnet, die Be-
schwerde an das Schweizerische Bundesgericht erhoben werden.
Die Beschwerde ist schriftlich oder in elektronischer Form beim Schweize-
rischen Bundesgericht einzureichen. Die Beschwerdeschrift ist in einer
Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit An-
gabe der Beweismittel und die Unterschriften bzw. eine anerkannte elekt-
ronische Signatur zu enthalten. In der Begründung ist in gedrängter Form
darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid Recht (Art. 95 ff. BGG)
verletzt. Die Urkunden, auf die sich die Partei als Beweismittel beruft, sind
beizulegen, soweit die Partei sie in den Händen hat; ebenso ist der ange-
fochtene Entscheid beizulegen (Art. 42 BGG).
Aarau, 15. Mai 2019
Handelsgericht des Kantons Aargau
2. Kammer
Der Vizepräsident: Der Gerichtsschreiber:
Vetter Müller | 5,421 | 3,903 | AG_HG_002 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_002_-Handelsrecht-Zivilp_2019-05-15 | https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/gesetze___entscheide/gesetze_2/handelsrecht/Entscheid_des_Handelsgerichts_vom_15._Mai_2019.pdf | null | nan |
||
81fbcdad-f4e0-569c-a389-44d28b6b7a51 | 1 | 417 | 870,714 | 1,197,936,000,000 | 2,007 | de | 2007
Zivilprozessrecht
53
[...]
11
Art. 12 lit. a und i BGFA
Wird vom Klienten keine detaillierte Rechnung verlangt, reicht es aus,
wenn der Anwalt eine Schlussabrechnung ohne Details erstellt.
Detaillierte Rechnungstellung erst eineinhalb oder zwei Monate, nachdem
diese verlangt wurde, verletzt Art. 12 lit. i BGFA; Verzögerungen sind
nur ausnahmsweise gerechtfertigt.
2007
Obergericht/Handelsgericht
54
Die Herausgabe von Akten nach Abschluss eines Verfahrens sollte auf
Verlangen innerhalb von ca. 10 Tagen erfolgen; eine mehrwöchige Ver-
spätung verstösst gegen Art. 12 lit. a BGFA.
Entscheid der Anwaltskommission vom 18. Dezember 2007 i.S. M. H. | 151 | 132 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2007-11_2007-12-18 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2007-11.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2007-11.pdf | AGVE_2007_11 | null | nan |
82ae1ac2-c87d-4a55-9bd2-ae1baaf86706 | 1 | 414 | 1,497,528 | 1,562,025,600,000 | 2,019 | de | Urteil/Entscheid
Handelsgericht
2. Kammer
HSU.2019.81 / as / mv
Art. 127
Entscheid vom 2. Juli 2019
Besetzung Oberrichter Vetter, Vizepräsident
Gerichtsschreiber Schneuwly
Gesuchstellerin H. AG, _
Gesuchsgegne-
rin
B. GmbH, _
vertreten durch Dr. iur. Reto Bieri, Rechtsanwalt, Jurastrasse 58, Postfach
2118, 5430 Wettingen
Gegenstand Summarisches Verfahren betreffend Bauhandwerkerpfandrecht
- 2 -
Der Vizepräsident entnimmt den Akten:
1.
Die Gesuchstellerin ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in K.(AG). Sie hat
gemäss Handelsregister im Wesentlichen die Ausführung von Güter- und
Muldentransporten [...] zum Zweck.
2.
Die Gesuchsgegnerin ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit
Sitz in B. (AG). Sie bezweckt gemäss Handelsregister insbesondere die
Tätigkeit als Generalunternehmung, [...].
3.
Die Gesuchsgegnerin ist Eigentümerin des Grdst.-Nr. 53 GB B. (vgl. Grund-
buchauszug).
4.
Mit Gesuch vom 21. Mai 2019 (Postaufgabe: 21. Mai 2019) stellte die Ge-
suchstellerin folgende Rechtsbegehren:
" Das Grundbuchamt B. sei anzuweisen, zulasten des Grundstücks in der Gemeinde K., Grundbuch- / Grundblatt-Nr. (siehe Beilage) Kataster-Nr. , zugunsten von der gesuchstellenden Partei ein für die Pfandsumme von CHF 119'420.3 nebst % Zins seit vorläufig als Vormerkung einzutragen.
Die Anweisung sei superprovisorisch (d.h. sofort nach Eingang des Ge-
suchs ohne Anhörung der Gegenpartei) zu verfügen und dem unverzüglich zur vorläufigen Eintragung im Grundbuch mitzuteilen.
Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Gegenpartei."
5.
Mit Verfügung vom 22. Mai 2019 bestätigte der Vizepräsident den Parteien
den Eingang des Gesuchs, wies das Gesuch um Erlass superprovisori-
scher Massnahmen ab und setzte der Gesuchstellerin Frist bis 6. Juni 2019
zur Bezahlung des Kostenvorschusses in Höhe von Fr. 3'000.00 und der
Gesuchsgegnerin zur Erstattung einer Gesuchsantwort Frist bis 6. Juni
2019.
6.
Mit Verfügung vom 11. Juni 2019 setzte der Vizepräsident der Gesuchstel-
lerin eine letzte, nicht erstreckbare Frist bis 17. Juni 2019 zur Leistung des
Gerichtskostenvorschusses von Fr. 3'000.00 und der Gesuchsgegnerin
eine letzte, nicht erstreckbare Frist bis 17. Juni 2019 zur Erstattung einer
schriftlichen Antwort.
- 3 -
7.
Mit Gesuchsantwort vom 17. Juni 2019 stellte die Gesuchsgegnerin fol-
gende Rechtsbegehren:
" 1. Das Gesuch vom 21. Mai 2019 sei vollumfänglich abzuweisen, soweit eingetreten werden kann.
2. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Gesuchstellerin."
8.
In ihrer (freiwilligen) Stellungnahme vom 28. Juni 2019 stellte die Gesuch-
stellerin folgende Rechtsbegehren:
" 1. Das Grundbuchamt B. sei im Sinne von Art. 961 ZGB einstweilen , zugunsten der Gesuchstellerin ein Bauhandwerkerpfandrecht auf der Liegenschaft, Grundbuchblatt Nr. 53, Liegenschaft, Kataster 130, in der Gemeinde K., für eine Pfandsumme von CHF 119'420.30 Verzugszinsen von 5% ab dem 11. Juni 2019 im Grundbuch ;
2. Die Anweisung sei provisorisch zu verfügen und dem Grundbuchamt zur vorläufigen Eintragung im Grundbuch mitzuteilen.
3. Alles unter Koten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der ."
- 4 -
Der Vizepräsident zieht in Erwägung:
1. Zuständigkeit
1.1.
Bei der vorläufigen Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts handelt
es sich um einen Anwendungsfall des vorsorglichen Rechtsschutzes i.S.v.
Art. 261 ff. ZPO.1 Für den Erlass superprovisorischer und vorsorglicher
Massnahmen ist deshalb das Gericht am Ort, an dem die Zuständigkeit für
die Hauptsache gegeben ist oder am Ort, wo die Massnahme vollstreckt
werden soll, zwingend örtlich zuständig (Art. 13 ZPO). Für Klagen auf Er-
richtung gesetzlicher Pfandrechte ist das Gericht am Ort, an dem das
Grundstück im Grundbuch aufgenommen ist, zuständig (Art. 29 Abs. 1 lit. c
ZPO). Das Grundstück des Gesuchsgegners, auf welchem die Gesuchstel-
lerin ein Bauhandwerkerpfandrecht vorläufig eintragen lassen will, befindet
sich in K. (AG). Die örtliche Zuständigkeit der aargauischen Gerichte ist
gegeben.
1.2.
Die sachliche Zuständigkeit des Einzelrichters am Handelsgericht für den
Erlass superprovisorischer und vorsorglicher Massnahmen ergibt sich aus
Art. 6 Abs. 2 ZPO i.V.m. Art. 6 Abs. 5 ZPO und § 13 Abs. 1 lit. a EG ZPO
AG, da die geschäftliche Tätigkeit mindestens einer Partei betroffen ist, ge-
gen den Entscheid – bei einem behaupteten Streitwert von Fr. 119'420.30
(vgl. Art. 51-53 BGG) – die Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesge-
richt offen steht und die Parteien im schweizerischen Handelsregister ein-
getragen sind.
1.3.
Die Streitsache ist im summarischen Verfahren zu behandeln (Art. 248 lit. a
i.V.m. Art. 249 lit. d Ziff. 5 ZPO).
2. Allgemeine Voraussetzungen der vorläufigen Eintragung
2.1.
Die Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts setzt im Wesentlichen
die Forderung eines Bauhandwerkers oder Unternehmers für die Leistung
von Arbeit und allenfalls von Material zugunsten des zu belastenden
Grundstücks sowie die Wahrung der viermonatigen Eintragungsfrist voraus
(Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 und 839 Abs. 2 ZGB).
2.2.
Die Eintragungsvoraussetzungen sind im Verfahren betreffend vorläufige
Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts lediglich glaubhaft zu ma-
chen. An diese Glaubhaftmachung werden zudem weniger strenge Anfor-
1 BGE 137 III 563 E. 3.3.
- 5 -
derungen gestellt, als es diesem Beweismass für vorsorgliche Massnah-
men (Art. 261 ff. ZPO) sonst entspricht.2 Die vorläufige Eintragung darf nur
verweigert werden, wenn der Bestand des Pfandrechts ausgeschlossen o-
der höchst unwahrscheinlich erscheint. Im Zweifelsfall, bei unklarer Be-
weis- oder Rechtslage, ist die vorläufige Eintragung zu bewilligen und die
Entscheidung dem Richter im ordentlichen Verfahren zu überlassen.3 Letzt-
lich läuft es darauf hinaus, dass der gesuchstellende Unternehmer nur die
blosse Möglichkeit eines Anspruchs auf ein Bauhandwerkerpfandrecht
nachzuweisen hat.4
3. Pfandsumme
3.1. Parteibehauptungen
In ihrem Gesuch vom 21. Mai 2019 behauptet die Gesuchstellerin im Auf-
trag von P.D., für das Grdst.-Nr. 46 GB B. folgende Leistung erbracht zu
haben: "Entsorgung von Aushubmaterial / Material & Transporte" bzw.
"Entsorgung von Inertmaterial inkl. Transport". In ihrer Stellungnahme vom
28. Juni 2019 erweitert die Gesuchstellerin diese Behauptungen wie folgt:
Die Gesuchstellerin und die D. Bau-Group hätten mündlich vereinbart, dass
die Gesuchstellerin das Material des Gebäudeabrisses und des Aushubs
abtransportiere, da die D.-Group selbst nicht über solche Transportfahr-
zeuge verfügt habe. Anfangs sei bei der Gesuchstellerin telefonisch wegen
einer Mulde angefragt worden. Die Zusammenarbeit zwischen der Gesuch-
stellerin und der D. Bau-Group habe funktioniert, weshalb die Materialen
des Abrisses und Aushubs regelmässig abgeholt worden seien, bis
schliesslich der Aushub rund um die Uhr abgeholt worden sei und der Aus-
hub sowie die Entsorgung praktisch eine Einheit gebildet hätten (Stellung-
nahme vom 28. Juni 2019 Rz. 6). Die Entsorgung dieser Baumaterialien sei
eine nicht wegzudenkende Leistung gewesen, um die Aushubarbeiten voll-
ständig zu erfüllen. Da die Werkvertragspartnerin der Gesuchsgegnerin
nicht in der Lage gewesen sei, diese Arbeiten selbständig zu erfüllen, seien
die Leistungen der Gesuchstellerin notwendig gewesen, um den Werkver-
trag zu erfüllen. Die Aushubarbeiten sowie der Abtransport dieses Materials
würden eine funktionelle Einheit bilden (Stellungnahme vom 28. Juni 2019
Rz. 9). Der Standpunkt der Gesuchsgegnerin, dass gemäss vorherrschen-
der Meinung der Lehre ausschliessliche Entsorgungsarbeiten nicht bau-
pfandberechtigt seien, sei falsch. Sofern Abbruch und Entsorgung eine
funktionale Einheit bilden, seien auch Entsorgungsarbeiten pfandberechtigt
(Stellungnahme vom 28. Juni 2019 Rz. 16).
2 BGE 137 III 563 E. 3.3; 86 I 265 E. 3; vgl. auch SCHUMACHER, Das Bauhandwerkerpfandrecht, 3. Aufl.
2008, N. 1394; BSK ZGB II-THURNHERR, 5. Aufl. 2015, Art. 839/840 N. 37. 3 BGE 102 Ia 81 E. 2b.bb; 86 I 265 E. 3; BGer 5A_426/2015 vom 8. Oktober 2015 E. 3.4; 5A_924/2014
vom 7. Mai 2015 E. 4.1.2; SCHUMACHER, Das Bauhandwerkerpfandrecht, Ergänzungsband zur 3. Aufl., 2011, N. 628.
4 SCHUMACHER (Fn. 2), N. 1395.
- 6 -
Die Gesuchsgegnerin stellt sich auf den Standpunkt, dass die von der Ge-
suchstellerin geleisteten Arbeiten nicht baupfandberechtigt seien. Die Ge-
suchstellerin habe lediglich Mulden zur Verfügung gestellt, damit diverses
Baumaterial (Inertstoffe, Holzabfälle, Aushub, Kies, Sand etc.) habe ent-
sorgt werden können. Diese Mulden seien regelmässig von der Gesuch-
stellerin abgeholt und ausgetauscht worden. Dabei handle es sich lediglich
um Entsorgungs- und Abtransportarbeiten. Diese seien für sich alleine nicht
baupfandberechtigt. Die Leistung anderer bauhandpfandberechtigten Leis-
tungen oder die Lieferung von Material, die mit diesen nicht baupfandbe-
rechtigten Arbeiten im Zusammenhang stehen würden, mache die Gesuch-
stellerin nirgends geltend. Die Gesuchstellerin habe daher keinen bauli-
chen Mehrwert geschaffen, der zu einem Bauhandwerkerpfandrecht be-
rechtigen würde (Gesuchsantwort Rz. 5 f.).
3.2. Rechtliches
Pfandberechtigt sind die Forderungen der Handwerker oder Unternehmer,
die auf einem Grundstück zu Bauten oder anderen Werken, zu Abbruchar-
beiten, zum Gerüstbau, zur Baugrubensicherung oder dergleichen Material
und Arbeit oder Arbeit allein geliefert haben (Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB).
Hat ein Unternehmer sowohl Arbeit als auch Material zu liefern, ist beides
bzw. ist die gesamte Vergütungsforderung des Unternehmers pfandbe-
rechtigt, unabhängig davon, ob es sich beim Material um vertret- oder un-
vertretbare Sachen handelt.5 Für blosse Materiallieferungen oder intellek-
tuelle Arbeitsleistungen kann hingegen kein Bauhandwerkerpfandrecht ein-
getragen werden.6 Nicht pfandrechtsberechtigt sind auch Transporte, Ent-
sorgungsarbeiten oder Ladearbeiten für Transporte.7 Werden solche für
sich allein nicht pfandberechtigte Leistungen zusammen mit pfandberech-
tigten Bauarbeiten von ein und demselben Unternehmer erbracht und wenn
sie entweder mit den ohnehin pfandberechtigten Bauarbeiten eine funktio-
nale Einheit bilden oder nebensächliche Leistungen sind, sind sie ebenfalls
pfandberechtigt.8
3.3. Würdigung
Die von der Gesuchstellerin geleisteten Transport- und Entsorgungsarbei-
ten sind für sich allein nicht baupfandberechtigt i.S.v. Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3
ZGB. Die von der Gesuchstellerin behauptete funktionale Einheit zwischen
den Abbruch- bzw. Aushubarbeiten auf dem Grdst.-Nr. 53 GB B. und den
entsprechenden Transport- sowie Entsorgungsarbeiten genügt – selbst
wenn diese bestünde – nicht, um die von ihr ausgeführten Transport- und
Entsorgungsarbeiten als baupfandberechtigt i.S.v. Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3
5 SCHUMACHER (Fn. 2), N. 295. 6 BGE 136 III 6 E. 5.2; vgl. BSK ZGB II-THURNHERR (Fn. 2) Art. 839/840 N. 4. 7 BSK ZGB II-THURNHERR (Fn. 2), Art. 839/840 ZGB N. 6; THURNHERR, ZBGR, 2012, S. 79 f.; SCHU-
MACHER (Fn. 2), N. 326. 8 HGer ZH HE150087 vom 4. Mai 2015 E. 6.3; SCHUMACHER (Fn. 2), N. 327; STREIFF, Das neue
Bauhandwerkerpfandrecht, 2011, S. 39. Vgl. auch BGE 136 III 6 E. 5.3
- 7 -
ZGB zu qualifizieren, da die Arbeitsleistungen nicht von ein und demselben
Unternehmer erbracht worden sind.
Die von der Gesuchstellerin zu Gunsten von P.D. bzw. der D. Group ge-
leisteten Transport- und Entsorgungsarbeiten sind daher nicht pfandbe-
rechtigt. Der Bestand des beantragten Pfandrechts ist ausgeschlossen.
Das Gesuch um vorläufige Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts
auf dem Grdst.-Nr. 53 GB B. zu Gunsten der Gesuchstellerin ist daher ab-
zuweisen.
4. Prozesskosten
Die Prozesskosten, bestehend aus Gerichtskosten und Parteientschädi-
gung, werden der unterliegenden Partei auferlegt (Art. 95 Abs. 1 und
Art. 106 Abs. 1 ZPO). Ausgangsgemäss sind sie von der Gesuchstellerin
zu tragen.
4.1.
Unter Berücksichtigung des verursachten Aufwands sowie des Umfangs
der Streitigkeit werden die Gerichtskosten auf Fr. 3'000.00 festgesetzt (§ 8
VKD; SAR 221.150). Gestützt auf Art. 111 Abs. 1 Satz 1 ZPO werden sie
vorab mit dem von der Gesuchstellerin geleiseten Gerichtskostenvor-
schuss in Höhe von Fr. 3'000.00 verrechnet.
4.2.
Die Gesuchstellerin hat Gesuchsgegnerin zudem eine Parteientschädi-
gung zu bezahlen (Art. 106 Abs. 1 ZPO). Die Parteientschädigung wird
nach dem Streitwert – vorliegend Fr. 119'420.30 – bemessen (vgl. § 3
AnwT; SAR 291.150). Ausgehend von einer Grundentschädigung von
Fr. 14'817.85 (§ 3 Abs. 1 lit. a Ziff. 9 AnwT) resultiert nach Vornahme eines
Summarabzugs von 75 % (§ 3 Abs. 2 AnwT) ein Betrag von Fr. 3'704.45.
Damit sind insbesondere eine Rechtsschrift und die Teilnahme an einer
behördlichen Verhandlung abgegolten (vgl. § 6 Abs. 1 AnwT). Nach einem
weiteren Abzug von 20 % wegen der nicht durchgeführten Verhandlung (§
6 Abs. 2 AnwT) resultiert ein Betrag in Höhe von Fr. 2'963.55. Nach Hinzu-
rechnung einer Auslagenpauschale (§ 13 Abs. 1 AnwT) von praxisgemäss
3 % resultiert ein Betrag in Höhe von gerundet Fr. 3'050.00, den die Ge-
suchstellerin der Gesuchsgegnerin als Parteientschädigung zu bezahlen
hat. Ein Mehrwertsteuerzuschlag entfällt bereits mangels Antrags (vgl. Art.
58 Abs. 1 ZPO).
- 8 -
Der Vizepräsident erkennt:
1.
Das Gesuch vom 21. Mai 2019 wird abgewiesen.
2.
2.1.
Die Gerichtskosten in Höhe von Fr. 3'000.00 sind von der Gesuchstellerin
zu tragen und werden mit dem von ihr geleisteten Gerichtskostenvorschuss
in Höhe von Fr. 3'000.00 verrechnet.
2.2.
Die Gesuchstellerin hat der Gesuchsgegnerin deren Parteikosten in rich-
terlich festgesetzter Höhe von Fr. 3'050.00 (inkl. Auslagen) zu ersetzen.
Zustellung an:
die Gesuchstellerin
die Gesuchsgegnerin (Vertreter; zweifach mit Kopie der Stellung-
nahme vom 28. Juni 2019)
Rechtsmittelbelehrung für die Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 ff.,
Art 90 ff. BGG)
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen, von der schriftlichen Eröff-
nung der vollständigen Ausfertigung des Entscheids an gerechnet, die Be-
schwerde an das Schweizerische Bundesgericht erhoben werden.
Die Beschwerde ist schriftlich oder in elektronischer Form beim Schweize-
rischen Bundesgericht einzureichen. Die Beschwerdeschrift ist in einer
Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit An-
gabe der Beweismittel und die Unterschriften bzw. eine anerkannte elekt-
ronische Signatur zu enthalten. In der Begründung ist in gedrängter Form
darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid verfassungsmässige
Rechte (Art. 98 ff. BGG) verletzt. Die Urkunden, auf die sich die Partei als
Beweismittel beruft, sind beizulegen, soweit die Partei sie in den Händen
hat; ebenso ist der angefochtene Entscheid beizulegen (Art. 42 BGG).
- 9 -
Aarau, 2. Juli 2019
Handelsgericht des Kantons Aargau
2. Kammer
Der Vizepräsident: Der Gerichtsschreiber:
Vetter Schneuwly | 3,806 | 2,747 | AG_HG_002 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_002_-Handelsrecht-Bauhan_2019-07-02 | https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/gesetze___entscheide/gesetze_2/handelsrecht/Entscheid_des_Handelsgerichts_vom_2._Juli_2019.pdf | null | nan |
||
8311692d-c70b-5aa2-973a-bf6b495a1989 | 1 | 417 | 871,633 | 1,326,153,600,000 | 2,012 | de | 2012
Strafprozessrecht
55
V. Strafprozessrecht
8
Art. 382 StPO
-
Die Frage der Verwertbarkeit von Verfahrenshandlungen bzw. Be-
weisabnahmen ist Bestandteil der richterlichen Beweiswürdigung.
Sachlich zuständig zur Beurteilung dieser Frage sind das ordentliche
Gericht im Hauptverfahren sowie allenfalls in der Folge das Beru-
fungsgericht. Die Beschwerdekammer ist jedoch unzuständig
(E.2.2.).
-
Auf eine Beschwerde kann nur eingetreten werden, sofern und so-
lange der Beschwerdeführer ein rechtlich geschütztes Interesse an
der Aufhebung oder Änderung eines Entscheides hat. Verneint, so-
lange ohne Rechtsnachteil direkt bei der verfahrensleitenden Staats-
anwaltschaft die Wiederholung einer Einvernahme unter Wahrung
der Teilnahmerechte sowie im Zusammenhang mit einem Gutachten
Stellungnahmen eingereicht und Ergänzungsfragen beantragt wer-
den können (E. 2.3.3.2.).
Aus dem Entscheid des Obergerichts, Beschwerdekammer in Strafsachen,
vom 10.
Januar 2012 i.S. I. S. gegen Staatsanwaltschaft Rheinfelden-
Laufenburg (SBK.2011.255)
Aus den Erwägungen
2.
2.1.
In Ziffer 2 der Beschwerde stellt die Beschwerdeführerin den
Antrag, dass sämtliche bereits ergangenen Verfahrenshandlungen
bzw. Beweisabnahmen für nicht verwertbar zu erklären bzw. zu wie-
derholen seien.
2012
Obergericht
56
2.2.
Die Frage der Verwertbarkeit von Verfahrenshandlungen bzw.
Beweisabnahmen ist Bestandteil der richterlichen Beweiswürdigung
und fällt somit auf den Zeitpunkt der Ausfällung des Sachurteils
durch das Gericht. Sachlich zuständig zur Beurteilung dieser Frage
ist folglich in erster Linie das erstinstanzliche Gericht im Hauptver-
fahren sowie allenfalls in der Folge das Berufungsgericht. Auch
diesbezüglich ist daher auf die Beschwerde nicht einzutreten.
2.3.
[...]
2.3.2.
Es trifft zu, dass die Staatsanwaltschaft im Laufe des Strafver-
fahrens verschiedene Verfahrensgrundsätze verletzt hat. Insbesondere
wurde der Beschwerdeführerin vor der Erteilung des Expertisenauf-
trags vom 5. September 2011 an das Strassenverkehrsamt des Kan-
tons Aargau sowie des Gutachterauftrags vom 19. September 2011 an
die Universität Bern, Institut für Rechtsmedizin, keine Gelegenheit
zur Stellungnahme gewährt und damit der von Art. 184 Abs. 3 StPO
garantierte Anspruch auf rechtliches Gehör missachtet. Weiter wurde
das vom 8. September 2011 datierte Ergebnis des Expertisenauftrags
an das Strassenverkehrsamt der Beschwerdeführerin nicht zur
Stellungnahme zugestellt, wie dies Art. 188 StPO von der Verfah-
rensleitung verlangt. Schliesslich wurde auch das der Beschwerde-
führerin zustehende Teilnahmerecht gemäss Art. 312 Abs. 2 i.V.m.
Art. 147 Abs. 1 StPO verletzt, da die Beschwerdeführerin nicht über
die geplante Einvernahme der Mutter der Beschwerdeführerin am
26. September 2011 orientiert wurde und in der Folge nicht daran
teilnehmen konnte.
2.3.3.
2.3.3.1.
Unabhängig von der materiellen Beurteilung kann jedoch nur
auf eine Beschwerde eingetreten werden, sofern und solange die
Beschwerdeführerin ein rechtlich geschütztes Interesse an der Auf-
hebung oder Änderung eines Entscheides hat (Art. 382 Abs. 1 StPO).
Vorausgesetzt ist dabei, dass die betreffende Person durch die ange-
fochtene Verfahrenshandlung unmittelbar in ihren Rechten betroffen,
2012
Strafprozessrecht
57
d.h. beschwert ist (L
IEBER
, in: Kommentar zur Schweizerischen
Strafprozessordnung (StPO), Zürich 2010, N. 7 zu Art. 382 StPO;
S
CHMID
, Handbuch des Schweizerischen Strafprozessrechts, 2009,
Rz. 1458). Die Beschwer muss im Zeitpunkt des Rechtsmittelent-
scheides noch gegeben sein; es sei denn, es besteht ein öffentliches
Interesse an der Beurteilung des Rechtsmittels, weil sich in Zukunft
wieder eine ähnliche Situation ergeben könnte, ohne dass im Einzel-
fall rechtzeitig eine richterliche Prüfung möglich wäre (Z
IEGLER
, in:
Basler Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2011,
N. 2 zu Art. 382 StPO; L
IEBER
, a.a.O., N. 13 zu Art. 382 StPO;
S
CHMID
, a.a.O.).
2.3.3.2.
Vorliegend ist die Aktualität des Rechtsschutzinteresses vollum-
fänglich zu verneinen, da die anwaltlich vertretene Beschwerdeführe-
rin jederzeit bei der Staatsanwaltschaft ihre vor der obergerichtlichen
Beschwerdekammer in Strafsachen gestellten Anträge ohne Rechts-
nachteil wiederholen kann. Namentlich steht es ihr offen, die
Stellung von Ergänzungsfragen zu den Gutachten zu beantragen
(worauf sie die Staatsanwaltschaft hinsichtlich des Gutachterauftrags
vom 19.
September
2011 auch bereits hingewiesen hat) sowie
Stellung zum Ergebnis des Strassenverkehrsamts des Kantons Aar-
gau zu nehmen. Ebenfalls besteht die Möglichkeit, die Wiederholung
der Einvernahme der Mutter der Beschwerdeführerin unter Wahrung
der Teilnahmerechte zu verlangen. Schliesslich ist ein aktuelles
Rechtsschutzinteresse auch bei der von der Beschwerdeführerin ge-
rügten verweigerten Akteneinsicht zu verneinen, da die fraglichen
Akten der Beschwerdeführerin unbestrittenermassen mit Schreiben
der Staatsanwaltschaft vom 19. September 2011 zugestellt wurden.
Da zudem keine Anzeichen ersichtlich sind, wonach die Vorausset-
zungen für ein ausnahmsweises Absehen vom Erfordernis des ak-
tuellen Rechtsschutzinteresses vorliegen könnten, ist auch auf den
Antrag um Wiederholung von Verfahrenshandlungen bzw. Beweis-
abnahmen nicht einzutreten. | 1,164 | 917 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2012-8_2012-01-10 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2012-8.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2012-8.pdf | AGVE_2012_8 | null | nan |
83b10527-55d1-5ee5-b972-daa29f565d41 | 1 | 417 | 871,871 | 1,346,716,800,000 | 2,012 | de | 2012
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
27
I. Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
1
Art. 80 Abs. 2 Ziff. 2 SchKG. Definitive Rechtsöffnung gestützt auf von
der Vormundschaftsbehörde genehmigte Unterhaltsverträge (Praxisände-
rung).
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 4. Zivilkammer, vom 26. September
2012 in Sachen Einwohnergemeinde der Stadt Thun gegen S. F.
(ZSU.2012.222)
Aus den Erwägungen
2.3.
Indessen ist als Rechtsfrage unabhängig von den Anträgen der
Parteien von Amtes wegen zu entscheiden, ob definitive oder provi-
sorische Rechtsöffnung zu erteilen ist (Art. 57 ZPO; AGVE 2005
Nr. 5 S. 35 Erw. 4b). Ist definitive Rechtsöffnung verlangt worden,
kann provisorische bewilligt werden und umgekehrt kann definitive
Rechtsöffnung bewilligt werden, wenn provisorische verlangt wor-
den ist (Staehelin, in: Staehelin/Bauer/Staehelin [Hrsg.], Basler
Kommentar, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs I,
2. Aufl. 2010, Art. 84 N. 39). In dieser Frage gilt von Bundesrechts
wegen die Offizialmaxime (Staehelin, a.a.O., Art. 84 N. 38) und der
Richter hat diejenige Rechtsöffnung zu erteilen, welche dem Titel
entspricht (Stücheli, Die Rechtsöffnung, Diss. 2000, S. 126). Vor In-
krafttreten der Schweizerischen Zivilprozessordnung und der damit
einhergehenden Änderung von Art. 80 SchKG berechtigten von der
Vormundschaftsbehörde genehmigte Unterhaltsverträge nicht zur
definitiven Rechtsöffnung, weil die Vormundschaftsbehörde keine
gerichtliche Instanz ist und der Wortlaut von altArt. 80 Abs. 2 Ziff. 3
SchKG nur Verfügungen kantonaler Verwaltungsbehörden über
öffentlich-rechtliche Verpflichtungen den gerichtlichen Entscheiden
2012
Obergericht
28
gleichgestellt hatte (AGVE 2002 Nr. 7 S. 49; Stücheli, a.a.O., S. 259
f.). Mit dem neuen Art. 80 Abs. 2 Ziff. 2 SchKG wurden alle Verfü-
gungen schweizerischer Verwaltungsbehörden den gerichtlichen Ent-
scheiden gleichgestellt, auch wenn sie zivilrechtliche Verpflichtun-
gen betreffen. Folglich kann unter neuem Recht auch bei von der
Vormundschaftsbehörde genehmigten Unterhaltsverträgen definitive
Rechtsöffnung erteilt werden (Staehelin, a.a.O., Art. 80 N. 24). Inso-
weit ist der angefochtene Entscheid nicht zu beanstanden. | 545 | 411 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2012-1_2012-09-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2012-1.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2012-1.pdf | AGVE_2012_1 | null | nan |
852ed8b9-7da1-5cbd-bfec-e13a2f39f22a | 1 | 417 | 871,830 | 1,165,104,000,000 | 2,006 | de | 2007
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
29
II. Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
3
§ 80 ff. SchKG; Rechtsöffnung
Der Rechtsöffnungsrichter darf nur dann von einer ordnungsgemässen
Eröffnung des dem Rechtsöffnungsverfahren zugrundeliegenden Ent-
scheides ausgehen, wenn nicht Umstände vorliegen, welche die Annahme
einer solchen ausschliessen. Massgebend ist dabei der rechtzeitig einge-
brachte Sachverhalt.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 3. Zivilkammer, vom 18. Dezember
2006, i.S. A., E.E. ca. A.P.
Aus den Erwägungen
2.1. (...) Ist der Beklagte mit der Antwort im erstinstanzlichen
Verfahren säumig, stellt sich die Frage, wie der Rechtsöffnungsrich-
ter dieses Verhalten prozessrechtlich zu würdigen hat und welche
Konsequenzen sich daraus insbesondere für die Frage der ordnungs-
gemässen Eröffnung des der Rechtsöffnung zugrundeliegenden Ent-
scheides ergeben. Die Folgen der Säumnis richten sich dabei nach
kantonalem Prozessrecht (Stücheli, Die Rechtsöffnung, Zürich 2000,
S. 141). Nach § 296 ZPO (§ 301 ZPO i.V.m. § 23 EG SchKG) ist
grundsätzlich anzunehmen, dass der Beklagte die Sachdarstellung
des Klägers anerkennt und auf Einreden verzichtet. Voraussetzung
für den Eintritt der Säumnisfolgen ist, dass diese dem Beklagten
angedroht wurden. Die Säumnisfolge besteht sodann nicht etwa
darin, dass das Begehren des Klägers unbesehen zugesprochen wird;
die Rechtsanwendung erfolgt von Amtes wegen (Bühler/Edelmann/
Killer, Kommentar zur Aargauischen Zivilprozessordnung, Aarau
1998, N 1 zu § 296 ZPO). Der Rechtsöffnungsrichter hat daher von
Amtes wegen das Vorliegen eines tauglichen Titels zu prüfen (Stü-
cheli, a.a.O., S. 141). Er darf bei Säumigkeit des Beklagten nur dann
2007
Obergericht/Handelsgericht
30
von der ordnungsgemässen Eröffnung des Entscheides ausgehen,
wenn nicht Umstände vorliegen, welche die Annahme einer solchen
ausschliessen.
2.2. Mit Verfügung vom 22. August 2006, die dem Beklagten
am 24. August 2006 zugegangen ist, wurde dieser im vorinstanzli-
chen Verfahren aufgefordert, innert zehn Tagen eine schriftliche Stel-
lungnahme zum Rechtsöffnungsbegehren einzureichen mit der An-
drohung, dass im Falle der Säumnis Anerkennung der Sachdarstel-
lung des Klägers und Verzicht auf Einreden angenommen werde. Der
Beklagte liess sich erst mit am 6. September 2006 der Post überge-
bener Eingabe vom 4. September 2006 und damit verspätet verneh-
men. In seiner Stellungnahme machte er geltend, die Steuerveranla-
gung 2003, für welche die Kläger vorliegend Rechtsöffnung verlan-
gen, sei weder ihm noch seinem Steuervertreter zugestellt worden.
Der Einwand des Beklagten, die Steuerveranlagung 2003 sei
ihm nicht zugestellt worden, erfolgte verspätet und kann nicht mehr
berücksichtigt werden. Die Vorinstanz durfte bei dieser Sachlage da-
von ausgehen, die Zustellung sei erfolgt, nachdem aus dem rechtzei-
tig eingebrachten Sachverhalt keine Umstände ersichtlich sind, wel-
che auf eine mangelhafte Eröffnung des Entscheides schliessen las-
sen. | 709 | 538 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2007-3_2006-12-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2007-3.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2007-3.pdf | AGVE_2007_3 | null | nan |
86ce8ba7-1545-5098-8008-1f49c2f64af6 | 1 | 417 | 870,639 | 1,003,968,000,000 | 2,001 | de | 2001
Zivilprozessrecht
49
III. Zivilprozessrecht
A. Zivilprozessordnung
9
§§ 16 und 19 ZPO; §§ 3 Abs. 1 und 4 AnwT. Bemessung des Grundhono-
rars in Scheidungssachen.
- Der in der Klage respektive Widerklage festgelegte Streitwert bleibt
grundsätzlich für das ganze Verfahren massgebend, unabhängig da-
von, ob die Parteien in dessen Verlauf eine Scheidungskonvention ab-
schliessen.
Aus dem Entscheid der Inspektionskommission vom 25. Oktober 2001.
Aus den Erwägungen
3. In seiner Beschwerde vom 7. März 2001 beantragt der Be-
schwerdeführer die Zusprechung eines (streitwertabhängigen) Hono-
rars von total Fr. 14'015.85 statt des angewiesenen Honorars von
Fr. 5'297.--. Strittig und im vorliegenden Verfahren vorab zu prüfen
ist die Frage, ob es sich vorliegend um eine vermögensrechtliche
Streitsache gemäss § 3 Abs. 1 lit. a AnwT oder um eine solche ohne
vermögensrechtliche Wirkungen gemäss § 3 Abs. 1 lit. b AnwT
handelt.
a) Familienrechtliche Prozesse, wie eine Scheidungsklage, sind
grundsätzlich nicht vermögensrechtliche Angelegenheiten (Hab-
scheid Walther, Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorgani-
sationsrecht, 2.A. Basel 1990, N. 783). Aus einer familienrechtlichen
Beziehung kann ein Vermögensrecht entstehen, welches als Neben-
folge des Gestaltungsurteils geregelt wird, wie der Unterhaltsan-
spruch oder die güterrechtlichen Ansprüche. Der aargauische An-
waltstarif sieht in § 3 Abs. 1 lit. d ausdrücklich vor, dass die Festset-
zung familienrechtlicher Unterhalts- und Unterstützungsbeiträge als
nicht vermögensrechtliche Streitsache gilt, währenddem für güter-
2001
Obergericht/Handelsgericht
50
rechtliche Ansprüche lit. a und c zur Anwendung kommen, wonach
sich das Honorar nach dem Streitwert bemisst.
b) Gemäss § 4 Abs. 1 AnwT sowie § 16 und 19 ZPO bestimmt
sich der Streitwert grundsätzlich nach den gestellten Begehren in der
Klage respektive Widerklage (Guldener M., Schweizerisches Zivil-
prozessrecht, 3. A. Zürich 1979, S. 109 f.). Vorliegend verlangten
beide Parteien in ihren Rechtsbegehren, es sei die güterrechtliche
Auseinandersetzung vorzunehmen, ohne hierzu konkrete Anträge zu
stellen (Klagebegehren, Ziff. 7 / Widerklagebegehren Ziff. 7). Daraus
darf nicht ohne weiteres geschlossen werden, dass keine vermögens-
rechtliche Streitsache vorliegt, geht doch sowohl aus den Anträgen
als auch den Ausführungen in Klage und Widerklage eindeutig her-
vor, dass beide Parteien güterrechtliche Ansprüche erhoben und diese
streitig waren.
c) Die Vorinstanz vertritt im Weiteren die Ansicht, aufgrund des
Abschlusses einer Scheidungskonvention zwischen den Parteien,
worin sie sich als beim damaligen Besitzstand güterrechtlich ausein-
andergesetzt erklärten, sei die vermögensrechtliche Natur der Streit-
sache vorliegend entfallen. Wie oben ausgeführt, ist für die Streit-
wertberechnung auf die in der Klage respektive Widerklage gestell-
ten Begehren abzustellen. Der damit festgelegte Streitwert bleibt
grundsätzlich für den ganzen Prozess massgebend, Teilanerkennun-
gen, -rückzüge oder -vergleiche sind ohne Einfluss auf die Streit-
wertberechnung (Bühler/Edelmann/Killer, Kommentar zur aargaui-
schen Zivilprozessordnung, Aarau/Frankfurt a.M./Salzburg 1998,
N 6 zu §§ 16/17). Dies entspricht auch dem Sinn von § 4 Abs. 1
AnwT, der auf die beim Prozessbeginn gestellten Begehren abstellt.
Somit kann es für die Streitwertberechnung nicht darauf ankommen,
ob die Parteien sich im Verlauf des Prozesses über die streitigen An-
sprüche einigen. Mit Ziff. 6 der Scheidungskonvention (act. 93) er-
klärten die Parteien denn auch lediglich, dass sie sich über ihre güter-
rechtlichen Ansprüche geeinigt haben, und nicht, dass diese nicht
bestanden hätten, weil nichts (mehr) zu teilen gewesen wäre.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es sich vorliegend um
eine vermögensrechtliche Streitsache handelt und das Honorar des
2001
Zivilprozessrecht
51
Beschwerdeführers sich demgemäss grundsätzlich nach dem Streit-
weit berechnet, unter Vorbehalt von § 3 Abs. 1 lit. c AnwT. | 939 | 724 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2001-9_2001-10-25 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-9.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-9.pdf | AGVE_2001_9 | null | nan |
89279ce6-77df-57c8-b5d9-5c37c6aca8c0 | 1 | 417 | 870,341 | 1,253,145,600,000 | 2,009 | de | 2009
Anwaltsrecht
51
[...]
8
Art. 12 lit. a BGFA
Verbot des Direktkontakts mit anwaltlich vertretener Gegenpartei; gilt
nicht absolut, sondern ist unter Würdigung aller Umstände zu handha-
ben. Zulässigkeit des Direktkontakts, wenn Gegenpartei Kontakt selber
sucht sowie bei anderen triftigen Gründen, z.B. bei zeitlicher Dringlich-
keit.
Entscheid der Anwaltskommission vom 17. September 2009 i.S. W.
(AVV.2009.18). | 112 | 85 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2009-8_2009-09-17 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2009-8.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2009-8.pdf | AGVE_2009_8 | null | nan |
8a643737-ffc2-52ba-9674-e63161342720 | 1 | 417 | 870,458 | 1,348,617,600,000 | 2,012 | de | 2012
Obergericht
38
[...]
5
§ 14 EG BGFA
Kostenauflage zu Lasten Anzeiger bei mutwilliger Anzeige:
-
Kostenauflage bei Anzeige gegen einen am Verfahren offensichtlich
nicht (mehr) beteiligten Anwalt.
-
Mutwillige Prozessführung liegt vor, wenn der Anzeiger die Anzeige
auf einen Sachverhalt abstützt, von dem er weiss oder bei zumutba-
rer Sorgfalt wissen müsste, dass er unzutreffend ist. Erhebung einer
aussichtslosen Beschwerde stellt für sich noch keine mutwillige Be-
schwerdeführung dar, es bedarf eines zusätzlichen subjektiven, ta-
delnswerten Elementes.
Entscheide der Anwaltskommission vom 26. September 2012 (AVV.2012.3
und AVV.2012.4 | 155 | 123 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2012-5_2012-09-26 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2012-5.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2012-5.pdf | AGVE_2012_5 | null | nan |
8ac18bbd-10da-5098-9218-64418f0f709e | 1 | 417 | 870,087 | 1,049,328,000,000 | 2,003 | de | 2003
Zivilrecht
35
C. Nachbarrecht
5
§ 88 f. EG ZGB; Nachbarrecht; Abstandsvorschriften
Messweise: Bei Hanglagen ist die Pflanzenhöhe stets vom ursprünglich
gewachsenen Terrain am Standort der Pflanze aus zu messen (Erw. 1/b;
Präzisierung von AGVE 1956 Nr. 5 S. 30).
Rechtsschutzinteresse: Der Nachbar kann ohne Nachweis einer
Überschreitung der zulässigen Höhe nicht generell verpflichtet werden,
seine Pflanzen unter der Schere zu halten (Erw. 1/d).
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 3. Zivilkammer, vom 28. April 2003,
i.S. D.E. ca. B. u. G.B.
Aus den Erwägungen:
1. b) Im Kanton Aargau sind die je nach Pflanzenhöhe
unterschiedlichen Abstandsvorschriften für Bäume und Hecken in
den §§ 88 und 89 EGZGB statuiert. Aus deren Wortlaut ergibt sich
nicht ausdrücklich, ob für die Bestimmung der Höhe einer Pflanze
das tatsächliche Bodenniveau oder das mutmassliche Niveau des
ursprünglich gewachsenen Bodens relevant ist und ob auch ein
allfälliger Niveauunterschied zwischen den Grundstücken zu be-
rücksichtigen ist. Auch aus den einschlägigen Materialien (Botschaft
des Regierungsrates an den Grossen Rat von 1910, 1. und 2.
Beratung des Grossen Rates von 1910 und 1911, Grossratsprotokoll
von 1910) ergibt sich nichts dazu.
Die Lehre und Rechtsprechung behandeln die Frage kontrovers:
Nach herrschender Meinung ist die Höhe einer Pflanze nur dann von
ihrem Fuss aus zu messen, wenn es sich um natürlich gewachsenen
Boden handelt. Wurde der Boden dagegen künstlich aufgeschüttet,
soll nicht das aufgeschüttete, sondern das mutmassliche Niveau des
ursprünglich gewachsenen Bodens am Standort der Pflanze
massgebend sein. Die Höhe der künstlichen Aufschüttung wird somit
2003
Obergericht/Handelsgericht
36
zur Höhe der Pflanze hinzugerechnet (PKG 1996 Nr. 16; Roos,
Pflanzen im Nachbarrecht, Zürich 2002, S. 204 m.w.H.; a.A. EGVSZ
1990 S. 124, wo die Höhe vom aufgeschütteten Terrain aus gemessen
wurde). Auch die in AGVE 1956 Nr. 5 S. 30 vertretene Auffassung,
wonach die Pflanzenhöhe vom gewachsenen Boden des angrenzen-
den Grundstückes aus zu messen ist, wenn der Nachbar seinen
Garten durch Aufschüttungen erhöht und auf dem aufgeschütteten
Boden einen Grünhag an die Grenze gesetzt hat, folgt diesem Ansatz.
An dieser Praxis ist im Grundsatz festzuhalten. Die Regeste von
AGVE 1956 Nr. 5 S. 30 bedarf aber insofern der Präzisierung, als sie
ausführt, die Pflanzenhöhe sei vom Boden des Nachbargrundstückes
aus zu messen. Im damals beurteilten Fall trennte die Aufschüttung
mit der darauf gepflanzten Hecke zwei benachbarte Grundstücke
ohne natürliche Niveauunterschiede. Aus Praktikabilitätsgründen
konnte daher die Pflanzenhöhe vom Nachbargrundstück aus gemes-
sen werden, da dieses das ursprüngliche Bodenniveau widerspiegel-
te. Diese Messweise lässt sich aber nicht auf Hanglagen übertragen,
da ansonsten die natürlichen Niveauunterschiede unberücksichtigt
blieben. Bei Hanglagen ist die Pflanzenhöhe daher stets vom
ursprünglich gewachsenen Terrain am Standort der Pflanze aus zu
messen (so auch Roos, a.a.O., S. 203; PKG 1996 Nr. 16). Andernfalls
wäre es ein Leichtes, die kantonalen Abstandsvorschriften zu
umgehen. Die Handhabung dieser Lösung dürfte auch keine unüber-
windbaren Schwierigkeiten bereiten, da das natürlich gewachsene
Terrain häufig in Bauplänen ausgewiesen oder anhand der Um-
gebung zu schätzen ist (vgl. Roos, a.a.O., S. 206). Anzumerken
bleibt, dass dem Kläger der Nachweis eines für ihn günstigeren
Terrainverlaufs obliegt.
(...)
d) Die Vorinstanz hat die Beklagten verpflichtet, die Föhren auf
der Böschung ihres Grundstückes jeweils auf das gesetzliche Mass
zurückzuschneiden, obwohl sie (...) zum Schluss kam, es liege keine
Verletzung der nachbarrechtlichen Grenzabstandsvorschriften vor.
Die Beklagten generell - d.h. ohne Vorliegen einer konkret zu beseiti-
genden Überschreitung der Maximalhöhe - zu verpflichten, die Föh-
ren und den Busch unter der Schere zu halten, ist aber mangels
2003
Zivilrecht
37
Rechtsschutzinteresses nicht zulässig. Der Kläger hat keinen An-
spruch auf eine solche richterliche Anweisung an die Beklagten,
wenn sich diese bislang rechtskonform verhalten haben. | 959 | 774 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2003-5_2003-04-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-5.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-5.pdf | AGVE_2003_5 | null | nan |
8b215444-e581-529b-bca1-6e99daf53bd2 | 1 | 417 | 869,851 | 1,024,444,800,000 | 2,002 | de | 2002
Strafprozessrecht
95
[...]
32
Ablehnungsbegehren
Wird ein offensichtlich unbegründetes Ablehnungsbegehren gegen das
gesamte Obergericht gestellt, so kann die Verwaltungskommission na-
mens des Obergerichts selber den Nichteintretensentscheid erlassen.
Aus dem Entscheid der Verwaltungskommission vom 19. Juni 2002 i.S. R.
gegen das Obergericht des Kantons Aargau
Aus den Erwägungen
2. a) Wird von einer Partei im Rahmen eines Strafverfahrens
ein Ablehnungsgrund gegen eine Mehrzahl von Oberrichtern einer
Kammer oder Kommission geltend gemacht, so entscheidet gemäss
§ 43 Abs. 3 Ziff. 3 StPO i.V.m. § 36 Abs. 2 lit. a GOD über den Aus-
2002
Obergericht/Handelsgericht
96
tritt die Verwaltungskommission des Obergerichtes. Soweit sich das
Ablehnungsbegehren des Gesuchstellers gegen die Beschwerdekam-
mer in Strafsachen richtet, ist die Verwaltungskommission zu dessen
Beurteilung gesetzlich zuständig.
b) Wird, wie vorliegend, das ganze Obergericht in corpore ab-
gelehnt, so kann das diesbezügliche Ausstandsgesuch im Prinzip
nicht durch die vom Ablehnungsbegehren betroffenen Mitglieder des
Obergerichts behandelt werden (vgl. § 43 Abs. 4 StPO). Gemäss Ei-
chenberger (Rechtsgutachten über Fragen der Ablehnung des gesam-
ten Obergerichts des Kantons Aargau in Strafsachen, Februar 1998,
S. 23) ist allerdings nicht auszuschliessen, dass das ordentliche Ge-
samtgericht selbst eine Ablehnung verwirft, falls sich diese (zufolge
Willkür, Unernst, Überempfindlichkeit, Verfolgungsdrang, Verzöge-
rungstaktik oder Ähnlichem) als vollkommen unernst und rechts-
missbräuchlich erweist, sodass die Bremsung des geradlinigen Ver-
laufs der Justiz durch die Konstituierung einer ad-hoc-Richterbank
unerträglich würde.
c) Auch das Bundesgericht hat in BGE 105 Ib 303 f. festge-
stellt, dass Ausstandsbegehren nicht zur vorläufigen Ausschaltung
der Rechtspflege und damit Lahmlegung der Justiz missbraucht wer-
den dürften. Ein derartiges Ablehnungsbegehren sei unzulässig, wes-
halb es an einer Voraussetzung für die Durchführung des Ausstands-
verfahrens fehle. Da dieser Entscheid keiner Ermessensausübung be-
dürfe, könne die in der Sache zuständige Gerichtsabteilung selbst
feststellen, dass keine nach Massgabe des Gesetzes geeigneten Aus-
standsgründe geltend gemacht würden und dass damit die Eintretens-
voraussetzung für ein Ausstandsverfahren fehle. Dieser Abteilung
könnten zudem auch Richter angehören, die vom Ablehnungsbegeh-
ren betroffen seien.
3. (...)
c) Somit kann festgestellt werden, dass ein tauglicher Ableh-
nungsgrund gar nicht glaubhaft vorgebracht wurde. Angesichts der
offensichtlichen Haltlosigkeit des Ablehnungsbegehrens muss dessen
Geltendmachung, vor allem gegenüber dem gesamten Obergericht,
geradezu als rechtsmissbräuchlich angesehen werden, weshalb dar-
auf nicht einzutreten ist. In BGE 105 Ib 304 erachtet es das Bundes-
2002
Strafprozessrecht
97
gericht als zulässig, dass ein Gesamtgericht (in jenem Fall das Bun-
desgericht selbst) über ein es selbst betreffendes Ablehnungsbegeh-
ren entscheiden kann, wenn dieses sich als missbräuchlich erweist,
weil keine geeigneten Ausstandsgründe geltend gemacht werden (...).
Wurde das Ablehnungsbegehren in BGE 105 Ib 301 ff. als in diesem
Sinn untauglich angesehen, weil es einzig darauf beruhte, dass das
Bundesgericht beziehungsweise eine seiner Abteilungen schon zuvor
in einer Sache des Gesuchstellers geurteilt hatte, ohne dass zusätzli-
che Ausstandsgründe vorgebracht worden wären, so muss dies umso
mehr auf den vorliegenden Fall zutreffen, in dem die mit der Be-
schwerde befasste Kammer nicht vorbefasst ist und nicht einmal gel-
tend gemacht wird, sie sei befangen wegen eines früheren Beschwer-
deverfahrens. Es drängt sich die Vermutung auf, dass die Ablehnung
des gesamten Obergerichts im Rahmen des Beschwerdeverfahrens
einzig bezweckt, das Obergericht als Beschwerdeinstanz auszuschal-
ten und damit die Aargauer Justiz lahm zu legen. Aufgrund des Ob-
gesagten ist es demzufolge zulässig, dass die Verwaltungskommis-
sion namens des Obergerichts im Sinn der obgenannten Bundesge-
richtspraxis selbst den Nichteintretensentscheid erlässt. | 921 | 708 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2002-32_2002-06-19 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-32.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-32.pdf | AGVE_2002_32 | null | nan |
8bd0b8ac-ebd2-538a-8ebf-2bda2be23efc | 1 | 417 | 870,149 | 1,057,881,600,000 | 2,003 | de | 2003
Zivilprozessrecht
55
III. Zivilprozessrecht
A. Zivilprozessordnung
12 Ablehnung,
Befangenheit
Die Strafanzeige eines Prozessbeteiligten gegen einen Richter oder
Spruchkörper begründet nicht ohne weiteres dessen bzw. deren Befan-
genheit. Andernfalls hätte es eine Prozesspartei in der Hand, ihr misslie-
bige Richter auch ohne Vorliegen eines Ausschlussgrundes faktisch aus-
zuschliessen.
Aus dem Entscheid der Inspektionskommission vom 11. Juli 2003 i.S. H. A.
c. Gerichtspräsidium B.
Aus den Erwägungen:
3. Vorliegend begründet der Gesuchsteller sein Ablehnungsge-
such mit der von ihm gegen die Vizepräsidentin eingereichten Straf-
anzeige.
a) Die Strafanzeige eines Prozessbeteiligten gegen einen Rich-
ter oder Spruchkörper begründet, ebenso übrigens wie ein Aufsichts-
anzeige bei der Inspektionskommission, nicht ohne weiteres dessen
bzw. deren Befangenheit. Andernfalls hätte es eine Prozesspartei in
der Hand, ihr missliebige Richter auch ohne Vorliegen eines Aus-
schlussgrundes faktisch auszuschliessen (Bühler/Edelmann/Killer,
Kommentar zur aargauischen Zivilprozessordnung, Aarau 1998,
N 17 zu § 3; vgl. auch Hauser/Schweri, Schweizerisches Strafpro-
zessrecht, Basel 2002, N 4 zu § 30). Anders, wenn ein Richter als
Folge einer Strafanzeige erklärt, sich nicht mehr unbefangen zu füh-
len oder selbst Strafanzeige gegen eine Partei oder ihren Rechts-
vertreter erhebt. Dann wird man nicht darum herum kommen, den
Anschein von Befangenheit zu bejahen.
Durch die Einreichung der Strafanzeige allein ist noch nicht
nachgewiesen, dass zwischen dem Gesuchsteller und der Vizepräsi-
2003
Obergericht/Handelsgericht
56
dentin ein ausgeprägtes feindschaftliches Verhältnis besteht, welches
die richterliche Pflicht zur Unparteilichkeit und Unvoreingenom-
menheit gefährden würde. Abgesehen von der Strafanzeige werden
in casu keine konkreten Anhaltspunkte für das Vorliegen feind-
schaftlicher Gefühle der abgelehnten Richterin namhaft gemacht. | 439 | 335 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2003-12_2003-07-11 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-12.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-12.pdf | AGVE_2003_12 | null | nan |
8d24ade1-27ee-529d-8a28-a7f0eee1840d | 1 | 417 | 870,807 | 952,041,600,000 | 2,000 | de | 2000
Zivilrecht
31
[...]
4
Art. 581 und 584 ZGB, §§ 72 und 75 EG ZGB; öffentliches Inventar.
Für die Entgegennahme von Begehren um Berichtigung des Inventars ist
der Gerichtspräsident am letzten Wohnsitz des Erblassers zuständig
(Erw. 2).
Das Gesetz enthält keine Frist, innert welcher seit Ablauf der Auskündi-
gungsfrist die Schliessung des Inventars erfolgen müsste; gleiches gilt in
Bezug auf die Bereinigung des Inventars nach erfolgter Auflage. Späte-
ster Termin hiefür ist aber jener Zeitpunkt, in welchem sich ein Erbe
über den Erwerb der Erbschaft ausgesprochen hat (Erw. 3).
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 3. Zivilkammer, vom 27. März 2000
in Sachen H.R.S und G.S.
2000
Obergericht
32
Aus den Erwägungen
2. Der aargauische Gesetzgeber hat die erbrechtlichen Verfahren
nur rudimentär geregelt, jedoch den Gerichtspräsidenten des letzten
Wohnsitzes des Erblassers - unter Vorbehalt einer anderslautenden
Bestimmung - für alle den Erbgang betreffenden Massnahmen zu-
ständig erklärt (§ 72 EG ZGB). Dies umfasst auch die Anordnung der
erbrechtlichen Inventare, insbesondere auch des öffentlichen
Inventars. Mit der technischen Inventaraufnahme, also mit dem ei-
gentlichen Vollzug, hat er den Gemeinderat des letzten Wohnsitzes
des Erblassers zu beauftragen (§ 75 EG ZGB). Dieser hat ein Ver-
zeichnis der Vermögenswerte und Schulden der Erbschaft anzulegen,
wobei alle Inventarstücke mit einer Schätzung zu versehen sind
(Art. 581 Abs. 1 ZGB).
Die Aufnahme des öffentlichen Inventars ist regelmässig mit
einem durch den Gerichtspräsidenten angeordneten Rechnungsruf
(Aufforderung an die Gläubiger und Schuldner des Erblassers, bin-
nen einer bestimmten Frist ihre Forderungen und Schulden anzumel-
den) verbunden, wobei die Gläubiger auf die Präklusionswirkung der
Nichtanmeldung hinzuweisen sind. Die angemeldeten Forderungen
gegen den Erblasser und dessen Ansprüche sind von der zuständigen
Behörde ohne weitere Prüfung aufzunehmen; über die materielle
Richtigkeit hat sie nicht zu entscheiden (Stefan Pfyl, Die Wirkungen
des öffentlichen Inventars, Diss. Fribourg 1996, S. 10., mit Hinwei-
sen; Peter Tuor/Vito Picenoni, Berner Kommentar, Bern 1964, N 10a
zu Art. 581 ZGB). Nach Ablauf der Auskündigungsfrist wird das
Inventar geschlossen und hierauf während wenigstens eines Monats
zur Einsicht der Beteiligten aufgelegt (Art. 584 Abs. 1 ZGB). Wäh-
rend der Auflegungsfrist besteht die Möglichkeit, Ergänzungen und
Berichtigungen des Inventars zu verlangen und anzubringen (Pfyl,
a.a.O., S. 11).
Dem Gemeinderat steht bezüglich der Errichtung der öffentli-
chen Inventare keine Verfügungskompetenz zu. Mangels einer an-
2000
Zivilrecht
33
derslautenden Gesetzesbestimmung ist daher entgegen der Auffas-
sung der Beschwerdeführer für die Anordnung der Auflage des öf-
fentlichen Inventars und entsprechend auch für die Entgegennahme
von Berichtigungsbegehren gestützt auf § 72 EG ZGB der Gerichts-
präsident des letzten Wohnsitzes des Erblassers zuständig.
3. Die Beschwerdeführer machen im Übrigen geltend, der vor-
instanzliche Entscheid setze sich in keiner Form mit der beanstande-
ten Inventarisierung der Forderung auseinander. Der Verfügung des
Gerichtspräsidiums Z. vom 5. Januar 2000 lässt sich jedoch entneh-
men, dass die X.Y.-Bank ihre nachträglich inventarisierte Forderung
während der Auskündigungsfrist fristgerecht eingegeben und inner-
halb der Auflagefrist des öffentlichen Inventars dessen Berichtigung
beantragt hat; dementsprechend sei der Eintrag korrigiert worden.
Dieser kurzen Begründung kann beigefügt werden, dass das Gesetz
keine Frist enthält, innert welcher seit Ablauf der Auskündigungsfrist
die Schliessung des Inventars i.S. von Art. 584 ZGB erfolgen müsste
(Tuor/Picenoni, a.a.O., N 3 zu Art. 584 ZGB); gleiches gilt in Bezug
auf die Bereinigung des Inventars nach dessen erfolgter Auflage.
Spätester Termin hierfür ist aber jener Zeitpunkt, in welchem sich ein
Erbe über den Erwerb der Erbschaft ausgesprochen hat.
Vorliegend haben sich die Beschwerdeführer als alleinige ge-
setzliche Erben bislang über den Erwerb der Erbschaft nicht ausge-
sprochen, weshalb eine Berichtigung des Inventars zulässig war.
Ueber die materielle Richtigkeit der ins Inventar aufgenommenen
Forderungen hat die Vorinstanz zu Recht nicht entschieden. | 964 | 776 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2000-4_2000-03-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-4.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-4.pdf | AGVE_2000_4 | null | nan |
8d534751-e67a-569d-a898-267b73bcfe71 | 1 | 417 | 871,566 | 1,014,940,800,000 | 2,002 | de | 2002
Obergericht/Handelsgericht
64
[...]
13
§ 112 f. ZPO.
Ergeht in einem Verfahren wegen fehlender Prozessvoraussetzung (in
casu Rechtshängigkeit einer identischen Klage im internationalen Ver-
hältnis) ein Nichteintretensentscheid, findet die Ausnahmeregelung von
2002
Zivilprozessrecht
65
§ 113 ZPO in aller Regel keine Anwendung, sondern ist die Kostenpflicht
der klagenden Partei die Folge (§ 112 Abs. 1 ZPO).
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 1. Zivilkammer, vom 7. März 2002 in
Sachen M. K.-A. gegen R.H. K. | 132 | 106 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2002-13_2002-03-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-13.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-13.pdf | AGVE_2002_13 | null | nan |
8d817813-9096-5587-af9c-8b52a4462e1b | 1 | 417 | 869,687 | 1,099,267,200,000 | 2,004 | de | 2004
Zivilprozessrecht
61
B. Anwaltsrecht
14
§ 6 Abs. 3 AnwT; Honorar im Arbeitsgerichtsverfahren
Für die Teilnahme an der arbeitsgerichtlichen Vermittlungsverhandlung
steht dem Rechtsvertreter kein Zuschlag gemäss § 6 Abs. 3 AnwT zu.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 1. Zivilkammer, vom 16. November
2004, i.S. J.R. gegen K.W. AG.
Aus den Erwägungen
8. Die Beklagte bemängelt in der Appellation schliesslich die
Festsetzung der geschuldeten Parteientschädigung an die Klägerin
hinsichtlich des gewährten Zuschlags zum Grundhonorar in der Höhe
von 20 % für eine zweite Verhandlung. Praxisgemäss werde für die
Beratung und Mitwirkung des Rechtsanwalts in der Vermittlungsver-
handlung keine Parteientschädigung zu Lasten der Gegenpartei zuge-
sprochen, sondern sei bereits im Grundhonorar enthalten.
a) In seiner Kostennote vom 22. Juni 2003 machte der klägeri-
sche Rechtsvertreter einen Zuschlag von 20 % auf die Grundent-
schädigung von Fr. 9'200.--, mithin Fr. 1'840.--, für die zweite Ver-
handlung und einen solchen von 30 % für eine zusätzliche Rechts-
schrift geltend.
b) Der Einwand der Beklagten ist berechtigt, da die arbeitsge-
richtliche Vermittlungsverhandlung, in welcher sich die Parteien
ausser bei Vorliegen eines zureichenden Verhinderungsgrundes nicht
vertreten lassen können, sondern persönlich zu erscheinen haben,
und der Anwalt lediglich im Rahmen einer Verbeiständung tätig
werden kann (§ 366 ZPO), sich von der Verhandlung vor Arbeitsge-
richt, wo die Parteivertretung uneingeschränkt zulässig ist (§ 367
ZPO), wesentlich unterscheidet. Entsprechend bestimmt § 3 Abs. 1
AnwT, welcher auch im Arbeitsgerichtsverfahren massgebend ist,
ausdrücklich, dass die Grundentschädigung gemäss lit. a und b die
2004
Obergericht/Handelsgericht
62
Vertretung und Verbeiständung einer Partei im ordentlichen Verfah-
ren einschliesslich der Beratung im Vermittlungsverfahren umfasst.
Dem klägerischen Rechtsvertreter steht daher für die Vermittlungs-
verhandlung kein Zuschlag gemäss § 6 Abs. 3 AnwT zu. Desgleichen
sind durch die tarifgemässe Entschädigung auch die üblichen
Vergleichsbemühungen abgegolten (§ 2 Abs. 1 AnwT). | 498 | 377 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2004-14_2004-11-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2004-14.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2004-14.pdf | AGVE_2004_14 | null | nan |
8dbf6d7f-acc7-5d6c-9848-0d966a1e48d0 | 1 | 417 | 869,958 | 1,054,771,200,000 | 2,003 | de | 2003
Obergericht/Handelsgericht
24
2
Art. 163 und 176 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB
Eine zwischen den Ehegatten getroffene Trennungsvereinbarung über
Unterhaltsbeiträge gilt nur solange, als das Einvernehmen der Ehegatten
hinsichtlich des Getrenntlebens und seiner Regelung andauert. Während
dieser Zeit sind solche Trennungsvereinbarungen für die Ehegatten ver-
bindlich. Sind sich die Ehegatten über die beidseitigen Beiträge an den
Familienunterhalt nicht mehr einig, kann das Eheschutzgericht angeru-
fen werden, welches die geschuldeten Unterhaltsbeiträge gerichtlich fest-
gesetzt.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 5. Zivilkammer, vom 30. Juni 2003,
i.S. U.S. gegen H.S.
Aus den Erwägungen:
2. Die Beklagte macht wie bereits vor Vorinstanz geltend, dass
die Parteien am 20. September 2001 eine vorbehalt- und bedin-
gungslose Vereinbarung abgeschlossen hätten, wonach sich der Klä-
ger zur Zahlung von monatlichen Unterhaltsbeiträgen in der Höhe
von Fr. 2'000.-- verpflichtet habe. Da der Kläger keine relevanten
Abänderungsgründe dargelegt habe, sei die genannte Vereinbarung
nach wie vor gültig, weshalb der Beklagten Unterhaltsbeiträge von
Fr. 2'000.-- pro Monat zuzusprechen seien.
a) Nach Art. 163 ZGB hat jeder Ehegatte nach seinen Kräften
an den gebührenden Unterhalt der Familie beizutragen (Abs. 1), wo-
bei sie sich über den Beitrag, den jeder von ihnen leistet, verständi-
gen (Abs. 2) und hierbei die Bedürfnisse der ehelichen Gemeinschaft
sowie ihre persönlichen Umstände zu berücksichtigen haben (Abs.
3). Die Vereinbarung über die Art und den Umfang der Unterhaltslei-
stungen ist an keine Form gebunden und kann konkludent erfolgen
(vgl. Hausheer/Spycher/Kocher/Brunner, Handbuch des Unterhalts-
rechts, Bern 1997, Rz 03.171 ff.; Bräm/Hasenböhler, Zürcher Kom-
mentar, Zürich 1998, N 121 zu Art.
163 ZGB; Hegnauer/
Breitschmid, Grundriss des Eherechts, 4. Auflage, Bern 2000, Rz
16.22 ff.). Dies gilt auch für den Fall, in welchem die Ehegatten
2003
Zivilrecht
25
übereinkommen, den gemeinsamen Haushalt aufzuheben, und ein-
vernehmlich die Folgen des Getrenntlebens regeln; unter Vorbehalt
der elterlichen Sorge bedarf eine solche Trennungsvereinbarung kei-
ner richterlichen oder anderen behördlichen Genehmigung (vgl.
Hausheer/Reusser/Geiser, Berner Kommentar, Bern 1999, N 6b zu
Art. 175 ZGB und N 5b zu Art. 176 ZGB; Bräm/Hasenböhler, a.a.O.,
N 2 zu Art. 176 ZGB).
b) Bei Trennungsvereinbarungen handelt es sich nicht um
schuldrechtliche Verträge, die auf dem Prinzip von Leistung und Ge-
genleistung beruhen, sondern um Abkommen aufgrund der ehelichen
Unterstützungspflicht. Grundsätze des Vertragsrechts sind somit
höchstens sinngemäss anwendbar (vgl. Bräm/Hasenböhler, a.a.O.,
N 10 zu Art. 176 ZGB). Eine zwischen Ehegatten getroffene Tren-
nungsvereinbarung über Unterhaltsbeiträge muss jederzeit den ver-
änderten Verhältnissen, d.h. den neuen Bedürfnissen, Anforderungen
und Lebensumständen der Ehegatten und allenfalls der Kinder ange-
passt werden können. Deshalb gelten solche Vereinbarungen nur auf
Zusehen hin, nämlich solange das Einvernehmen der Ehegatten hin-
sichtlich des Getrenntlebens und seiner Regelung andauert (vgl.
Hausheer/Reusser/Geiser, a.a.O., N 5b zu Art. 176 ZGB). Nach
Massgabe des Eherechts muss die Vereinbarung jederzeit anpas-
sungsfähig sein, unabhängig davon, ob sie schriftlich fixiert wurde
oder konkludent erfolgte (vgl. Bräm/Hasenböhler, a.a.O., N 10 zu
Art. 176 ZGB). Sind sich die Ehegatten über die beidseitigen Beiträ-
ge an den Familienunterhalt nicht mehr einig, kann das Eheschutzge-
richt angerufen werden, falls eine einvernehmliche Regelung nicht
mehr in Betracht kommt.
c) Vorliegendenfalls haben die Parteien am 20. September 2001
unter anderem vereinbart, dass sich der Kläger während der Tren-
nung zur Zahlung eines monatlichen Unterhaltsbeitrags in der Höhe
von Fr. 2'000.-- verpflichtet, wobei der Kläger eine diesbezügliche
Einverständniserklärung unterzeichnete. Damit haben die Parteien
nach dem Gesagten eine gültige Trennungsvereinbarung abgeschlos-
sen, welche - solange das gegenseitige Einvernehmen bezüglich der
getroffenen Regelung anhielt - für beide Parteien verbindlich war.
Mit Einleitung des vorliegenden Eheschutzverfahrens gab der Kläger
2003
Obergericht/Handelsgericht
26
erstmals am 25. November 2002 gegenüber der Beklagten seinen
Willen, sich nicht mehr an die Vereinbarung halten zu wollen, kund.
Dies bedeutet einerseits, dass die Parteien bis und mit November
2002 den Unterhaltspunkt verbindlich geregelt haben und dass ande-
rerseits die Bindungswirkung der Trennungsvereinbarung der Partei-
en vom 20. September 2001 Ende November 2002 endet und für die
Zeit ab Dezember 2002 die Höhe des vom Kläger geschuldeten Bei-
trags an den persönlichen Unterhalt der Beklagten erstmals gericht-
lich festzusetzen und nicht etwa unter Zugrundelegung der Voraus-
setzungen für die Abänderung eines Eheschutzurteils (Art. 179 Abs.
1 ZGB) lediglich anzupassen ist. | 1,196 | 920 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2003-2_2003-06-05 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-2.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-2.pdf | AGVE_2003_2 | null | nan |
8e5dccba-5cd1-5846-b541-ca242bfc4407 | 1 | 417 | 869,813 | 952,128,000,000 | 2,000 | de | 2000
Obergericht
42
7
Art. 82 und 283 SchKG. Art. 85 VZG.
Der Mietvertrag muss auch als Rechtsöffnungstitel für das Retentions-
recht anerkannt werden, da die Pfandanerkennung des Retentionsrechts
als im schriftlichen Mietvertrag konkludent enthalten anzusehen ist.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 4. Zivilkammer, vom 9. März 2000 in
Sachen G. H. gegen R. G.
Aus den Erwägungen
3. Gemäss Art. 85 Abs. 1 VZG bezieht sich der Rechtsvorschlag
auf die Forderung und auf das Pfandrecht, falls nichts anderes be-
merkt ist. Wie die Vorinstanz anführte, war umstritten, ob der Miet-
vertrag auch ein Rechtsöffnungstitel für das Retentionsrecht ist. Im
Kommentar Schnyder/Wiede wird dazu ausgeführt, es sei geradezu
notwendig, die Pfandanerkennung des Retentionsrechts als im
schriftlichen Mietvertrag konkludent enthalten anzusehen. Der
Schutz der betriebenen Partei werde dadurch nicht geschmälert, blei-
be doch immer noch die Aberkennungsklage zur Bestreitung des Re-
tentionsrechts offen. Die gegenteilige Auffassung führte zum Ergeb-
nis, dass der Vermieter den Rechtsvorschlag gegen das Retentions-
recht nur durch Klage im ordentlichen Verfahren beseitigen könnte.
Der vorteilhafte Weg der Beseitigung des Rechtsvorschlags mittels
Rechtsöffnung stünde nicht zur Verfügung. Es ist daher die Pfandan-
erkennung des Retentionsrechts als im schriftlichen Mietvertrag kon-
kludent enthalten anzusehen (vgl. Schnyder/Wiede, Kommentar zum
Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Basel/Genf/Mün-
chen 1998, N. 83 und 84 zu Art. 283 SchKG mit Hinweisen). Der
Beklagte hat keine Einwendungen erhoben, weshalb auch für das Re-
tentionsrecht provisorische Rechtsöffnung zu erteilen ist. | 393 | 305 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2000-7_2000-03-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-7.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-7.pdf | AGVE_2000_7 | null | nan |
8e5edfb1-8da7-4bc8-a5b3-1e1bd57174f1 | 1 | 414 | 1,497,593 | 1,575,849,600,000 | 2,019 | de | Urteil/Entscheid
Handelsgericht
2. Kammer
HSU.2019.122 / as / as
Art. 199
Entscheid vom 9. Dezember 2019
Besetzung Oberrichter Vetter, Vizepräsident
Gerichtsschreiber Schneuwly
Gerichtsschreiberin-Stv. Albert
Gesuchstellerin I. GmbH, _
vertreten durch lic. iur. Andreas Bühlmann, Rechtsanwalt, Talacker 50,
8001 Zürich
Gesuchsgegne-
rin
A. AG, _
Gesuchsgegneri-
sche Nebeninter-
venientin
I. AG, _
vertreten durch lic. iur. Fabienne Schürmann und Dr. iur. Matthias Streiff,
Rechtsanwälte, Zürcherstrasse 29, 8620 Wetzikon ZH
Gegenstand Summarisches Verfahren betreffend Bauhandwerkerpfandrecht
- 2 -
Der Vizepräsident entnimmt den Akten:
1.
Die Gesuchstellerin ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit Sitz
in Z. Sie bezweckt insbesondere Bauarbeiten aller Art (Gesuchsbeilage
[GB] 2]).
2.
Die Gesuchsgegnerin ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in W. (ZH). Sie
hat insbesondere den unmittelbaren und mittelbaren Betrieb von _
zum Zweck (GB 3).
Die Gesuchsgegnerin ist Alleineigentümerin des Grdst.-Nr. 123 GB Muri
(E-GRID: CH 321; GB 1).
3.
Die gesuchsgegnerische Nebenintervenientin ist eine Gesellschaft mit be-
schränkter Haftung mit Sitz in Zürich. Sie bezweckt Bauarbeiten aller Art.
4.
Mit Gesuch vom 4. Oktober 2019 (Postaufgabe: 4. Oktober 2019) stellte
die Gesuchstellerin die folgenden Rechtsbegehren:
" Das Grundbuchamt Wohlen sei im Sinne von Art. 961 ZGB superprovisorisch und hernach vorläufig anzuweisen, der Gesuchstellerin und zulasten des folgenden der Gesuchsgegnerin ein Pfandrecht vorläufig im einzutragen auf:
Liegenschaft Grundstück-Nr. 123, _, Muri, für die maximale Pfandsumme von CHF 518'510.96 zuzüglich
5% Zins seit 4. Oktober 2019;
unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zulasten der Gesuchs-
gegnerin."
5.
Mit Verfügung vom 7. Oktober 2019 bewilligte der Vizepräsident den Antrag
um superprovisorische Anordnung der Vormerkung der vorläufigen Eintra-
gung eines Bauhandwerkerpfandrechts teilweise im Umfang von
Fr. 518'510.86 zzgl. Zins zu 5 % ab dem 5. Oktober 2019 und wies das
Grundbuchamt Wohlen an, die Vormerkung sofort einzutragen.
6.
Das Grundbuchamt Wohlen merkte die vorläufige Eintragung am 7. Okto-
ber 2019 (Tagebuchnummer 987) im Tagebuch vor.
- 3 -
7.
7.1.
Mit Eingabe vom 17. Oktober 2019 stellte die I. AG das Gesuch, sie sei als
Nebenintervenientin der Gesuchsgegnerin zuzulassen, da sie sich vertrag-
lich verpflichtet habe, die vorläufige und definitive Eintragung eines Bau-
handwerkerpfandrechts zu verhindern.
7.2.
Mit Verfügung vom 18. Oktober 2019 nahm der Vizepräsident der Ge-
suchsgegnerin die Antwortfrist einstweilen ab und setzte der Gesuchstelle-
rin und der Gesuchsgegnerin Frist zur Stellungnahme bis 31. Oktober
2019.
7.3.
Mit Eingaben vom 30. Oktober 2019 und 31. Oktober 2019 widersetzten
sich weder die Gesuchsgegnerin noch die Gesuchstellerin dem Nebenin-
terventionsgesuch.
7.4.
Mit Verfügung vom 1. November 2019 wurde die I. AG als Nebenpartei der
Gesuchsgegnerin (gesuchsgegnerische Nebenintervenientin) zugelassen
und ihr sowie der Gesuchsgegnerin Frist zur Erstattung einer schriftlichen
Gesuchsantwort bis zum 14. November 2019 angesetzt.
8.
8.1.
Mit Stellungnahme vom 14. November 2019 stellte die gesuchsgegneri-
sche Nebenintervenientin folgende Rechtsbegehren:
" Es sei
1.
das Gesuch der Gesuchstellerin vom 04. Oktober 2019 um vorläufige Eintragung des Bauhandwerkerpfandrechts zulasten des Grundstücks der Gesuchsgegnerin Liegenschaft Grundstück-Nr. 123, _, 5630 Muri, abzuweisen und das superprovisorisch vorläufig eingetragene Bauhandwerkerpfandrecht zu löschen;
2.
eventualiter der Gesuchstellerin eine Frist von längstens drei Monaten anzusetzen, um Klage betreffend definitiven Bestand und Umfang des Pfandrechts anzuheben;
Alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der ."
- 4 -
8.2.
Nach Ansetzung einer kurzen Nachfrist stellte die Gesuchsgegnerin mit
Gesuchsantwort vom 22. November 2019 folgende Rechtsbegehren:
" 1. Es sei das Gesuch der Gesuchstellerin vom 04. Oktober 2019 um Eintragung des Bauhandwerkerpfandrechts zulasten des Grundstücks der Gesuchsgegnerin, Liegenschaft Grundstück-Nr. 123, 5630 Muri, abzuweisen und das superprovisorisch eingetragene zu löschen.
2.
Es sei eventualiter der Gesuchstellerin eine Frist von längstens drei Monaten anzusetzen, um Klage betreffend definitivem Bestand und Umfang des Pfandrechts anzuheben.
Alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen und zusätzlich zulasten der Gesuchstellerin."
Der Vizepräsident zieht in Erwägung:
1. Zuständigkeit
Der Einzelrichter am Handelsgericht ist örtlich, sachlich und funktionell zur
Beurteilung der im summarischen Verfahren zu behandelnden Streitigkeit
zuständig (vgl. dazu E. 4 der Verfügung vom 7. Oktober 2019).
2. Superprovisorische Anordnung der Vormerkung eines Bauhand-
werkerpfandrechts
Soweit sich die gesuchsgegnerische Nebenintervenientin in ihrer Stellung-
nahme vom 14. November 2019 gegen den Antrag auf superprovisorische
Anordnung zur Wehr setzt (Stellungnahme vom 14. November 2019
Rz. 7 ff.), ist anzumerken, dass der Antrag auf superprovisorische Anord-
nung mit Verfügung vom 1. November 2019 bereits gutgeheissen wurde.
Verfahrensgegenstand ist daher nicht mehr die superprovisorische Anord-
nung, sondern nur noch die vorsorgliche Anordnung der vorläufigen Eintra-
gung des von der Gesuchstellerin beantragten Bauhandwerkerpfand-
rechts.
3. Allgemeine Voraussetzungen der vorläufigen Eintragung
3.1.
Die Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts setzt im Wesentlichen
die Forderung eines Bauhandwerkers oder Unternehmers für die Leistung
von Arbeit und allenfalls von Material zugunsten des zu belastenden
- 5 -
Grundstücks sowie die Wahrung der viermonatigen Eintragungsfrist voraus
(Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 und 839 Abs. 2 ZGB).
3.2.
Die Eintragungsvoraussetzungen sind im Verfahren betreffend vorläufige
Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts lediglich glaubhaft zu ma-
chen. An diese Glaubhaftmachung werden zudem weniger strenge Anfor-
derungen gestellt, als es diesem Beweismass für vorsorgliche Massnah-
men (Art. 261 ff. ZPO) sonst entspricht.1 Die vorläufige Eintragung darf nur
verweigert werden, wenn der Bestand des Pfandrechts ausgeschlossen o-
der höchst unwahrscheinlich erscheint. Im Zweifelsfall, bei unklarer Be-
weis- oder Rechtslage, ist die vorläufige Eintragung zu bewilligen und die
Entscheidung dem Richter im ordentlichen Verfahren zu überlassen.2 Letzt-
lich läuft es darauf hinaus, dass der gesuchstellende Unternehmer nur die
blosse Möglichkeit eines Anspruchs auf ein Bauhandwerkerpfandrecht
nachzuweisen hat.3
4. Eintragungsfrist
4.1. Parteibehauptungen
4.1.1. Gesuchstellerin
Die Gesuchstellerin behauptet, die letzten Arbeiten seien am 26. Juni 2019
ausgeführt worden. Dies gehe aus ihren Stundenlisten hervor. Diese Stun-
den seien für Hauptarbeiten aufgewendet worden. Im Mai 2019 seien drei,
im Juni 2019 zwei Mitarbeiter der Gesuchstellerin auf dem umstrittenen
Grundstück tätig gewesen (Gesuch Rz. 7, GB 7-9). Der «letzte Hammer-
schlag» sei deshalb am 26. Juni 2019 erfolgt, als Sockel gestrichen worden
seien. Die viermonatige Eintragungsfrist sei daher eingehalten (Gesuch
Rz. 9; GB 10).
4.1.2. Gesuchsgegnerische Nebenintervenientin
Die gesuchsgegnerische Nebenintervenientin behauptet, die Werkarbeiten
seien am 18. und 24. Januar 2019 sowie am 12. Februar 2019 der Bau-
herrschaft übergeben worden. Damit seien die werkvertraglichen Arbeiten
nachweislich schon im Februar 2019 abgeschlossen worden (Stellung-
nahme vom 14. November 2019 Rz. 17; Beilagen 5 f. zur Stellungnahme
vom 14. November 2019).
Die von der Gesuchstellerin behaupteten Arbeiten im Mai und Juni 2019
würden, sofern sie überhaupt von der Gesuchstellerin erbracht worden
seien, blosse Nachbesserungsarbeiten darstellen (Stellungnahme vom
1 BGE 137 III 563 E. 3.3; 86 I 265 E. 3; vgl. auch SCHUMACHER, Das Bauhandwerkerpfandrecht, 3. Aufl.
2008, N. 1394; BSK ZGB II-THURNHERR, 6. Aufl. 2019, Art. 839/840 N. 37. 2 BGE 86 I 265 E. 3; 102 Ia 81 E. 2b.bb; BGer 5A_426/2015 vom 8. Oktober 2015 E. 3.4; 5A_924/2014
vom 7. Mai 2015 E. 4.1.2; SCHUMACHER, Das Bauhandwerkerpfandrecht, Ergänzungsband zur 3. Aufl. 2011, N. 628.
3 SCHUMACHER (Fn. 1), N. 1395.
- 6 -
14. November 2019 Rz. 31 und 33; Beilagen 4-6 zur Stellungnahme vom
14. November 2019). Die gesuchsgegnerische Nebenintervenientin sei von
der ARGE Q. selbst zur Nachbesserung aufgefordert worden, woraufhin
diese die F.-Bau GmbH zur Mängelbehebung aufgeboten habe (Stellung-
nahme vom 14. November 2019 Rz. 32; Beilagen 4 und 11 zur Stellung-
nahme vom 14. November 2019; GB 10). Die Arbeiten der Gesuchstellerin
/ F. AG / F.-Bau GmbH seien mit Ausnahme der Terrassen der Häuser 15a
und 15b am 18. und 24. Januar 2019 von der ARGE Q. abgenommen wor-
den. Die Abnahme besagter Terrassen sei am 12. Februar 2019 erfolgt. Bei
beiden Abnahmen hätten Mängel festgestellt werden müssen (Stellung-
nahme vom 14. November 2019 Rz. 34; Beilage 5 f. zur Stellungnahme
vom 14. November 2019). Weil diese Arbeiten, wenn auch nur mängelbe-
haftet, abgenommen worden seien, sei die gesuchsgegnerische Nebenin-
tervenientin auf der Pendenzenliste der noch fertigzustellenden Arbeiten
vom 15. Februar 2019 nicht mehr aufgeführt (Stellungnahme vom 14. No-
vember 2019 Rz. 36; Beilage 12 der Stellungnahme vom 14. November
2019). Weiter habe R. B., Bauleiter der gesuchsgegnerischen Nebeninter-
venientin, B. R. mit E-Mail vom 16. Mai 2019 zur Nachbesserung am
20. und 21. Mai 2019 aufgeboten. Die F.-Bau GmbH habe diese E-Mail
gleichentags bestätigt und versichert, an diesen Tagen vor Ort zu sein
(Stellungnahme vom 14. November 2019 Rz. 38; Beilage 4 der Stellung-
nahme vom 14. November 2019). Es erscheine daher nicht glaubhaft, dass
im Mai und Juni 2019 noch Vollendungsarbeiten hätten vollbracht werden
sollen (Stellungnahme vom 14. November 2019 Rz. 37). Auch vor diesem
Hintergrund würden die Stundenrapporte der Gesuchstellerin nicht glaub-
haft erscheinen. Die darin verwendeten Begriffe würden mit den festgestell-
ten Mängeln korrelieren (Stellungnahme vom 14. November 2019 Rz. 39).
Dasselbe gelte für die Arbeiten im Juni 2019 (Stellungnahme vom 14. No-
vember 2019 Rz. 40). Ferner sei die gesuchsgegnerische Nebeninterveni-
entin von der ARGE Q. auch mit Schreiben vom 22. August 2019 aus der
Erfüllungsgarantie entlassen worden (Stellungnahme vom 14. November
2019 Rz. 42; Beilage 9 der Stellungnahme vom 14. November 2019).
Das vorliegende Gesuch datiere vom 7. Oktober 2019 und sei daher erst
nach Ablauf der viermonatigen Eintragungsfrist im Juni 2019 erfolgt (Stel-
lungnahme vom 14. November 2019 Rz. 43).
4.2. Rechtliches
Die Eintragung des Bauhandwerkerpfandrechts muss bis spätestens vier
Monate nach der Arbeitsvollendung erfolgen, andernfalls verwirkt der An-
spruch (Art. 839 Abs. 2 ZGB).4 Die Eintragungsfrist berechnet sich nach
Art. 7 ZGB i.V.m. Art. 77 Abs. 1 Ziff. 3 i.V.m. Abs. 2 OR. Sie endet somit an
4 BGE 126 III 462 E. 4c/aa; BSK ZGB II-THURNHERR (Fn. 1), Art. 839/840 N. 29.
- 7 -
demjenigen Tag des letzten Monats, der durch seine Zahl dem Tag der
Arbeitsvollendung entspricht.5
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 839 Abs. 2 ZGB gel-
ten Bauarbeiten grundsätzlich dann als vollendet, wenn alle Verrichtungen,
die Gegenstand des Werkvertrages bilden, ausgeführt sind. Nicht in Be-
tracht fallen dabei geringfügige oder nebensächliche, rein der Vervoll-
kommnung dienende Arbeiten oder Ausbesserungen wie der Ersatz gelie-
ferter, aber fehlerhafter Teile oder die Behebung anderer Mängel. Gering-
fügige Arbeiten gelten aber dann als Vollendungsarbeiten, wenn sie uner-
lässlich sind; insoweit werden Arbeiten weniger nach quantitativen als viel-
mehr nach qualitativen Gesichtspunkten gewürdigt.6
4.3. Würdigung
Die Gesuchstellerin behauptet zwar, ihre Mitarbeiter hätten im Mai und Juni
2019 noch Hauptarbeiten ausgeführt und will dies durch nicht unterschrie-
bene Arbeitsrapporte belegen. Sie behauptet jedoch nicht, welcher Mitar-
beiter welche Tätigkeiten wann ausführte.
Der gesuchsgegnerischen Nebenintervenientin gelingt es, diese Ausfüh-
rungen im Rahmen des angetretenen Gegenbeweises in Frage zu stellen.
Mit den Beilagen 5 f. zur Stellungnahme vom 14. November 2019 unter-
mauert sie ihre Behauptung, wonach sie ihr Werk – und weil die Gesuch-
stellerin bloss Arbeiten für die gesuchsgegnerische Nebenintervenientin
lieferte auch deren Werk – im Januar bzw. Februar 2019 der Bauherrin
übergab. Damit wurde das Werk abgeliefert und die Hauptpflicht im Werk-
vertrag (Herstellung eines Werks) erfüllt. Das Werk wurde daher im Februar
2019 vollendet.
Zwar räumt die gesuchsgegnerische Nebenintervenientin selber ein, sie
habe nur ein mangelhaftes Werk abgeliefert. Dies ändert allerdings nichts
am Umstand, wonach das Werk bei Ablieferung bereits vollendet war. Ar-
beiten, die die Gesuchstellerin nach der Werkablieferung ausführte, quali-
fizieren daher als Gewährleistungsarbeiten, die nicht mehr fristlauslösend
wirken. Mit der Beilage 4 zur Stellungnahme vom 14. November 2019 (eine
E-Mail vom 16. Mai 2019) belegt die gesuchsgegnerische Nebeninterveni-
entin, dass es sich bei den Arbeiten der Gesuchstellerin im Mai 2019 – und
damit auch den darauffolgenden Arbeiten im Juni 2019 (vgl. hierzu Beilage
11 zur Stellungnahme vom 14. November 2019) – bloss um Mängelbehe-
bungsarbeiten handelte. Ebenso ergibt sich dieser Schluss aus der Pen-
denzenliste von Mitte Februar 2019, in welcher die gesuchsgegnerische
Nebenintervenientin nur noch für Mängelbehebungsarbeiten aufgeführt
5 BSK ZGB II-THURNHERR (Fn. 1), Art. 839/840 N. 31a. 6 BGer 5A_613/2015 vom 22. Januar 2016 E. 4 m.w.N.
- 8 -
wird (Beilage 12 zur Stellungnahme vom 14. November 2019, S. 4, Posi-
tion 12: "Beschädigte Fassade Bahnseite flicken" und S. 5, Position 31: "Di-
verse Korrekturen Terras[s]en gem. M[ä]ngelanzeige mit Fotos").
Selbst die nicht unterzeichneten – und daher nicht als Basis einer natürli-
chen Vermutung dienenden7 – Arbeitsrapporte der Gesuchstellerin
(GB 7 f.) weisen – wie es die gesuchsgegnerische Nebenintervenientin zu
Recht vorbringt – bei genauer Betrachtung darauf hin, dass die Arbeiten im
Mai und Juni 2019 nur noch der Nachbesserung dienten. So ist darin etwa
von der "Ergänzung" der Isolation oder der "Ergänzung" des Putzes die
Rede. Auch zeitlich stimmen die Arbeitsrapporte mit den Weisungen zur
Nachbesserung grundsätzlich überein. So wurde von der gesuchsgegneri-
schen Nebenintervenientin etwa gewünscht, sie möge doch die Gebäude
15a/b am 24. Juni 2019 streichen und "korrigieren", und tatsächlich, vom
24. bis zum 26. Juni 2019 sind sowohl Maler- als auch Sockelarbeiten ein-
getragen (GB 8). Ähnlich sieht das Bild für den Monat Mai 2019 aus: Hier
wurde die Gesuchstellerin für den 20. Mai 2019 zur Mängelbehebung auf-
geboten und tatsächlich haben die Mitarbeiter der Gesuchstellerin vom
22. bis zum 24. Mai 2019 Arbeiten auf dem umstrittenen Grundstück aus-
geführt (GB 7).
Würde es sich bei den Mai-/Juniarbeiten nicht um blosse Nachbesserungs-
arbeiten handeln, so wäre unerklärbar a) weshalb die Gesuchstellerin für
diese Arbeiten extra aufgeboten werden musste und diese nicht von sich
aus auf der Baustelle erschien und b) weshalb zwischen den einzelnen Ar-
beiten jeweils mehr als eine Woche, teilweise sogar mehr als ein Monat
vergingen. Bei solch grossen Arbeitsunterbrüchen muss geradezu ausge-
schlossen werden, dass es sich noch um eigentliche Vollendungsarbeiten
handelte. Vielmehr geht der Vizepräsident davon aus, dass im Mai und Juni
2019 bloss noch Nachbesserungsarbeiten ausgeführt wurden.
Da Nachbesserungsarbeiten die Fristauslösung jedoch nicht verzögern,
sondern die viermonatige Eintragungsfrist davor schon begonnen haben
muss, erfolgte die Eintragung der Vormerkung des Bauhandwerkerpfand-
rechts vom 7. Oktober 2019 zu spät.
5. Ergebnis
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die vorläufige
Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts nicht erfüllt sind und die mit
Verfügung vom 7. Oktober 2019 superprovisorisch angeordnete Vormer-
kung der vorläufigen Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts im Um-
fang von Fr. 518'510.86 zuzüglich Zins zu 5 % ab dem 5. Oktober 2019
daher zu löschen ist.
7 BGer 4A_15/2011 vom 3. Mai 2011 E. 3.3 i.f.; GAUCH, Der Werkvertrag, 6. Aufl. 2019, N. 1020.
- 9 -
6. Prozesskosten
Die Prozesskosten werden der unterliegenden Partei auferlegt (Art. 95
Abs. 1 und Art. 106 Abs. 1 ZPO). Ausgangsgemäss sind sie von der Ge-
suchstellerin zu tragen.
6.1.
Unter Berücksichtigung des verursachten Aufwands sowie des Umfangs
der Streitigkeit werden die Gerichtskosten auf Fr. 5'000.00 festgesetzt (§ 8
VKD; SAR 221.150). Gestützt auf Art. 111 Abs. 1 Satz 1 ZPO werden sie
vorab mit dem von der Gesuchstellerin geleisteten Gerichtskostenvor-
schuss in derselben Höhe verrechnet.
6.2.
Es sind keine Parteientschädigungen zuzusprechen. Die Gesuchsgegnerin
macht selbst keine Parteikosten geltend und einer Nebenintervenientin wird
– dem Grundsatz folgend8 – keine Parteientschädigung zugesprochen.
Der Vizepräsident erkennt:
1.
Das Gesuch vom 4. Oktober 2019 wird abgewiesen.
2.
Das Grundbuchamt Wohlen wird angewiesen, das gemäss Verfügung
des Vizepräsidenten vom 7. Oktober 2019 gleichentags unter der Tage-
buch-Nr. 987 auf dem Grundstück der Gesuchsgegnerin Grdst.-Nr. 123 GB
Muri (E-GRID: CH 321), für die Pfandsumme von Fr. 518'510.86 zuzüglich
Zins zu 5 % ab dem 5. Oktober 2019 vorläufig eingetragene Bauhandwer-
kerpfandrecht zu löschen.
3.
3.1.
Die Gerichtskosten in Höhe von Fr. 5'000.00 sind von der Gesuchstellerin
zu tragen und werden mit dem von ihr geleisteten Gerichtskostenvorschuss
in derselben Höhe verrechnet.
3.2.
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen.
8 BGE 130 III 571 E. 6; BSK ZPO-GRABER, 3. Aufl. 2017, Art. 77 N. 3 je m.w.N.
- 10 -
Zustellung an:
die Gesuchstellerin (Vertreter; zweifach)
die Gesuchsgegnerin
die gesuchsgegnerische Nebenintervenientin (Vertreter; zweifach)
Zustellung an:
das Grundbuchamt Wohlen (nach Ablauf der Rechtsmittelfrist)
Rechtsmittelbelehrung für die Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 ff.,
Art 90 ff. BGG)
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen, von der schriftlichen Eröff-
nung der vollständigen Ausfertigung des Entscheids an gerechnet, die Be-
schwerde an das Schweizerische Bundesgericht erhoben werden.
Die Beschwerde ist schriftlich oder in elektronischer Form beim Schweize-
rischen Bundesgericht einzureichen. Die Beschwerdeschrift ist in einer
Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit An-
gabe der Beweismittel und die Unterschriften bzw. eine anerkannte elekt-
ronische Signatur zu enthalten. In der Begründung ist in gedrängter Form
darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid verfassungsmässige
Rechte (Art. 98 ff. BGG) verletzt. Die Urkunden, auf die sich die Partei als
Beweismittel beruft, sind beizulegen, soweit die Partei sie in den Händen
hat; ebenso ist der angefochtene Entscheid beizulegen (Art. 42 BGG).
Aarau, 9. Dezember 2019
Handelsgericht des Kantons Aargau
2. Kammer
Der Vizepräsident: Der Gerichtsschreiber:
Vetter Schneuwly
(i.V. Albert) | 4,726 | 3,501 | AG_HG_002 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_002_-Handelsrecht-Bauhan_2019-12-09 | https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/gesetze___entscheide/gesetze_2/handelsrecht/Entscheid_des_Handelsgerichts_vom_9._Dezember_2019.pdf | null | nan |
||
8e9c2919-9f01-5431-aeec-32b2a98f8f17 | 1 | 417 | 871,246 | 986,342,400,000 | 2,001 | de | 2001
Obergericht/Handelsgericht
56
13
§ 116 ZPO
Für die Kostenverteilung bei Gegenstandslosigkeit kann alternativ darauf
abgestellt werden, welche Partei Anlass zur Klage gegeben hat, wie der
Prozess bei materieller Beurteilung mutmasslich ausgegangen wäre oder
bei welcher Partei die Gründe eingetreten sind, die zur Gegenstandslo-
sigkeit geführt haben. Hat die Beklagte zwei dieser drei Kriterien zu ver-
treten und erweist sich das dritte Kriterium als unpraktikabel, so sind sie
Prozesskosten der Beklagten aufzuerlegen.
Aus dem Entscheid des Handelsgerichts vom 4. April 2001 in Sachen C.
AG gegen X. Holding AG
Aus den Erwägungen
1. Das vorliegende Verfahren ist unstreitig gegenstandslos ge-
worden. Streitig ist lediglich die Kostenverteilung. Gemäss § 116
ZPO entscheidet der Richter bei Gegenstandslosigkeit eines Prozes-
ses nach Ermessen über die Kostentragung. Nach der aargauischen
Rechtsprechung zu dieser Bestimmung ist je nach der Lage des Ein-
zelfalles für die Kostenverteilung auf unterschiedliche Kriterien ab-
zustellen; nämlich darauf:
- Welche Partei Anlass zur Klage gegeben hat.
- Wie der Prozess bei materieller Beurteilung mutmasslich aus-
gegangen wäre.
- Bei welcher Partei die Gründe eingetreten sind, die zur Gegen-
standslosigkeit geführt haben.
(vgl. Bühler, in: Bühler/Edelmann/Killer, Kommentar zur aar-
gauischen Zivilprozessordnung, 2. A., Aarau 1998, N 1 zu § 116)
Diese drei Kriterien sind alternativ und entgegen der Auffas-
sung der Beklagten nicht kumulativ anzuwenden. Dies bedeutet, dass
der Richter sie je nach Sach- und Rechtslage des Einzelfalles unter-
schiedlich gewichten und dem einen oder anderen Kriterium den
Vorrang vor den beiden andern beimessen darf. Zu beachten ist über-
dies, dass es mitunter schwierig sein kann, den mutmasslichen Pro-
zessausgang verlässlich zu prognostizieren, sei es, dass dies - bei
2001
Zivilprozessrecht
57
unklarer Sach- oder Beweislage - überhaupt nur nach Durchführung
eines Beweisverfahrens möglich ist, sei es, dass die sich stellenden
Rechtsfragen per se heikel sind oder wegen der fehlenden sachlichen
Klarheit noch gar nicht schlüssig beantwortet werden können.
2. a) Im vorliegenden Fall hat die Beklagte sowohl zur Klage
Anlass gegeben als auch die Gegenstandslosigkeit verursacht. Ein-
mal hat sie bei ihrer Gründung mit dem Firmennamen ,,X. Holding
AG" eine Firma gewählt, die mit derjenigen der Klägerin klarerweise
kollidiert. Ob sie vorgängig die möglichen Kollisionen mit prioritäts-
älteren Firmennamen sorgfältig abgeklärt hat oder nicht, ist belang-
los, da die gemäss Art. 951 Abs. 2 OR verpönte Verwechselbarkeit
von kollidierenden Firmen verschuldensunabhängig zu beurteilen ist.
Die Gegenstandslosigkeit hat die Beklagte durch die im Laufe des
Prozesses vorgenommene Umfirmierung verursacht. Dass die hiefür
massgebenden Gründe nicht firmenrechtlicher Natur waren, ist eben-
falls unerheblich.
Was das Kriterium des mutmasslichen Prozessausganges be-
trifft, liegt hier ein firmenrechtlicher Streit vor, dessen Ausgang nur
schwer zu prognostizieren ist. Denn nicht zu Unrecht wird bereits die
Firmenwahl als "Vabanquespiel" bezeichnet (Meier-Hayoz/Forstmo-
ser, Schweizerisches Gesellschaftsrecht, 8. A., Zürich 1998, § 7
N 147). Bei Durchsicht der Rechtsprechung zu Art. 951 Abs. 2 OR
kommt man überdies hin und wieder nicht um den Eindruck herum,
es wohne ihr ein aleatorisches Moment inne.
Hat aber die Beklagte zwei der drei für die Kostenverteilung
massgebenden Kriterien zu vertreten und erweist sich der Dritte der
drei relevanten Gesichtspunkte im vorliegenden Fall als unpraktika-
bel, so sind die Prozesskosten der Beklagten aufzuerlegen. | 810 | 659 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2001-13_2001-04-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-13.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-13.pdf | AGVE_2001_13 | null | nan |
90311b63-2b8b-4f04-853c-a645b03cfb60 | 1 | 414 | 1,497,542 | 1,583,193,600,000 | 2,020 | de | Urteil/Entscheid
Handelsgericht
2. Kammer
HSU.2020.16
Entscheid vom 3. März 2020
Besetzung Oberrichter Vetter, Vizepräsident
Gerichtsschreiber Schneuwly
Gesuchstellerin S. AG, _
vertreten durch lic. iur. Jörg Christian Schenkel, Rechtsanwalt, Möhr-
listrasse 97, Postfach, 8006 Zürich
Gesuchsgegne-
rin 1
E. AG, _
Gesuchsgegne-
rin 2
G. AG, _
Gesuchsgegne-
rin 3
S. GmbH, _
Gesuchsgegne-
rin 4
G. AG, _
Gesuchsgegne-
rin 5
P. AG, _
Gesuchsgegne-
rin 6
M. AG, _
Gesuchsgegne-
rin 7
E. AG, _
Gesuchsgegne-
rin 8
B. AG, _
Gesuchsgegne-
rin 9
L AG, _
Gegenstand Summarisches Verfahren betreffend Bauhandwerkerpfandrecht
- 2 -
Der Vizepräsident entnimmt den Akten:
1.
Die Gesuchstellerin ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Luzern. Sie be-
zweckt hauptsächlich _ [GB] B).
2.
Die Gesuchsgegnerinnen sind juristische Personen und haben alle ihren
Sitz im Kanton Luzern (GB 2.1-9). Sie sind jeweils Alleineigentümerinnen
von Stockwerkeinheiten an der P.-Strasse in B. (Stammgrundstück Nr. 123
GB B. [E-GRID 987]; GB C-D.10)
3.
Mit Gesuch vom 2. März 2020 (persönlich überbracht am 3. März 2020)
stellte die Gesuchstellerin die folgenden Rechtsbegehren:
- 3 -
Der Vizepräsident zieht in Erwägung:
1. Zuständigkeit
Gemäss Art. 60 ZPO prüft das Gericht von Amtes wegen, ob die Prozess-
voraussetzungen gegeben sind. Zu den Prozessvoraussetzungen gehört
unter anderem die örtliche und sachliche Zuständigkeit des Gerichts
(Art. 59 Abs. 2 lit. b ZPO).
2. Örtliche Zuständigkeit
Für den Erlass vorsorglicher Massnahmen ist das Gericht am Ort, an dem
die Zuständigkeit für die Hauptsache gegeben ist oder am Ort, wo die Mas-
snahme vollstreckt werden soll, zwingend örtlich zuständig (Art. 13 ZPO).
Für Klagen auf Errichtung gesetzlicher Grundpfandrechte ist das Gericht
am Ort, an dem das Grundstück im Grundbuch aufgenommen ist, zustän-
dig (Art. 29 Abs. 1 lit. c ZPO).
Die Grundstücke, auf welchen die Gesuchstellerin die insgesamt zehn Bau-
handwerkerpfandrechte vorläufig eintragen lassen will, befinden sich in B.
AG (D.1-D.10). Die örtliche Zuständigkeit der aargauischen Gerichte ist so-
mit gegeben.
3. Sachliche Zuständigkeit
3.1.
Das Handelsgericht ist für die Anordnung vorsorglicher Massnahmen auch
dann zuständig, wenn die Hauptsache noch nicht rechtshängig ist (Art. 6
Abs. 5 ZPO). Diese Zuständigkeit des Handelsgerichts gilt allerdings nur,
wenn die Zuständigkeit des Handelsgerichts für die Hauptsache gegeben
ist. Es ist daher zu prüfen, ob das Handelsgericht auch für die Hauptsache
zuständig sein könnte.
Im Gegensatz zu den (nicht zwingenden) örtlichen Gerichtsständen ist eine
Einlassung vor einem sachlich unzuständigen Gericht nicht möglich.1.
1 BGE 140 III 355 E. 2.4, 138 III 471 E. 3.1; VETTER, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger
([Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, 3. Aufl. 2016, Art. 6 N. 38 f. je m.w.N.
- 4 -
3.2.
Für vermögensrechtliche Streitigkeiten mit einem Streitwert von bis und mit
Fr. 30'000.00 gilt gestützt auf Art. 243 Abs. 1 ZPO das vereinfachte Verfah-
ren. Dieses ist vor dem Handelsgericht gemäss Art. 243 Abs. 3 ZPO aus-
geschlossen. Das vereinfachte Verfahren geht jeweils der sachlichen Zu-
ständigkeit des Handelsgerichts vor.2
3.3.
Die einfache Streitgenossenschaft besteht aus einer subjektiven Klagen-
häufung. Sie ist nur unter den in Art. 71 ZPO genannten Voraussetzungen
zulässig, insbesondere wenn die einzelnen Klagen auf gleichartigen Tatsa-
chen oder Rechtsgründen beruhen, die gleiche Verfahrensart anwendbar
ist und die gleiche sachliche Zuständigkeit gilt.3 Bei der einfachen Streitge-
nossenschaft bleibt gemäss Art. 93 Abs. 2 ZPO die Verfahrensart trotz Zu-
sammenrechnung des Streitwerte nach Art. 93 Abs. 1 ZPO erhalten.
Die sachliche Zuständigkeit des Handelsgerichts ist für Klagen gegen
Streitgenossen ausgeschlossen, wenn der Streitwert des betreffenden An-
spruchs Fr. 30'000.00 nicht übersteigt.4
3.4.
Vorliegend belaufen sich die Streitwerte der insgesamt zehn Klagen auf
zwischen Fr. 8'068.00 und Fr. 14'094.00 und liegen damit jeweils unter
Fr. 30'000.00 (auch die beiden objektiv gehäuften Klagen gegen die G. AG
betragen in der Summe lediglich Fr. 17'361.00)5. Sämtliche dieser Klagen
sind einzeln betrachtet somit im vereinfachten Verfahren durchzuführen.
Eine Änderung der Verfahrensart aufgrund der Zusammenrechnung der
einzelnen Streitwerte verbietet sich nach Art. 93 Abs. 2 ZPO. Demnach
sind die einzelnen Klagen auch im Rahmen der vorliegenden einfachen
passiven Streitgenossenschaft im vereinfachten Verfahren zu beurteilen.
Das Handelsgericht ist damit für das vorliegende Gesuch vom 2. März 2020
somit sachlich nicht zuständig.
3.5.
Aufgrund der obigen Ausführungen fehlt es an der Prozessvoraussetzung
der sachlichen Zuständigkeit des Handelsgerichts in der Hauptsache und
2 BGE 143 III 137, 139 III 457. Bestätigt in BGE 142 III 788, 142 III 515 und in BGer 4A_340/2017
vom 24. Juli 2017 E. 2.4. Kritisch SCHNEUWLY, Das Verhältnis der sachlichen Zuständigkeit der Handelsgerichte zum vereinfachten Verfahren de lege lata und de lege ferenda, SJZ 2018, S. 361 ff.
3 BGE 138 III 471 E. 5.1. 4 DAETWYLER/STALDER, Allgemeiner Verfahrensgang und Zuständigkeit des Handelsgerichts, in:
Brunner/Nobel (Hrsg.), Handelsgericht Zürich 1866-2016, 2016, S. 191. Siehe auch WINTSCH/MEYER, Streitwertaddition bei Klagenhäufung und einfacher Streitgenossenschaft, ZZZ 2016, S. 278 ff. m.w.N.
5 Vgl. dazu BGE 142 III 788 E. 4.
- 5 -
daher auch für vorsorgliche Massnahmen (Art. 59 Abs. 2 lit. b ZPO). Auf
das Gesuch ist demzufolge nicht einzutreten (Art. 59 Abs. 1 ZPO).
4.
Die Gerichtskosten betragen gestützt auf § 8 VKD Fr. 750.00 und werden
der Gesuchstellerin auferlegt. Mangels Aufwand sind den Gesuchsgegne-
rinnen 1-9 keine Parteientschädigungen zu entrichten.
Der Vizepräsident erkennt:
1.
Auf das Gesuch vom 2. März 2020 wird nicht eingetreten.
2.
Die Gerichtskosten in Höhe von Fr. 750.00 sind von der Gesuchstellerin zu
tragen.
3.
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen.
Zustellung an:
die Gesuchstellerin (mit Einzahlungsschein. Vorab per E-Mail: jo-
[email protected])
die Gesuchsgegnerinnen 1-9 (mit Kopie des Gesuchs vom 2. März
2020 [inkl. Beilagen])
Mitteilung an:
die Obergerichtskasse
Rechtsmittelbelehrung für die Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 ff.,
Art 90 ff. BGG)
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen, von der schriftlichen Eröff-
nung der vollständigen Ausfertigung des Entscheids an gerechnet, die Be-
schwerde an das Schweizerische Bundesgericht erhoben werden.
Die Beschwerde ist schriftlich oder in elektronischer Form beim Schweize-
rischen Bundesgericht einzureichen. Die Beschwerdeschrift ist in einer
Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit An-
gabe der Beweismittel und die Unterschriften bzw. eine anerkannte elekt-
ronische Signatur zu enthalten. In der Begründung ist in gedrängter Form
mailto:[email protected] mailto:[email protected]
- 6 -
darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid verfassungsmässige
Rechte (Art. 98 ff. BGG) verletzt. Die Urkunden, auf die sich die Partei als
Beweismittel beruft, sind beizulegen, soweit die Partei sie in den Händen
hat; ebenso ist der angefochtene Entscheid beizulegen (Art. 42 BGG).
Aarau, 3. März 2020
Handelsgericht des Kantons Aargau
2. Kammer
Der Vizepräsident: Der Gerichtsschreiber:
Vetter Schneuwly | 1,897 | 1,425 | AG_HG_002 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_002_-Handelsrecht-Bauhan_2020-03-03 | https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/gesetze___entscheide/gesetze_2/handelsrecht/Entscheid_des_Handelsgerichts_vom_3._Maerz_2020.pdf | null | nan |
||
9304d124-76f6-5c94-a889-05e5c0e25e4c | 1 | 417 | 869,832 | 967,766,400,000 | 2,000 | de | 2000
Strafprozessrecht
75
[...]
22
§ 56 Ziff. 3, 100 und 102 StPO. Art. 19 ZGB.
- Die Geltendmachung des Zeugnisverweigerungsrechts steht dem ur-
teilsfähigen Unmündigen selbständig zu (Erw. 2 c/cc).
- Für die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen bedarf der
urteilsfähige Unmündige - im Gegensatz zur Erhebung von Genugtu-
ungsansprüchen - der Zustimmungserklärung des gesetzlichen Vertre-
ters (Erw. 2 c/cc).
- § 102 StPO schliesst die Einvernahme eines Zeugen, welcher die Aus-
sagen anderer Personen zum gleichen Fall hat mitverfolgen können,
nicht aus (Erw. 2 c/dd).
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 1. Strafkammer, vom 27. September
2000 in Sachen StA gegen R.F.
Aus den Erwägungen
2c/cc) Entgegen der Auffassung des Angeklagten konnte die
Zivilklägerin ohne Zustimmung ihres Beistands über das ihr zuste-
hende Zeugnisverweigerungsrecht entscheiden.
Nach Art. 19 Abs. 2 ZGB können urteilsfähige Unmündige oder
Entmündigte selbständig Rechte ausüben, die ihnen um ihrer Per-
sönlichkeit willen zustehen. Volle Geschäftsfähigkeit kommt den
beschränkt Handlungsunfähigen somit im gesamten Bereich zu, der
eine besondere Beziehung zur Persönlichkeit des Handelnden auf-
2000
Obergericht
76
weist. Unter Ausübung der Rechte wird nicht nur die Geltendma-
chung eines subjektiven Rechtes verstanden, sondern die Gesamtheit
der Rechtsgeschäfte, der rechtsgeschäftlichen Handlungen und Wil-
lenserklärungen, die in irgendeiner Weise die Rechtsbeziehung des
Erklärenden oder eines Dritten beeinflussen. Dazu zählt insbesondere
auch die prozessuale Geltendmachung der höchstpersönlichen
Rechte. Der urteilsfähige Unmündige oder Entmündigte ist daher in
allen Streitigkeiten über höchstpersönliche Ansprüche im Sinne von
Art. 19 Abs. 2 ZGB prozessfähig (Pedrazzini/Oberholzer, Grundriss
des Personenrechts, 4.A., Bern 1993, S. 87 f.; Bucher, Berner Kom-
mentar, Das Personenrecht, Die natürlichen Personen, Kommentar zu
den Art. 11 - 26 ZGB, Bern 1976, N. 196 f. zu Art. 19 Abs. 2 ZGB).
Auch die Berufung auf das Zeugnisverweigerungsrecht im Strafpro-
zess steht dem Urteilsfähigen jeden Alters selbständig zu, da die
Gründe der Gewährung eines solchen in der Person der Berechtigten
liegen und als höchstpersönlich gelten müssen (Bucher, Berner
Kommentar, a.a.O., N. 316 zu Art. 19 Abs. 2 ZGB; Hauser, Der Zeu-
genbeweis im Strafprozess mit Berücksichtigung des Zivilprozesses,
Zürich 1974, S. 147).
Im Bereich der Ausübung höchstpersönlicher Rechte kann der
Betroffene einen Vertreter bestellen, insbesondere durch Vollmacht-
erteilung einen Anwalt zur Interessenwahrung ausserhalb wie im
Rahmen eines Prozesses ermächtigen (BGE 112 IV 9 ff.; Bucher,
a.a.O., N. 196 ff. und 313 zu Art. 19 Abs. 2 ZGB). Für die Geltend-
machung von Schadenersatzansprüchen, sei es ausserprozessual, im
Zivilprozess oder adhäsionsweise im Strafprozess, bedarf die urteils-
fähige unmündige oder entmündigte Person indessen - dies im Ge-
gensatz zur Erhebung von Genugtuungsansprüchen - der Zustim-
mung des gesetzlichen Vertreters, da hier nicht mehr die Wahrung
höchstpersönlicher Rechte, sondern der Ausgleich für eine vermö-
gensmässige Einbusse angestrebt wird (Pedrazzini, a.a.O., S. 87;
Bucher, a.a.O., N. 323 zu Art. 19 Abs. 2 ZGB; ZBJV 99, S. 107). Die
Zustimmungserklärung des gesetzlichen Vertreters ist selbst bei
2000
Strafprozessrecht
77
formbedürftigen Geschäften an keine besondere Form gebunden. Sie
kann explizit oder auch durch konkludentes Handeln erfolgen. Die
Zustimmung kann im Voraus erteilt werden, sie kann gleichzeitig mit
der Vornahme des Geschäftes erfolgen oder sie kann auch im Nach-
hinein geäussert werden (Pedrazzini, a.a.O., S. 90).
Aus diesen Ausführungen folgt, dass die Zivilklägerin ohne Zu-
stimmung ihres Beistands auf das ihr zustehende Zeugnisverweige-
rungsrecht verzichten konnte. Sie wäre auch berechtigt gewesen, die
Psychologin B. vom Berufsgeheimnis zu entbinden, sofern letztere
einem solchen unterstanden hätte. Gemäss den obigen Ausführungen
durfte sie auch selbständig einen Rechtsvertreter bzw. -vertreterin
beauftragen. Einzig für die Geltendmachung der Zivilforderung be-
nötigte sie die Zustimmung ihres Beistands. Aus einem Schreiben der
Rechtsvertreterin an das Bezirksgericht B. ergibt sich, dass am
8. September 1999 und somit kurz vor der vorinstanzlichen Verhand-
lung eine ausführliche Besprechung zwischen der Rechtsvertreterin
und der Zivilklägerin stattfand, an welcher auch ihr Beistand teil-
nahm. Zudem erklärte die Zivilklägerin vor Vorinstanz, dass ihr Bei-
stand über die Verhandlung orientiert sei. Es ist daher davon auszu-
gehen, dass dieser über das vorliegende Verfahren im Bilde war und
zudem mit der Geltendmachung der Zivilforderung einverstanden
war. Es liegt somit zumindest eine konkludente Zustimmung des
Beistands zur Geltendmachung der gestellten Schadenersatzforde-
rung vor, weshalb die Vorinstanz zu Recht auf diese eingegangen ist.
dd) Im Weiteren macht die Verteidigung mit Hinweis auf § 102
StPO geltend, die Einvernahme von H. und A. sei nicht zulässig, weil
sie bei der Einvernahme der Zivilklägerin anwesend gewesen seien
und H. die gesamte Verhandlung vom 31. August 2000 mitverfolgt
habe.
Entgegen den Ausführungen der Verteidigung schliesst § 102
StPO die Einvernahme eines Zeugen, welcher die Aussagen anderer
Personen zum gleichen Fall hat mitverfolgen können, nicht aus. Eine
solche Zeugeneinvernahme ist ohne weiteres dann zulässig, wenn
2000
Obergericht
78
sich (wie hier) ihre Notwendigkeit erst im Verlaufe des Verfahrens
herausstellt; allerdings sind die erwähnten Kenntnisse des Zeugen bei
der Würdigung seiner Aussagen entsprechend zu berücksichtigen. | 1,319 | 1,041 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2000-22_2000-09-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-22.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-22.pdf | AGVE_2000_22 | null | nan |
93194b37-4671-59be-8ec5-d5f22fb1b038 | 1 | 417 | 871,417 | 1,117,584,000,000 | 2,005 | de | 2005
Obergericht
28
B. Obligationenrecht
2
§ 7 Abs. 2 VKD, Art. 343 Abs. 2 OR
Kostenvorschuss in arbeitsgerichtlichen Verfahren; kein Abzug des
Grenzbetrages von Fr. 30'000.-- gemäss Art. 343 OR bei der Berechnung
des Grundansatzes gemäss § 7 Abs. 2 VKD.
Aus dem Entscheid der Inspektionskommission vom 1. Juni 2005 i.S. R. R.
c. Arbeitsgericht Z.
Aus den Erwägungen
3. [...]
d) Nach dem Gesagten beträgt der Streitwert im vorlie-
genden Fall Fr. 35'150.--. Die Berechnung der Höhe des Verfahrens-
kostenvorschusses ist gestützt auf § 7 Abs. 2 VKD vorzunehmen.
aa) Gemäss § 7 Abs. 2 VKD beträgt der Grundansatz in
arbeitsgerichtlichen Streitsachen bei einem Streitwert zwischen
Fr. 8'000.-- und Fr. 80'000.-- 7,5 % des um Fr. 8'000.-- verminderten
Streitwertes. Im vorliegenden Fall ergibt sich somit folgende Berech-
nung:
Streitwert (Fr. 35'150.--) ./. Abzug (Fr. 8'000.--) * 7,5 %
[...]
bb) Die Ausführungen des Beschwerdeführers, es sei gestützt
auf Art. 343 OR bei der Berechnung des Grundansatzes ein Abzug
von Fr. 30'000.-- vorzunehmen, gehen an der Sache vorbei. Art. 343
OR normiert für einen Streitwert bis Fr. 30'000.--, dass den Parteien
weder Gebühren noch Auslagen des Gerichts auferlegt werden.
Jedoch derogiert Art. 343 OR bei einem Streitwert über Fr. 30'000.--
die Regelung von § 7 Abs. 2 VKD nicht. Ein Streitwertabzug von
Fr. 30'000.-- findet im Gesetz keine Stütze und die Voraussetzungen
für eine Auslegung gegen den Wortlaut von § 7 Abs. 2 VKD sind
nicht erfüllt (vgl. Beschluss der 1. und 2. Zivilabteilung des Ober-
2005
Zivilrecht
29
gerichts des Kantons Aargau vom 18. November 1992 mit Hinw. auf
BGE 114 II 406 Erw. 3, 113 Ia 444 Erw. 3, 113 V 1523 Erw. 3a).
Eine solche Auslegung ist demnach abzulehnen. | 511 | 364 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2005-2_2005-06-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2005-2.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2005-2.pdf | AGVE_2005_2 | null | nan |
93e73d30-b60f-576f-9c79-af7e7bfda530 | 1 | 417 | 870,189 | 1,051,660,800,000 | 2,003 | de | 2003
Obergericht/Handelsgericht
68
[...]
19
Art. 12 lit. a BGFA
Unzulässigkeit der Rechnungsstellung für im Aufsichts- / Disziplinarver-
fahren getätigte Aufwendungen gestützt auf das ursprüngliche Mandats-
verhältnis.
Aus dem Entscheid der Anwaltskommission vom 30. April 2003 i.S. P. W.
Sachverhalt
A. Der beanzeigte Anwalt hatte den Anzeiger in Sachen ,,Unfall
vom 16.2.1999" betreffend haftpflicht- und sozialversicherungs-
rechtlichen Folgen vertreten. In der Vollmacht vom 26. September
2001 wurden betreffend Honorar die Richtlinien des Aargauischen
Anwaltsverbandes anwendbar erklärt, soweit nicht zwingend der
staatliche Anwaltstarif anwendbar wäre. Ausserdem wurde der bean-
zeigte Anwalt ausdrücklich ermächtigt, bei ihm eingegangene Zah-
lungen zu verrechnen.
B. Mit Schreiben vom 30. Oktober 2002 wandte sich der Anzei-
ger an die Anwaltskommission und führte aus, der beanzeigte Anwalt
habe eine Überweisung auf sein Konto als Fehler der Helsana be-
2003
Zivilprozessrecht
69
zeichnet, obwohl er der Helsana ausdrücklich die entsprechende An-
weisung erteilt habe. Ausserdem habe er Fr. 2'000.-- von der Zahlung
der Helsana zurückbehalten, ohne ihn, den Anzeiger, vorher zu be-
nachrichtigen und ohne vorgängig Rechnung gestellt zu haben. Der
Anzeiger führte weiter aus, obwohl er mit vielen Punkten der Rech-
nung des beanzeigten Anwalts nicht einverstanden sei, werde er diese
bezahlen. Er wolle aber darauf hinweisen, dass nach seiner Ansicht
dem Ansehen des Anwaltsberufes durch solch willkürliche Handlun-
gen geschadet werde.
C. Am 6. November 2002 erstattete der beanzeigte Anwalt seine
Stellungnahme. Mit Schreiben vom gleichen Datum stellte er dem
Anzeiger weitere Fr. 330.20 in Rechnung. Er begründete dies mit
zwei Briefen vom 18. und 28. Oktober 2002 an den Anzeiger sowie
seiner Stellungnahme an die Anwaltskommission.
Aus den Erwägungen
4. (...)
c) (...) Nicht angehen kann es, dass der beanzeigte Anwalt ge-
stützt auf das ursprüngliche Mandat betreffend Unfall vom 16. Fe-
bruar 1999 dem Klienten seine Aufwendungen im Aufsichts- / Diszi-
plinarverfahren in Rechnung stellt, denn der ursprünglich durch den
Klienten erteilte Auftrag deckt die hier in Rechnung gestellten Auf-
wendungen nicht mehr ab. Es ist auch nicht zulässig, dass diese Auf-
wendungen als ,,Nachbetreuung" bezeichnet und auf diese Weise
zum Auftrag geschlagen werden (so aber der beschuldigte Anwalt in
seiner Stellungnahme vom 19. November 2002).
Der beanzeigte Anwalt war somit zweifellos nicht berechtigt,
die Stellungnahme an die Anwaltskommission dem Anzeiger gestützt
auf den ursprünglichen Auftrag in Rechnung zu stellen. Es stellt sich
deshalb die Frage, ob er damit auch gegen eine der in Art. 12 BGFA
aufgeführten Berufspflichten verstossen hat.
d) Art. 12 lit. a BGFA verpflichtet den Anwalt, seinen Beruf
sorgfältig und gewissenhaft auszuüben. Diese Bestimmung stellt
gemäss Botschaft zum BGFA eine Generalklausel dar. Die Pflicht zur
2003
Obergericht/Handelsgericht
70
Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit betrifft sowohl das Verhältnis zum
Klienten wie auch das Verhalten gegenüber Gerichtsbehörden. Von
den Anwälten wird in ihrer gesamten Anwaltstätigkeit ein korrektes
Verhalten verlangt (Botschaft des Bundesrates zum BGFA vom
28. April 1999 [Botschaft], Ziff. 233.21). Sinngemäss entspricht
diese Bestimmung in etwa dem bisher in § 14 Abs. 1 und 2 AnwG
enthaltenen Leitsatz, wonach der Anwalt sich in seinem Verhalten in
der Ausübung des Berufes sowie durch sein sonstiges Geschäftsge-
baren der Achtung würdig zeigen soll, die sein Beruf erfordert und
das Interesse seines Auftraggebers gewissenhaft und nach Recht und
Billigkeit zu wahren hat. Die bisherige Lehre und Rechtsprechung zu
§ 14 Abs. 1 und 2 AnwG kann deshalb grösstenteils auf den neuen
Art. 12 lit. a BGFA übernommen werden, wobei auch die in lit. b bis
j dieser Bestimmung enthaltenen Konkretisierungen mitzuberück-
sichtigen sind.
Die Sorgfaltspflichten des Anwaltes beinhalten nicht nur Geset-
zeskenntnisse sowie Kenntnisse der Judikatur und Literatur, er muss
auch Instruktionsgespräche und Prozesse führen sowie dabei Rechts-
probleme erkennen und seine Rechtskenntnisse anwenden können.
Der Klient darf vom Anwalt besondere Zuverlässigkeit erwarten, wo-
bei "gewisse menschliche Unvollkommenheiten" toleriert werden.
Das Mass der geforderten Sorgfalt bestimmt sich nach dem Durch-
schnittsverhalten, gemessen an Personen der gleichen Berufsgruppe
in der gleichen Situation. Entscheidend sein können der Schwierig-
keitsgrad und die Natur des Mandates sowie die zur Ausführung
desselben notwendigen Fachkenntnisse (G. A. Testa, Die zivil- und
standesrechtlichen Pflichten des Rechtsanwaltes gegenüber dem
Klienten, Zürich 2001, S. 51).
e) Die (teilweise) Rechnungsstellung für Aufwendungen in ei-
nem Verfahren, das noch nicht abgeschlossen ist, ist nur insofern zu-
lässig, als der Anwalt effektiv im Interesse des Mandanten, also ge-
stützt auf ein Mandat, tätig ist. Testa befürwortet in solchen Fällen
sogar eine periodische Abrechnung der Teilaufwendungen (Testa,
a.a.O., S. 74).
Bei Aufwendungen, welche der Anwalt in einem ihn selber be-
treffenden Aufsichts- bzw. Disziplinarverfahren tätigt, sieht die Si-
2003
Zivilprozessrecht
71
tuation dagegen anders aus. Solche Aufwendungen erfolgen nicht im
Interesse des Klienten und lassen sich nicht mehr auf das ursprüngli-
che Mandat zurückführen. (...)
(...)
Mit seinem Verhalten schadet der beanzeigte Anwalt dem Anse-
hen des Anwaltsstandes. Ein solches Verhalten ist eines Anwaltes
nicht würdig und verstösst gegen die sich aus Art. 12 lit. a BGFA
ergebende Pflicht zu sorgfältiger und gewissenhafter Berufsausübung
sowie korrektem Verhalten. | 1,233 | 1,035 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2003-19_2003-04-30 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-19.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-19.pdf | AGVE_2003_19 | null | nan |
9440cc72-5029-5934-84cb-ac633a1e8c80 | 1 | 417 | 870,398 | 1,013,558,400,000 | 2,002 | de | 2002
Obergericht/Handelsgericht
80
[...]
26
Nachweis der Berufshaftpflichtversicherung
Der Registereintrag bedingt den Nachweis einer Berufshaftpflichtversi-
cherung nicht. Art. 12 lit. f BGFA erklärt jedoch den Abschluss einer ge-
nügenden Berufshaftpflichtversicherung zur Berufsregel. Dem Abschluss
einer genügenden Berufshaftpflichtversicherung ist im Hinblick auf den
Verkehrsschutz bedeutendes Gewicht beizumessen. Da die Aufsichtstätig-
keit der Anwaltskommission eine ständige Kontrolle der Einhaltung der
Berufsregeln, so auch in Bezug auf den Abschluss einer genügenden Be-
rufshaftpflichtversicherung, umfasst, rechtfertigt es sich, von den Anwäl-
tinnen und Anwälten, die sich ins Anwaltsregister eintragen lassen wollen,
einen Nachweis über den Versicherungsabschluss, unter Angabe der Ver-
sicherungsgesellschaft und der Höhe der Deckungssumme, zu verlangen.
Ebenso sind die registrierten Anwältinnen und Anwälte darüber hinaus
zu verpflichten, eine allfällige Änderung des Versicherungsschutzes zu
melden. Bei Fehlen des Nachweises des Versicherungsabschlusses kann
der Registereintrag nicht verweigert werden, die Anwaltskommission be-
hält sich für einen solchen Fall aber vor, ein Disziplinarverfahren wegen
Verletzung einer Berufsregel einzuleiten.
Beschluss der Anwaltskommission vom 13. Februar 2002 | 260 | 207 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2002-26_2002-02-13 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-26.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-26.pdf | AGVE_2002_26 | null | nan |
95920618-f7e3-57ce-a6fb-9b15dff9d558 | 1 | 417 | 870,882 | 1,280,620,800,000 | 2,010 | de | 2010
Obergericht
48
[...]
11
Art. 240 Abs. 1 und 2 StGB.
Der Grundtatbestand nach Art. 240 Abs. 1 StGB ist bereits erfüllt, wenn
die Fälschung nicht leicht erkennbar oder nicht bloss wenige Falsifikate
mit geringem Nominalwert hergestellt worden sind, auch wenn die Vorge-
hensweise des Täters einfach war und er nur geringe kriminelle Energie
aufgewendet hat. Das gebietet der Umstand, dass die Voraussetzung zur
Annahme des privilegierten Tatbestands von Art. 240 Abs. 2 StGB nicht
das Vorliegen eines "leichten", sondern eines "besonders leichten" Falles
ist.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 1. Strafkammer, vom 18. August
2010, i.S. P.L.F. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau
(SST.2010.145)
Aus den Erwägungen
2.2.3. Allgemein gültige Kriterien, wann ein besonders leichter
Fall vorliegt, wurden von Rechtsprechung und Lehre bislang nicht
entwickelt. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung liegt ein sol-
cher vor, wenn die Fälschung für jedermann leicht erkennbar ist oder
wenn nur wenige Falsifikate mit geringem Nominalwert hergestellt
worden sind (BGE 133 IV 256 E. 3.2 mit Hinweisen). Es genügt
nicht, dass ein Fall bloss als leicht erscheint. Andererseits wird in der
Rechtsprechung ausgeführt, das Vorgehen oder der Nominalwert der
Fälschungen müsse eine kriminelle Energie offenbaren, welche die
Annahme des Grundtatbestandes mit einer Mindeststrafe von einem
Jahr Freiheitsstrafe gebiete (vgl. BGE 133 IV 256 E. 3.2).
Die obengenannten Kriterien helfen in einem Fall, wie er vorlie-
gend zu beurteilen ist, nicht weiter, denn in diesem kann einerseits
aufgrund der Vorgehensweise des Täters und des Nominalwerts nicht
ernsthaft von einer kriminellen Energie gesprochen werden, die eine
Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe gebieten würde. Ande-
2010
Strafrecht
49
rerseits liegt aber aufgrund der Qualität, der Anzahl und des Nomi-
nalwerts der Falsifikate auch kein "besonders" leichter Fall vor. Nach
dem oben Gesagten ist jedoch, auch wenn das Bundesgericht in
einem vergleichbaren Fall (BGE 133 IV 256) unter Hinweis auf den
richterlichen Ermessensspielraum entschieden hat, die Annahme des
privilegierten Tatbestandes verletze kein Bundesrecht, immer dann
vom Grundtatbestand auszugehen, wenn kein besonders leichter Fall
vorliegt. Entscheidend für die Annahme des privilegierten Tatbestan-
des der Geldfälschung ist somit ausschliesslich, ob die Fälschung für
jedermann leicht erkennbar war oder nur wenige Falsifikate mit
geringem Nominalwert hergestellt worden sind.
2.3.3. Der Angeklagte hat gemäss diesbezüglich anerkanntem
Sachverhalt mit einem professionellen Farblaserkopierer bei seinem
damaligen Arbeitgeber 26 falsche Banknoten Fr. 20.00, 48 falsche
Banknoten Fr. 50.00 und 13 falsche Banknoten Fr. 100.00, insge-
samt 87 falsche Banknoten mit einem Nominalwert von Fr. 4'220.00,
hergestellt.
Sowohl die Anzahl von 87 Falsifikaten als auch der Nominal-
wert von Fr. 4'220.00 sprechen gegen die Annahme eines besonders
leichten Falles (L
ENTJES
M
EILI
/
K
ELLER
,
Basler
Kommentar, StGB
II, 2. Aufl., Basel 2007, N. 22 zu Art. 240). Bei 87 Banknoten kann
nicht mehr von bloss wenigen Falsifikaten gesprochen werden. Auch
der Nominalwert von Fr. 4'220.00 ist nicht gering. Dieser Betrag ist
mehr als zehn mal höher als der vom Bundesgericht betreffend
Art. 172
ter
StGB festgelegte Grenzwert für die Annahme eines "gerin-
gen Vermögenswertes" (Fr. 300.00, BGE 121 IV 261). Auch im Ver-
gleich zu dem vom Bundesgericht bei der Sachbeschädigung als
grossen Schaden im Sinne von Art. 144 Abs. 3 StGB festgelegten
Grenzwert von Fr.
10'000.00 (Urteil des Bundesgerichts
6B_202/2010 vom 31. Mai 2010) kann der Nominalwert der Falsifi-
kate von Fr. 4'220.00 nicht mehr als so gering bezeichnet werden,
dass von einem besonders leichten Fall gesprochen werden könnte.
Werden die gefälschten Banknoten betrachtet, so sehen sie wie
echte aus. Die Farben sind originalgetreu und beim Kopieren sind
Merkmale gebrauchter Banknoten wie z.B. Faltstriche übernommen
worden. Wären die zur Kennzeichnung als Falsifikate angebrachten
2010
Obergericht
50
Löcher nicht vorhanden, schöpfte der Betrachter keinen oder höchs-
tens beim Befühlen allenfalls einen gewissen Verdacht. Die vom An-
geklagten hergestellten Banknoten sind nur bei genauer Überprüfung
der Sicherheitsmerkmale bei guten Verhältnissen (gutes Licht, genü-
gend Zeit, keine Durchmischung mit echten Banknoten) von echten
Banknoten zu unterscheiden. Es trifft zwar zu, dass der Angeklagte
die Falsifikate nicht speziell nachbearbeitet hat (z.B. durch Nach-
ahmung von Sicherheitsmerkmalen) und er gewöhnliches Papier ver-
wendet hat. Das führt aber nicht dazu, dass es sich vorliegend um
leicht erkennbare oder gar plumpe Falsifikate handeln würde. Auf-
grund der eigenen Wahrnehmung steht für das Obergericht fest, dass
die Qualität der Falsifikate so gut ist, dass sie nicht für jedermann
leicht als gefälscht erkennbar sind. Dieser Befund deckt sich mit den
bei der Fachstelle des Polizeikommandos Aargau vorgenommenen
Abklärungen. Auch in den Augen dieser Fachstelle soll es sich bei
den Falsifikaten um solche sehr guter Qualität handeln. Die Fäl-
schung sei von blossem Auge kaum sichtbar (Rapport der Kantons-
polizei Aargau vom 20. November 2008, act. 211).
Nicht entscheidend für die Frage, ob ein besonders leichter Fall
der Geldfälschung vorliegt, sind der Zeitaufwand des Angeklagten
für die Herstellung der Falsifikate und die Gründe, weshalb er diese
hergestellt hat. Diese Punkte sind im Rahmen der Strafzumessung zu
berücksichtigen.
Zusammenfassend gelangt das Obergericht zum Schluss, dass
kein besonders leichter Fall im Sinne von Art. 240 Abs. 2 StGB vor-
liegt. (...) | 1,300 | 1,060 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2010-11_2010-08-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2010-11.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2010-11.pdf | AGVE_2010_11 | null | nan |
95f97a24-13ad-5a22-acca-c5a4a456070b | 1 | 417 | 871,604 | 1,083,456,000,000 | 2,004 | de | 2004
Obergericht/Handelsgericht
76
21
Art. 197 Ziff. 3 StGB, Pornographie:
Die auf sich selbst reduzierte Sexualität muss nicht begriffsnotwendig mit
Darstellungen des Genitalbereichs verbunden sein. Gewisse auf sexuellen
Lustgewinn ausgerichtete sadomasochistische Praktiken bedürfen des
Einbezugs des Genitalbereichs nicht.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 2. Strafkammer, vom 27. Mai 2004
i.S. Staatsanwaltschaft gegen U.G.
Sachverhalt
Der Inhalt der beim Angeklagten beschlagnahmten Videofilme
beschränkt sich darauf, dass weibliche Personen mit der Hand und
verschiedenen Gegenständen wie Tischtennisschlägern, Ruten oder
Stöcken durch Schläge aufs Gesäss gezüchtigt werden. Dabei entste-
hen Hautrötungen, Striemen und blutunterlaufene, fast aufgeplatzte
Prellungen. Die Züchtigungen sind teilweise intensiv und von langer
Dauer. Die Frauen erleiden dabei Schmerzen und geben dies durch
Wimmern, Stöhnen und Schmerzschreie kund. Auch optisch sind die
Aufnahmen auf die Darstellung der Züchtigungen und der erlittenen
Schmerzen ausgerichtet. Der Genitalbereich ist in die Handlungen
nicht einbezogen und wird in den Aufnahmen auch nicht resp. ledig-
lich in einem unbedeutenden Ausmass gezeigt.
Aus den Erwägungen
2. Wer pornographische Schriften, Ton- oder Bildaufnahmen,
Abbildungen, andere Gegenstände solcher Art oder pornographische
Vorführungen, die sexuelle Handlungen unter anderem mit Gewalt-
tätigkeiten zum Inhalt haben, einführt und lagert, wird mit Gefängnis
oder mit Busse bestraft (Art. 197 Ziff. 3 StGB). Seit dem 1. April
2002 wird zudem mit Gefängnis bis zu einem Jahr oder mit Busse
2004
Strafrecht
77
bestraft, wer solche Gegenstände oder Vorführungen, die sexuelle
Handlungen mit Gewalttätigkeiten zum Inhalt haben, erwirbt, sich
über elektronische Mittel oder sonst wie beschafft oder besitzt
(Art. 197 Ziff. 3
bis
StGB).
Der Begriff der Pornographie umschreibt Darstellungen oder
Darbietungen sexuellen Inhalts, die in der Regel sexuelles Verhalten
aus seinen menschlichen Bezügen heraustrennen und dadurch ver-
gröbern und aufdringlich wirken lassen, zum Beispiel durch Dar-
stellung sexueller Vorgänge, die Sexualität in fortschreitender Steige-
rung verzeichnet und auf sich selbst reduziert (Botschaft des Bundes-
rats über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuchs vom
26. Juni 1985 in: Bundesblatt 1985 II S. 1089). Dadurch wird der
Mensch zum blossen Sexualobjekt erniedrigt (Jenny, Kommentar
zum Schweizerischen Strafrecht, 4.
Band, Bern
1997, N
4 zu
Art. 197 mit Hinweisen). Die Vorinstanz verbindet unter Hinweis auf
Matthias Schwaibold/Kaspar Meng (Basler Kommentar, Strafgesetz-
buch II, Basel/Genf/München 2003, N 14 zu Art. 197) den Begriff
der Pornographie mit der Konzentration der Darstellungen auf den
Genitalbereich mit der Folgerung, dass Pornographisches ohne Be-
zug zum anatomischen Genitalbereich strafrechtlich nicht denkbar
sei (Urteil S. 10; vgl. dazu auch Rehberg/Schmid/Donatsch, Straf-
recht III, 8. Aufl., Zürich 2003, S. 453, wo als Erfordernis ebenfalls
die übermässige Betonung des Genitalbereichs in der Darstellung
sexueller Handlungen angeführt wird). Die Lehrmeinung im Basler
Kommentar mit der Konzentration der Darstellungen auf den Geni-
talbereich verweist auf die Botschaft des Bundesrats (Botschaft
a.a.O., S. 1089). Dort finden sich jedoch keine derartigen Ausfüh-
rungen, und es ist - wie gerade im zu beurteilenden Verfahren festge-
stellt werden kann - auch nicht einsehbar, weshalb die auf sich selbst
reduzierte Sexualität begriffsnotwendig mit Darstellungen des Geni-
talbereichs verbunden sein müsste. Wohl dürfte dies in aller Regel
der Fall sein, jedoch bedürfen gerade gewisse auf sexuellen Lustge-
winn ausgerichtete sadomasochistische Praktiken des Einbezugs des
Genitalbereichs nicht und sind trotzdem zu den pornographischen
Handlungen zu zählen. Damit im Einklang steht ohne weiteres die
Definition von Trechsel (Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurz-
2004
Obergericht/Handelsgericht
78
kommentar, 2. Aufl., Zürich 1997, N 4 zu Art. 197), dass die Dar-
stellung eine aus jedem realistischen Zusammenhang gerissene,
übersteigerte und auf sich selbst konzentrierte Sexualität zum Gegen-
stand hat. Pornographische Erzeugnisse leben vom betonten Hinse-
hen. Wo Zielrichtung und demonstrative Darstellung zusammen-
kommen, liegt Pornographie vor. Sie ist objektiv darauf ausgerichtet,
beim Konsumenten geschlechtliche Erregung zu wecken und den
Leser, Betrachter oder Zuhörer sexuell aufzureizen (Trechsel, a.a.O.,
N 4 zu Art. 197; Rehberg/Schmid/Donatsch a.a.O., S. 453).
Zentral für die Pornographie ist die sexuelle Handlung. Die
Vorinstanz qualifiziert diese unter Bezugnahme auf Rehberg/Schmid
(Strafrecht III, Zürich 1997, S. 380) als eine körperliche Betätigung
am eigenen Körper oder demjenigen eines anderen Menschen, die
unmittelbar auf die Erregung oder Befriedigung geschlechtlicher
Lust - wenn auch nur bei einem von zwei Beteiligten - gerichtet ist.
Ob der direkte Sexualbezug gegeben ist, kann sich nur nach dem
äusseren Erscheinungsbild der Betätigung ergeben, das allein einen
ausreichenden Anknüpfungspunkt für die Beurteilung der Handlung
zu bieten vermag. Diese muss stets unter Berücksichtigung aller Um-
stände vom Standpunkt eines aussenstehenden objektiven Betrach-
ters aus erfolgen (Urteil S. 8). Stratenwerth/Jenny (Schweizerisches
Strafrecht, Besonderer Teil I, 6. Aufl., Bern 2003, S. 147) gehen auf
ambivalente Verhaltensweisen ein, deren sexuelle Bedeutung davon
abhängen soll, welche Absicht der Täter mit ihnen verfolgt, und füh-
ren im Zusammenhang mit Handlungen, die sich äusserlich nicht ein-
deutig als geschlechtlich bezogen darstellen mögen, aus, dass am
Rückgriff auf die Motivation des Täters gelegentlich kein Weg vor-
beiführe. Als Beispiele sprechen sie sexuell motivierte Akte der Ag-
gression mit Schlägen in den Unterleib, auf das Gesäss oder auf die
Brust an, um sich durch die körperliche Misshandlung sexuellen
Lustgewinn zu verschaffen. Sie verneinen die Qualifikation als se-
xuelle Handlung dann, wenn der sexuelle Hintergrund des Verhaltens
für niemanden ausser dem Täter erkennbar ist.
(...)
3. a) In den im Verfahren zu beurteilenden Filmen werden - als
einzigem Inhalt - weibliche Personen dargestellt, die unter Stöhnen
2004
Strafrecht
79
und Wimmern und Bitten um Innehaltung von Personen männlichen
Geschlechts mit Schlägen aufs nackte Gesäss gezüchtigt werden.
Ebenso wie die Anwendung von Gewalt die Darstellung dominiert,
ist deren gleichzeitige Sexualbezogenheit auch für einen neutralen
objektiven Betrachter offensichtlich. Es handelt sich nicht um Ge-
walt als Aggression aus Wut, Hass, reinem Zerstörungswillen oder
ähnlichem, sondern um sadistische Praktiken, die unmittelbar und
vordringlich der Erregung oder Befriedigung sexueller Lust dienen.
Es kann deshalb nicht davon gesprochen werden, dass die Gewalt-
anwendung vom sexuellen Kontext losgelöst wäre, sondern im Ge-
genteil bildet sie die Ausdrucksform des so gearteten sexuellen Ver-
haltens. Deshalb ist nicht Art. 135 StGB anzuwenden, sondern stellen
die gezeigten Praktiken tatbestandsmässiges Verhalten im Sinne von
Art. 197 StGB dar, selbst wenn sie nicht auf den Genitalbereich der
Frauen bezogen sind. Auch hier wird die auf diese Weise ausge-
drückte Sexualität durch die Beschränkung der Handlungen auf die
Züchtigungen auf sich selbst reduziert. Die Rahmengeschehnisse
sind blosse "Aufhänger" zur Darstellung der Züchtigungshandlungen
und dermassen nebensächlich und gesucht, dass keinesfalls ein Ge-
samtzusammenhang hergestellt werden könnte.
Unter diesen Umständen ist nicht nur mit der Vorinstanz festzu-
stellen, dass es sich um sexuelle Handlungen handelt und dabei Ge-
walt angewendet wird, die zum Teil in echte körperliche Misshand-
lungen mündet, sondern entgegen deren Schlussfolgerungen sind
diese Handlungen als pornographisch im Sinne des Gesetzes zu be-
zeichnen, selbst wenn sie sich nicht auf den Genitalbereich im enge-
ren Sinne beziehen. | 1,757 | 1,438 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2004-21_2004-05-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2004-21.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2004-21.pdf | AGVE_2004_21 | null | nan |
962685fb-eeec-5baa-bd80-76f3f0d9f0a4 | 1 | 417 | 870,467 | 1,346,716,800,000 | 2,012 | de | 2012
Zivilprozessrecht
29
II. Zivilprozessrecht
2
Art. 121 ZPO. Beschwerdelegitimation der Gegenpartei im Verfahren be-
treffend Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 4. Zivilkammer, vom 6. September
2012 in Sachen B.O. F. gegen D.R. B. (ZSU.2012.77)
Aus den Erwägungen
2.
Gemäss Art. 121 ZPO kann der Entscheid mit Beschwerde an-
gefochten werden, wenn die unentgeltliche Rechtspflege ganz oder
teilweise abgelehnt oder entzogen wird. Beschwerdelegitimiert ist
die gesuchstellende Partei. Die Gegenpartei ist mangels Rechts-
schutzinteresses nicht legitimiert (Botschaft des Bundesrats zur
Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO] vom 28. Juni 2006
S. 7303; Huber, in: Brunner/Gasser/Schwander [Hrsg.], Schweizeri-
sche Zivilprozessordnung, Kommentar, 2011, Art. 121 N. 7). Ob sie
zur Beschwerde legitimiert ist, wenn die unentgeltliche Rechtspflege
bewilligt wird, ist umstritten. Gemäss Botschaft kann sie gegen eine
Befreiung von der Sicherheitsleistung für die Parteientschädigung
Beschwerde gemäss Art. 103 ZPO führen (Botschaft S. 7303). Da-
nach ist sie nicht legitimiert, gegen einen die unentgeltliche Rechts-
pflege bewilligenden Entscheid Beschwerde gemäss Art. 121 ZPO zu
führen. Dieser Auffassung folgt ein Teil der Lehre, welche dafürhält,
dass der Gegenpartei die Beschwerde gemäss Art. 103 ZPO offen-
steht, sofern mit der Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege
zugleich die Befreiung von der Sicherheitsleistung für die Partei-
entschädigung verfügt wird (Huber, a.a.O., Art. 121 N. 7; Rüegg, in:
Spühler/Tenchio/Infanger [Hrsg.], Basler Kommentar, Schweizeri-
sche Zivilprozessordnung, 2010, Art. 121 N. 1; Gasser/Rickli,
2012
Obergericht
30
Schweizerische Zivilprozessordnung, Kurzkommentar, 2010,
Art. 121 N. 2; Köchli, in: Baker & McKenzie [Hrsg.], Schweizeri-
sche Zivilprozessordnung, Handkommentar, 2010, Art. 121 N. 2;
Mohs, in: Gehri/Kramer [Hrsg.], Schweizerische Zivilprozessord-
nung, Kommentar, 2010, Art. 121 N. 2; Tappy, in: Bohnet/Hal-
dy/Jeandin/Schweizer/Tappy, Code de procédure civile commenté,
2011, Art. 121 N. 16). Andere Autoren bejahen die Beschwerdele-
gitimation der Gegenpartei direkt gestützt auf Art. 121 ZPO mit der
Begründung, dass die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege
die Befreiung von Sicherheitsleistungen von Gesetzes wegen impli-
ziere, womit die Beschwer gegeben sei (Staehelin/Staehelin/Groli-
mund, Zivilprozessrecht nach dem Entwurf für eine Schweizerische
Zivilprozessordnung und weiteren Erlassen - unter Einbezug des
internationalen Rechts, 2008, § 16 N.
68; Emmel, in: Sutter-
Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.], Kommentar zur Schwei-
zerischen Zivilprozessordnung [ZPO], 2010, Art. 121 N. 2; Jent-
S
rensen, in Oberhammer [Hrsg.], Schweizerische Zivilprozessord-
nung, Kurzkommentar, 2010, Art. 121 N. 2). Gegen diese Auffassung
spricht jedoch der Wortlaut von Art. 121 ZPO, wonach der Entscheid
mit Beschwerde angefochten werden kann, wenn die unentgeltliche
Rechtspflege ganz oder teilweise abgelehnt oder entzogen wird
(Huber, a.a.O., Art. 121 FN. 11). Gemäss diesem Autor kann die Ge-
genpartei gegen den die unentgeltliche Rechtspflege bewilligenden
Entscheid Beschwerde gemäss Art. 319 lit. b Ziff. 2 ZPO führen,
weil damit die gesuchstellende Partei von der Pflicht zur Sicherheits-
leistung für die Parteientschädigung befreit wird (Art. 118 Abs. 1
lit. a ZPO) und der Gegenpartei dadurch ein nicht leicht wiedergut-
zumachender Nachteil droht (Huber, a.a.O., Art. 121 N. 7). Diese
Auffassung überzeugt, weil sie die Beschwer der Gegenpartei im Fall
der Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege anerkennt und ihr
daher zu Recht die Legitimation zur Beschwerdeführung zugesteht,
ohne gegen den Wortlaut des Gesetzes zu verstossen oder zu einer
heiklen Lückenfüllung Zuflucht nehmen zu müssen. Der Beklagte ist
durch die angefochtene Verfügung der angeordneten Sicherheits-
leistung für die Parteientschädigung verlustig gegangen, folglich
2012
Zivilprozessrecht
31
beschwert und zur Beschwerde legitimiert. Auf die rechtzeitig erho-
bene Beschwerde ist demnach einzutreten. | 1,059 | 805 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2012-2_2012-09-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2012-2.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2012-2.pdf | AGVE_2012_2 | null | nan |
9887c180-c12b-5a84-ab15-c9814f7b3978 | 1 | 417 | 871,852 | 1,083,456,000,000 | 2,004 | de | 2004
Strafrecht
79
[...]
22
Art. 134 StGB, Angriff:
Der Tatbestand kann - in Mittäterschaft - auch ohne äusserlich erkenn-
bare aktive Handlung erfüllt werden. Dies ist - generell ausgedrückt -
dann der Fall, wenn der Mittäter sich in räumlicher Nähe zur Gruppe als
Verbindung zu dieser befindet und erkennbar die feindselige Absicht ge-
genüber dem Opfer mitträgt.
2004
Obergericht/Handelsgericht
80
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 2. Strafkammer, vom 17. Mai 2004
i.S. Staatsanwaltschaft gegen T.D.E.P.
Sachverhalt
Dem Urteil liegen zwei Vorfälle in der Nacht des 9. Dezember
2001 zu Grunde: Der Angeklagte zog mit mehreren Kollegen von
einem Restaurant los. Unterwegs traf die Gruppe auf drei Mädchen.
Ein Teil der Gruppe, unter ihnen auch der Angeklagte, unterhielt sich
in der Folge etwas abseits der übrigen Mitglieder mit diesen. Im
Laufe dieses Gesprächs führten die anderen Gruppenmitglieder eine
verbale Auseinandersetzung mit einem Dritten, in deren Verlauf sie
diesen zusammenschlugen. Nach dem ersten Vorfall verliessen alle
zusammen geschlossen den Tatort. Unterwegs traf die Gruppe auf
eine weitere männliche Person. Auch mit diesem Mann kam es zu
einer verbalen Auseinandersetzung, die erneut damit endete, dass
einzelne Gruppenmitglieder diesen zusammenschlugen, während die
übrigen - darunter auch der Angeklagte - in einem Kreis um das Op-
fer, welches mit dem Rücken zum Geländer und einem Weiher stand,
aufgestellt waren. Dem Angeklagten konnte bei beiden Vorfällen
keine aktive Beteiligung (etwa Zurufen oder ähnliche anfeuernde
Handlungen) nachgewiesen werden.
Aus den Erwägungen
3. a) Gemäss Art. 134 StGB macht sich strafbar, wer sich an ei-
nem Angriff auf einen oder mehrere Menschen beteiligt, der den Tod
oder die Körperverletzung eines Angegriffenen oder eines Dritten zur
Folge hat. Angriff ist die einseitige, von feindseligen Absichten
getragene, gewaltsame Einwirkung auf den oder die Körper eines
oder mehrerer Menschen. Der körperliche Angriff muss von mehre-
ren, mindestens zwei Personen ausgehen, wobei es aber genügen
kann, wenn sich eine Person dem bereits gestarteten Angriff einer
andern anschliesst. Damit von einem Angriff gesprochen werden
2004
Strafrecht
81
kann, müssen mindestens zwei Personen körperlich attackieren. Ist
diese Voraussetzung erfüllt, kann wie beim Raufhandel eine Beteili-
gung auf jede Art erfolgen. Beteiligung kann auch eine sachlich un-
terstützende, psychische oder verbale Mitwirkung zu Gunsten der
angreifenden Partei sein (z.B. durch Zustecken von Kampfinstru-
menten, Anfeuerungen, Ratschläge, Warnung vor Gefahren). Deshalb
kann auch Täter sein, wer selber nicht schlägt (vgl. unten lit. b; a.M.
Hans Schultz, ZStrR 108 [1991], S. 411, gemäss dessen Meinung
eine verbale Mitwirkung lediglich zu einer Verurteilung wegen
Teilnahme am Delikt führen kann). Der Tod oder die Körperverlet-
zung eines Angegriffenen oder Dritten ist objektive Strafbarkeitsbe-
dingung (Niggli/Wiprächtiger, Basler Kommentar, Strafgesetzbuch
II, Basel/Genf/München
2003, N
5
ff. zu Art.
134; Straten-
werth/Jenny, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, Bern
2003, § 4 N 41 f.).
(...)
b) Wie oben ausgeführt, kann gemäss einem Teil der Lehre auch
Täter sein, wer selber nicht schlägt. Als Beispiele dafür, wie auf
diese Weise die tatbestandsmässigen Voraussetzungen erfüllt werden
können, werden äusserlich erkennbare aktive Handlungen angeführt.
Die Vorinstanz geht einen Schritt weiter und bejaht die Beteiligung
am Angriff ohne solche zusätzlichen Handlungsweisen mit der Be-
gründung, die Mitglieder einer Gruppe fühlten sich durch die Präsenz
weiterer Personen stärker und seien eher bereit, rücksichtslos Gewalt
anzuwenden. Sie würden sich gegenseitig in ihrem Tun bestärken
und gäben sich Rückendeckung, was ihre Gefährlichkeit erhöhe.
Derjenige, welcher nicht selber Gewalt anwende, trage allein schon
durch seine Präsenz dazu bei, eine Drohkulisse zu schaffen (Urteil
S. 4 f.).
Mit der Vorinstanz ist die Möglichkeit der Erfüllung der tatbe-
standsmässigen Voraussetzungen durch Beteiligung auch ohne äus-
serlich erkennbare eigene Handlungen zu bejahen. Dies ist - generell
ausgedrückt - dann der Fall, wenn der Mittäter sich in räumlicher
Nähe zur Gruppe als Verbindung zu ihr befindet und darüber hinaus
die feindselige Absicht gegenüber dem Opfer mitträgt.
2004
Obergericht/Handelsgericht
82
c) aa) Beim ersten Vorfall mangelt es bereits an der Erfüllung
der objektiven Tatbestandsmerkmale. Es ist nicht nachgewiesen, dass
der Angeklagte, der weder selbst Gewalt anwandte noch sich verbal
oder durch andere Handlungsweisen am Geschehen beteiligte, die
feindselige Absicht der aktiven Mitglieder der Gruppe mittrug bzw.
unterstützte. Über eine Gruppendynamik ist nichts bekannt. Ebenso
wenig ist nachgewiesen, dass die Gruppe in dieser Zusammenset-
zung oft unterwegs ist. Zudem stand der Angeklagte im Zeitpunkt
der Tatausführung etwas abseits und unterhielt sich mit Drittperso-
nen.
Selbst wenn man jedoch davon ausginge, er habe sich in objek-
tiver Hinsicht tatbestandsmässig verhalten, fehlte es an der Erfüllung
der subjektiven Tatbestandsmerkmale. Auch wenn ihm die aggres-
sive Stimmung bewusst war und er X. sagen gehört hatte, er habe
schon lange keine Schlägerei mehr gehabt, kann ihm nicht nachge-
wiesen werden, dass sein Wille auf eine Beteiligung an einem An-
griff gerichtet gewesen wäre oder er einen solchen in Kauf genom-
men hätte, denn er stiess erst leicht später, nachdem er seine Jacke
aus dem Auto geholt hatte, zur Gruppe, stand am Tatort etwas abseits
und unterhielt sich dort mit an der Sache unbeteiligten Mädchen.
(...)
Der Angeklagte ist somit gestützt auf die obigen Erwägungen
betreffend den ersten Vorfall von Schuld und Strafe freizusprechen.
bb) Anders verhält es sich jedoch beim zweiten Vorfall. Nach
der ersten Schlägerei hat sich der Angeklagte nicht von der Gruppe
entfernt, sondern ist mit den anderen zusammen weggerannt. Als sich
am Weiher erneut eine Schlägerei abzeichnete, ist der Angeklagte
nicht weggegangen, sondern mit den anderen um das Opfer herum
stehen geblieben. Damit hat er den Schlägern signalisiert, dass er ihre
Handlungen billigte. Gleichzeitig hat er damit in äusserlich er-
kennbarer Weise kundgetan, dass er deren feindselige Absicht mit-
trug. Darüber hinaus wirkten die nicht schlagenden Mitglieder in
äusserlich erkennbarer Weise unterstützend, indem sie einen Halb-
kreis um das Opfer bildeten. Dadurch konnten die Schläger ungehin-
dert vorgehen und das Opfer konnte nicht fliehen. Die ganze Gruppe
funktionierte als Einheit: die einen schlugen, andere standen im
2004
Strafrecht
83
Halbkreis um das Opfer und jemand warnte vor Passanten. In der
Folge sind alle zusammen weggerannt. Dass sich einige Gruppen-
mitglieder kurz vor dem Ende des Angriffs abgewendet haben und
die letzten Schläge von Y. nicht mehr genau sehen konnten (vgl.
Aussagen des Angeklagten in act. 217 und von Z. in act. 238), ändert
nichts an ihrer Beteiligung bis zu diesem Zeitpunkt.
Insgesamt ist beim zweiten Vorfall von einem bewussten Zu-
sammenwirken aller Gruppenmitglieder auszugehen. Es ist somit
erstellt, dass der Angeklagte beim zweiten Vorfall den objektiven
Tatbestand verwirklicht hat.
Bezüglich des subjektiven Tatbestands führte der Angeklagte
selber aus, es habe von Anfang an eine aggressive Stimmung ge-
herrscht. Zudem wusste er, wozu die Schläger in der Gruppe fähig
waren, hatten sie doch erst wenige Minuten vorher das erste Opfer
zusammengeschlagen. Er hat billigend in Kauf genommen, dass der
zweite Angriff erfolgte, und er wollte auch daran teilnehmen. | 1,622 | 1,429 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2004-22_2004-05-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2004-22.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2004-22.pdf | AGVE_2004_22 | null | nan |
98a1cb08-6ba3-5324-ae64-a67111361c3b | 1 | 417 | 871,767 | 975,628,800,000 | 2,000 | de | 2000
Zivilprozessrecht
51
11
§ 112 Abs. 2 ZPO.
Verlegung der Parteikosten im Falle teilweisen Obsiegens bei
unterschiedlich hohen Parteiaufwendungen.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 1. Zivilkammer, vom 1. Dezember
2000, in Sachen P.G. AG ca. A. & Co.
Aus den Erwägungen
2. a) Gemäss § 112 ZPO werden die Gerichts- und Parteikosten
des Gegners in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt
(Abs. 1); obsiegt keine Partei vollständig, werden die Kosten ver-
hältnismässig verteilt (Abs. 2). Dabei werden die Parteikosten beider
Parteien als Ganzes genommen (AGVE 1956 S. 53) und die Bruch-
teile des Obsiegens bzw. Unterliegens der Parteien vorab gegenein-
ander aufgerechnet bzw. verrechnet. Alsdann wird die mehrheitlich
unterliegende Partei verpflichtet, dem obsiegenden Prozessgegner
dessen Parteikosten in einem der Differenz zwischen den beiden
Bruchteilen entsprechenden Verhältnis zu ersetzen (SJZ 1981 Nr. 52
S. 343; Guido Fischer, Die Kostenverteilung im aargauischen Zivil-
prozessrecht, Diss. Basel 1984, S. 91 f.; Frank/Sträuli/Messmer,
Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 3. A., Zürich
1998, N 18 zu § 69 ZPO). Es werden somit nicht für beide Parteien
betragsmässig bestimmte Prozessentschädigungen ermittelt, die dann
miteinander zu verrechnen wären, sondern die Verrechnung findet
bereits statt zwischen den Anteilen, mit denen jede Partei an der Ko-
stentragung beteiligt ist. Nur der allfällig überschiessende Anteil ei-
ner Partei wird anschliessend in eine entsprechende Summe als Ent-
schädigung umgerechnet. Demgemäss sind in dem Fall, da beide
Parteien je zur Hälfte unterliegen, die Prozessentschädigungen wett-
zuschlagen (SJZ 1981 Nr. 52 S. 343). Ob die Parteikosten einer Par-
tei höher sind als diejenigen der andern, z.B. weil nur eine Partei sich
durch einen Anwalt vertreten liess, bleibt ohne Einfluss auf den
2000
Obergericht
52
Verteilschlüssel (Bühler/Edelmann/Killer, Kommentar zur aargaui-
schen Zivilprozessordnung, Aarau/Frankfurt am Main 1998,, N 6 zu
§ 112 ZPO).
b) Der vorinstanzliche Richter ist beim Kostenentscheid von
einem hälftigen Obsiegen der Klägerin ausgegangen, was von dieser
nicht beanstandet wird. Er hat sodann die Parteikosten wettgeschla-
gen, obwohl nur die Klägerin anwaltlich vertreten war. Die Klägerin
hält dem entgegen, dass eine Verrechnung bei erheblich differieren-
den Parteikosten nicht zulässig sei; in diesem Fall seien vielmehr bei
hälftigem Obsiegen jeder Partei die Hälfte der Parteikosten der
Gegenpartei aufzuerlegen. Wie vorab dargelegt, wäre indes eine
Kostenverlegung unter Verrechnung der tatsächlichen Parteiaufwen-
dungen unstatthaft, könnte sie doch zum stossenden Resultat führen,
dass diejenige Partei, die keinen Anwalt beizog oder deren Rechts-
vertreter das geringere Honorar verlangt hat, unter Umständen selbst
dann die grössere Prozessentschädigung bezahlen muss, wenn sie in
überwiegendem Mass obsiegt (SJZ 1981 S. 343). Das Vorgehen der
Vorinstanz, die das je hälftige Durchdringen der Parteien im Haupt-
punkt beim Entscheid über die Kostentragung anteilsmässig
gegeneinander aufgerechnet hat, erweist sich somit als zutreffend. | 741 | 576 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2000-11_2000-12-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-11.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-11.pdf | AGVE_2000_11 | null | nan |
99249f29-68f2-5c21-b8ec-df455051e155 | 1 | 417 | 871,243 | 1,196,985,600,000 | 2,007 | de | 2007
Obergericht/Handelsgericht
44
8
Art. 12 lit. a BGFA
Verpasste Rechtsmittelfrist ist, wenn sie auf unsorgfältige Geschäftsfüh-
rung zurückzuführen ist, disziplinarrechtlich relevant
Entscheid der Anwaltskommission vom 7. Dezember 2007 i.S. M. S.
Aus den Erwägungen
2.2.
Gemäss Art. 12 lit. a BGFA übt der Anwalt seinen Beruf sorg-
fältig und gewissenhaft aus. Diese Pflicht gebietet ihm, die Interes-
sen des Auftraggebers nach besten Kräften zu wahren und alles zu
unterlassen, was diese Interessen schädigen könnte. Disziplinarrecht-
lich relevant sind aber nur grobe Verstösse gegen diese mandats-
rechtliche Treuepflicht. Das Berufsrecht soll sicherstellen, dass der
Anwalt seine Aufgabe nicht wissentlich unrichtig oder grobfahrlässig
fehlerhaft erfüllt. Verpasst ein Anwalt versehentlich eine Frist, ist
dies disziplinarrechtlich grundsätzlich nicht von Bedeutung. Die Auf-
sichtsbehörde hat hierbei nur einzuschreiten, wenn erschwerende
Umstände vorliegen, die auf eine unverantwortliche Berufsausübung
schliessen lassen (F
ELLMANN
in: W
ALTER
F
ELLMANN
/
G
AUDENZ
G.
Z
INDEL
[Hrsg.], Kommentar zum Anwaltsgesetz, Zürich 2005, N 26
zur Art. 12 [zit. N
AME
, BGFA-Kommentar]). Das versehentliche Ver-
passen einer Frist kann auch einem gewissenhaften Anwalt gelegent-
lich einmal unterlaufen. Von einer disziplinarisch relevanten Verlet-
zung der Berufspflicht kann erst dann gesprochen werden, wenn ein
Anwalt die üblichen Vorsichtsmassnahmen zur Vermeidung solcher
Fehlleistungen unterlässt. Ohne weiteres dürfte ein Disziplinartatbe-
stand sodann auch dann vorliegen, wenn ein Anwalt eine Fristeinhal-
tung aus böswilliger Absicht zum Nachteil seines Mandanten unter-
lässt. Eine Fristversäumnis fällt beispielsweise disziplinarisch dann
nicht ins Gewicht, wenn in Bezug auf die Postaufgabe die Sekretärin
irrtümlicherweise annahm, der Anwalt selbst habe das fristgerecht
niedergeschriebene Fristerstreckungsgesuch auf die nahe Post ge-
bracht, was er aber krankheitsbedingt nicht tat (G
IOVANNI
A
NDREA
2007
Zivilprozessrecht
45
T
ESTA
, Die zivil- und standesrechtlichen Pflichten des Rechtsanwal-
tes gegenüber dem Klienten, Zürich 2001, S. 87 ff.; vgl. auch ZR
1995, Bd. 94, Nr. 33, 105ff.).
2.3.
2.3.1.
[...]
2.3.2.
Die Eintragung einer Frist in der internen Kontrolle im falschen
Monat stellt ein grobes Fehlverhalten seitens des beanzeigten Anwal-
tes dar. Es ist von einem Anwalt zu erwarten, dass er eine Frist sorg-
fältig und mit Bedacht richtig in seiner Agenda einträgt. Es sind auch
keine Anhaltspunkte ersichtlich, die den beanzeigten Anwalt im
Sinne des unter Ziffer 2.2. angeführten Beispieles entlasten könnten.
Solche werden vom beanzeigten Anwalt auch nicht vorgebracht.
Schliesslich lässt nichts darauf schliessen, dass der beanzeigte An-
walt entsprechende Vorsichtsmassnahmen vorgenommen hat, die
eine solche Fehlleistung verhindern könnten. Das Verpassen der Frist
ist somit grobfahrlässig und unverantwortlich und lässt auf eine un-
sorgfältige Geschäftsführung schliessen, welche mit dem Erfordernis
einer gewissenhaften Berufsausübung nicht zu vereinbaren ist. Das
Verschulden liegt voll und ganz beim beanzeigten Anwalt. Es liegen
demnach erschwerende Umstände vor, weshalb der beanzeigte An-
walt mit seinem Verhalten die Berufsregel von Art. 12 lit. a BGFA
verletzt hat. | 787 | 609 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2007-8_2007-12-07 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2007-8.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2007-8.pdf | AGVE_2007_8 | null | nan |
999da87f-c865-5505-b059-4cbc712c2251 | 1 | 417 | 871,891 | 988,156,800,000 | 2,001 | de | 2001
Strafprozessrecht
77
[...]
25
§§ 164 Abs. 1 Satz 2, 198 Abs. 2 StPO; § 94 GOG. Kostenauflage beim
Rückzug der Einsprache gegen einen Strafbefehl.
- Bei einem Rückzug der Einsprache gegen einen Strafbefehl ist bei der
Bemessung der Gerichtsgebühr, die zusätzlich zu den Strafbefehlskos-
ten zu bezahlen ist, auf den bis zum Rückzug angefallenen Aufwand
abzustellen.
- Kostenbefreiung i.S.v. § 164 Abs. 1 Satz 2 StPO kann wegen Rechts-
unkenntnis nicht gewährt werden.
Aus dem Entscheid der Inspektionskommission vom 25. April 2001 i.S. Z.
Aus den Erwägungen
3. Die Kostenauflage im Urteil des Bezirksgerichts Z. vom
29. Juni 2000 stützt sich auf § 198 Abs. 2 StPO, wonach beim Rück-
zug der Einsprache gegen einen Strafbefehl
die entstandenen Mehr-
kosten
dem Einsprecher aufzuerlegen sind. Vorliegend zu prüfen ist,
ob die Gerichtsgebühr von Fr. 400.-- im Hinblick auf diese Bestim-
mung gerechtfertigt ist.
a) Der Beschwerdeführer bringt einerseits vor, die vom Be-
zirksamt Z. verhängte Busse sei für sich allein schon viel zu hoch
bemessen. Allein, die Beurteilung dieser Frage entzieht sich der Zu-
ständigkeit der Inspektionskommission als Aufsichtsbehörde; dafür
wäre der Rechtsmittelweg zu beschreiten. Durch den Rückzug der
2001
Obergericht/Handelsgericht
78
Einsprache liess der Beschwerdeführer die Busse aber rechtskräftig
werden. Es kann daher auch nicht darauf ankommen, dass die ,,Kos-
tenauflage" als Ganzes (Beschwerde, S. 3), mithin die Busse und die
Gerichtskosten zusammen, nach Ansicht des Beschwerdeführers zu
hoch ist, auch wenn nicht zu verkennen ist, dass sich der Beschwer-
deführer letztlich an diesem Gesamtbetrag stösst. Zu überprüfen ist
vorliegend nach dem Gesagten lediglich die Höhe der Gerichtskos-
ten.
b) (...)
Dass im Strafverfahren in der Regel nur bei einem Freispruch
Kostenbefreiung für den Angeklagten resultiert, entspricht sodann
§ 164 StPO. Das Gericht kann allerdings aus besonderen Gründen
auch bei einer Verurteilung von einer Kostenauflage ganz oder teil-
weise absehen (§ 164 Abs. 1 Satz 2 StPO). Zu denken ist hier an
Ausnahmefälle; die Materialien zur StPO sprechen von Fällen zah-
lungsunfähiger Verurteilter respektive von Verurteilten, die seit lan-
gem von der öffentlichen Hand unterstützt werden (vgl. Protokoll der
7. Sitzung der Grossrats-Kommission für das Gesetz über die Straf-
rechtspflege vom 2. Juli 1956, S. 3, Bemerkungen zu § 159 des Ent-
wurfes). Eine (teilweise) Kostenbefreiung wegen Rechtsunkenntnis
aber lässt sich mit der ratio legis von § 164 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht
vereinbaren. Der Antrag des Beschwerdeführers, die Kosten der
Urteilsbegründung seien auf die Staatskasse zu nehmen, ist daher
abzuweisen.
c) Der Beschwerdeführer rügt sodann, dass die Gerichtsgebühr
sich im Vergleich zur Praxis an anderen Bezirksgerichten wie auch
im Verhältnis zu anderen Fällen als übersetzt erweise. Als Beispiel
führt er dabei das Bezirksgericht B. auf, welches für Einsprachen
dieser Art Richtlinien erarbeitet habe, wonach bei Rückzug während
der Hauptverhandlung (vgl. Berichtigung vom 7. November 2000)
eine Gerichtsgebühr von nur Fr. 250.--, bei vollständiger Durchfüh-
rung des Verfahrens aber eine Gebühr von Fr. 500.-- auferlegt werde.
Die Praxis anderer Bezirksgerichte zur Festsetzung der Ge-
richtskosten kann nicht ausschlaggebend sein. Das Verfahrenskos-
tendekret vom 24.
November
1987/1.
Januar
1999 (VKD, SAR
221.150) sieht für die Festsetzung der Gerichtsgebühr für das Straf-
2001
Strafprozessrecht
79
verfahren vor Bezirksgericht einen Kostenrahmen von Fr. 120.-- bis
6'000.-- vor (§ 17 Abs. 1 VKD), wobei die Gebühr bei einem Rück-
zug der Einsprache bis auf Fr. 24.-- gesenkt werden kann (§ 19
VKD). Das Gericht ist in der Festlegung der Gerichtsgebühr weitge-
hend frei. Immerhin darf aufgrund des verfassungsmässigen An-
spruchs auf Rechtsgleichheit (Art. 8 BV; § 10 KV) sowie des An-
spruchs auf willkürfreies staatliches Handeln (Art. 9 BV; § 22 KV)
erwartet werden, dass ein Gericht für gleichgelagerte Fälle nach
Massgabe der Gleichheit eine gleich hohe Gerichtsgebühr festsetzt
respektive ungleiche Fälle nach Massgabe ihrer Ungleichheit kos-
tenmässig ungleich behandelt (vgl. Häfelin/Müller, Grundriss des
allgemeinen Verwaltungsrechts, 3. A., Zürich 1998, N 401, 410 f.).
Der Beschwerdeführer rügt denn auch eine solche Gleichbehandlung
zweier ungleicher Fälle. Einerseits rechtfertige sich eine volle Kos-
tenauflage in casu deshalb nicht, weil dem Gericht durch den Rück-
zug eine freie halbe Stunde für ein anderes Geschäft zur Verfügung
gestanden habe, andererseits weil dadurch derjenige, der eine
Einsprache zurückziehe, schlechter gestellt sei als derjenige, der auf
der Durchführung des Verfahrens beharre, weil ersterer zusätzlich zu
den (vollen) Gerichtskosten die rechtskräftig gewordenen Kosten des
Strafbefehls zu bezahlen habe, wohingegen dem zweiten nur die
Kosten des Gerichtsverfahrens anfielen.
aa) Bei einem Rückzug der Einsprache sind die Kosten nach
dem durch die Einsprache entstandenen (Mehr-)Aufwand zu verle-
gen (§ 198 Abs. 2 StPO). Da bei einem Rückzug dem Gericht regel-
mässig weniger Aufwand anfällt als bei vollständiger Durchführung
des Verfahrens, rechtfertigt es sich in der Regel auch nicht, eine volle
Gerichtsgebühr aufzuerlegen, wobei allerdings auf den Verfahrens-
stand abzustellen ist. Im vorliegenden Fall ist dem Bezirksgericht Z.
durch die Einsprache in Form des Aktenstudiums sowie der Ver-
handlungsvorbereitung, der Besprechung über den zu fällenden Be-
schluss und schliesslich der Ausfertigung des Urteils Aufwand ent-
standen. Es steht im Ermessen des Bezirksgerichts, diese Umstände
bei der Festsetzung der Gerichtsgebühr zu würdigen. Diesen Um-
ständen hat das Bezirksgericht Z. bei seinem Entscheid vom 29. Juni
2000 genügend Rechnung getragen, indem es ausführte, im Ergebnis
2001
Obergericht/Handelsgericht
80
seien annähernd die gleichen Kosten entstanden wie bei einer Durch-
führung der Verhandlung und Fällung eines Urteils, weshalb dem
Angeklagten
keine weitere Reduktion
der Gerichtsgebühr gewährt
werden könne (begründeter Beschluss vom 29. Juni 2000 Ziff. 2).
Diesem Wortlaut ist zu entnehmen, dass entgegen der Annahme des
Beschwerdeführers eine gewisse Gebührenreduktion gewährt und
daher dem Rechtsgleichheitsgebot durchaus entsprochen wurde. Da
der Rückzug erst am Tag der Hauptverhandlung erfolgte, obwohl die
Mandatierung bereits rund einen Monat zuvor stattgefunden hatte
(vgl. Mitteilung vom 30. Mai 2000/act. 17), ist die durch den Rück-
zug enstandene Aufwandersparnis indessen gering. Dass dem Be-
zirksgericht Z. vorliegend eine Pause entstand, die es anderweitig
nutzen konnte, stellt im Weiteren eine reine Vermutung des Be-
schwerdeführers dar.
bb) Der weitere Einwand des Beschwerdeführers schiesslich, er
sei massiv schlechter gestellt als bei vollständiger Verfahrensdurch-
führung durch das Gericht, ist nicht zu hören. Die Materialien zur
StPO vom 11. November 1958 enthalten keinen Hinweis, dass § 198
Abs. 2 StPO in der Gesetzesberatung oder Vernehmlassung Grund
zur Diskussion gegeben hätte. Eine historische Auslegung scheitert
daher mangels entsprechender Aussagen. Also ist im Sinn einer te-
leologischen Auslegung nach dem Sinn von § 198 Abs. 2 StPO zu
forschen. Ratio dieser Bestimmung kann nur sein, dass der Ange-
klagte, der durch die Einsprache gegen den Strafbefehl das gerichtli-
che Verfahren selbst in Gang setzt und dann durch den Rückzug der
Einsprache dennoch den Strafbefehl rechtskräftig werden lässt, für
die dadurch entstehenden Kosten aufzukommen hat. Wie oben aus-
geführt, ist dabei auf die bis dahin entstandenen Kosten abzustellen.
Dass die Strafbefehlskosten bei dieser Konstellation zusätzlich zu
bezahlen sind, entspricht der gesetzlichen Ordnung (§ 198 Abs. 1
StPO).
d) Der Vorwurf, dass das Bezirksgericht Z. vorliegend gegen
das Rechtsgleichheitsgebot verstossen hätte, erweist sich somit als
unbegründet. Den Gerichten kommt bei der Gebührenfestsetzung
innert des weiten Rahmens gemäss VKD ein erhebliches Ermessen
zu, in das das Obergericht nicht ohne Not eingreift. Dieses Ermessen
2001
Strafprozessrecht
81
hat das Bezirksgericht Z. weder überschritten noch missbraucht.
Vielmehr steht die vom Bezirksgericht Z. bestimmte Gerichtsgebühr
im Einklang mit dem Kostendeckungs- und Äquivalenzprinzip. | 1,863 | 1,530 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2001-25_2001-04-25 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-25.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-25.pdf | AGVE_2001_25 | null | nan |
99ef70b5-484a-4b9c-8c05-df1de4ad26f5 | 1 | 414 | 1,497,450 | 1,599,177,600,000 | 2,020 | de | Urteil/Entscheid
Handelsgericht
2. Kammer
HSU.2020.74
Entscheid vom 4. September 2020
Besetzung Oberrichter Vetter, Vizepräsident
Gerichtsschreiber Schneuwly
Gesuchstellerin F. AG in Liquidation, _
vertreten durch lic. iur. Daniel Gysi, Rechtsanwalt, Bachstrasse 19,
9008 St. Gallen
Gesuchsgegner Kanton Aargau vertreten durch das Handelsregisteramt, Bahnhof-
platz 3c, 5000 Aarau
Gegenstand Summarisches Verfahren betreffend Wiederherstellung einer Frist nach
Art. 148 ZPO (betr. Auflösung der F. AG in Liquidation/HSU.2020.27)
- 2 -
Der Vizepräsident entnimmt den Akten:
1.
Die Gesuchstellerin ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in M. (AG). Sie be-
zweckt _. Ihr Aktienkapital beträgt Fr. 100'000.00, aufgeteilt in 100
Namenaktien zu Fr. 1'000.00.
2.
Am 19. Dezember 2019 wurde die Löschung von D.O. als Mitglied des Ver-
waltungsrats der Gesuchstellerin im Schweizerischen Handelsamtsblatt
(SHAB) publiziert.
3.
Mit Schreiben vom 26. Februar 2020 forderte das Handelsregisteramt des
Kantons Aargau die Gesuchstellerin auf, innert 30 Tagen den rechtmässi-
gen Zustand wiederherzustellen und die entsprechende Eintragung anzu-
melden. Die angesetzte Frist ist unbenützt abgelaufen.
4.
Mit Gesuch vom 7. April 2020 stellte das Handelsregisteramt des Kantons
Aargau gemäss Art. 941a Abs. 1 OR den Antrag, aufgrund von Mängeln in
der gesetzlich vorgeschriebenen Organisation der Gesuchstellerin seien
die erforderlichen Massnahmen im Sinne von Art. 731b OR zu ergreifen.
5.
Die Bestätigung vom 14. April 2020 über den Eingang des Gesuchs konnte
der Gesuchstellerin an der im Handelsregister eingetragenen Domi-
ziladresse nicht zugestellt werden.
6.
Mittels öffentlicher Bekanntmachung im SHAB vom 24. April 2020 wurde
den Parteien der Eingang des Gesuchs bestätigt und der Gesuchstellerin
eine Frist von 20 Tagen zur Erstattung einer schriftlichen Antwort ange-
setzt. Die Gesuchstellerin liess sich innert Frist nicht vernehmen.
7.
Mittels öffentlicher Bekanntmachung im SHAB vom 26. Mai 2020 wurde der
Gesuchstellerin eine letzte Frist von 10 Tagen angesetzt verbunden mit der
Androhung, dass bei erneuter Säumnis das Gericht einen Endentscheid
fällt. Der Gesuchstellerin wurde zudem angedroht, dass im Säumnisfall das
Gericht die Auflösung der Gesuchstellerin und die Liquidation nach den
Vorschriften über den Konkurs anordnet, sofern ein Mangel in der Organi-
sation der Gesellschaft vorliegt (Art. 731b Abs. 1 Ziff. 3 OR). Die Gesuch-
stellerin liess sich innert letzter Frist nicht vernehmen.
- 3 -
8.
Mit Entscheid vom 10. Juni 2020 ordnete der Vizepräsident des Handels-
gerichts des Kantons Aargau im Verfahren HSU.2020.27 die Auflösung der
Gesuchstellerin und deren Liquidation nach den Vorschriften des Konkur-
ses an, nachdem diese ihre Organisationsmängel bezüglich fehlender
rechtmässiger Vertretung durch ein Geschäftsführungsmitglied (oder einen
Direktor) mit Wohnsitz in der Schweiz trotz entsprechender Säumnisandro-
hung nicht behoben hatte. Dieser Entscheid ist in Rechtskraft erwachsen.
Die Gesuchstellerin befindet sich seitdem im Liquidationsstadium.
9.
Am 31. Juli 2020 erkundigte sich B.W. von der C. AG telefonisch beim Han-
delsgericht des Kantons Aargau, ob bezüglich des Entscheids vom 10. Juni
2020 im Verfahren HSU.2020.27 die Rechtsmittelfrist bereits abgelaufen
sei. Bezüglich einem allfälligen Gesuch um Fristwiederherstellung wurde
ihm ausdrücklich geraten, die Rechtslage vorab mit einem Rechtsanwalt
abzusprechen.
10.
Mit Eingabe vom 6. August 2020 stellte H.E., Verwaltungsratspräsident der
Gesuchstellerin, den Antrag, es sei die verfügte Löschung der Gesuchstel-
lerin zu widerrufen und die Gesellschaft wieder im Handelsregister des
Kantons Aargau einzutragen.
Mit Entscheid vom 10. August 2020 wies der Vizepräsident des Handels-
gerichts des Kantons Aargau diesen Antrag im Verfahren HSU.2020.68 ab,
da das Handelsgericht für Widereintragungsverfahren, bei denen es sich
um gerichtliche Anordnung der freiwilligen Gerichtsbarkeit handelt, sachlich
nicht zuständig sei. Soweit der Antrag als Revisionsgesuch verstanden
werden könnte, wäre auch darauf nicht einzutreten, da H.E. nicht Partei des
Organisationsmängelverfahrens (HSU.2020.27) gewesen sei. Zudem
seien keine Revisionsgründe ersichtlich gewesen.
11.
Mit Gesuch vom 18. August 2020 (Postaufgabe: 18. August 2020) stellte
die Gesuchstellerin einen Antrag um Gewährung einer Nachfrist gemäss
Art. 148 ZPO.
Zur Begründung führte die Gesuchstellerin im Wesentlichen aus, D.O. sei
am 19. Dezember 2019 als Verwaltungsratsmitglied der Gesuchstellerin
abberufen worden, da er seinen Pflichten nicht nachgekommen sei, insbe-
sondere habe er die Korrespondenz der Gesellschaft nicht weitergeleitet.
Der Verwaltungsratsratspräsident der Gesuchstellerin habe vom Organisa-
tionsmängelverfahren keine Kenntnis gehabt. Auch der Gesuchsgegner
habe ihn diesbezüglich nicht informiert. Aufgrund der Corona-Pandemie sei
- 4 -
dem Verwaltungsratspräsidenten eine Reise in die Schweiz verwehrt ge-
wesen, um sämtliche Angelegenheiten ordnungsgemäss zu klären. Am
2. August 2020 sei eine Mitarbeiterin einer Tochtergesellschaft per Zufall
auf den im SHAB publizierten Entscheid vom 10. Juni 2020 aufmerksam
gemacht worden. Der Verwaltungsratspräsident der Gesuchstellerin habe
am 5. August 2020 beim Handelsgericht des Kantons Aargau einen Antrag
auf Wiedereintragung gestellt. Auf diesen sei mit Entscheid vom 10. August
2020 nicht eingetreten worden. Am 17. August 2020 habe er den heutigen
Rechtsvertreter mandatiert. Wiederherstellungsgesuche gemäss Art. 148
ZPO seien auch in Organisationsmängelverfahren zulässig. Die Frist von
Art. 148 Abs. 2 ZPO sei vorliegend gewahrt, da die Gesuchstellerin erst am
2. August 2020 Kenntnis ihrer Auflösung und Liquidation erhalten und die
10-tägige Frist gemäss dem Urteil HE110365 des Einzelrichters des Han-
delsgerichts des Kantons Zürich vom 30. November 2011 erst mit Beauf-
tragung des Rechtsvertreters am 17. August 2020 zu laufen begonnen
habe. Unabhängig dessen würden die Gerichtsferien vom 15. Juli bis
15. August 2020 einem Fristablauf entgegenstehen. Aufgrund der Ortsab-
wesenheit des Verwaltungsratspräsidenten sei auch das Erfordernis des
leichten Verschuldens erfüllt. Schliesslich sei die Wiederherstellung für den
Ausgang des Verfahrens auch nicht offensichtlich unerheblich, da die Ge-
suchstellerin über substantielle Beteiligungen im Ausland verfügen würde
und wirtschaftliche Werte nicht ohne Not vernichtet werden sollten.
12.
12.1.
Mit Verfügung vom 14. August 2020 erhob der Vizepräsident des Handels-
gerichts des Kantons Aargau von der Gesuchstellerin einen Gerichtskos-
tenvorschuss, setzte dem Gesuchsgegner Frist bis zum 3. September 2020
zur Einreichung einer freiwilligen Stellungnahme und zog die Akten der Ver-
fahren HSU.2020.27 und HSU.2020.68 bei. Er ersuchte zudem das Kon-
kursamt des Kantons Aargau, einstweilen keine weiteren Vollstreckungs-
handlungen vorzunehmen.
12.2.
Die Gesuchstellerin leistete den Gerichtskostenvorschuss fristgerecht.
13.
Der Gesuchsgegner reichte innert Frist keine Stellungnahme ein.
- 5 -
Der Vizepräsident zieht in Erwägung:
1.
Gemäss Art. 148 Abs. 1 ZPO kann das Gericht auf Gesuch einer säumigen
Partei unter anderem eine Nachfrist gewähren, wenn diese glaubhaft
macht, dass sie kein oder nur ein leichtes Verschulden trifft. Das Gesuch
um Wiederherstellung ist gemäss Art. 148 Abs. 2 ZPO innert zehn Tagen
seit Wegfall des Säumnisgrundes zu stellen. Die Wiederherstellung kann,
wenn ein Entscheid eröffnet worden ist, nur innerhalb von sechs Monaten
seit Eintritt der Rechtskraft verlangt werden (Art. 148 Abs. 3 ZPO).
Die Möglichkeit der Wiederherstellung versäumter Fristen und Termine ist
ein allgemeiner Grundsatz des Prozessrechts1 und bezweckt, die Gefahren
des prozessualen Formalismus abzuschwächen, wenn ein Missverhältnis
zwischen der Grösse des Verschuldens und den an die Säumnis ange-
knüpften Rechtsnachteilen besteht.2
2.
Die Gesuchstellerin beantragt die Gewährung einer Nachfrist gemäss Art.
148 ZPO. In Gesuch Rz. 29 führt sie aus, dass die beantragte Nachfrist zur
Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands zu gewähren sei. Eine sol-
che Frist wurde der Gesuchstellerin vom Handelsgericht jedoch nie ange-
setzt, weshalb diesbezüglich auch keine Wiederherstellung möglich ist.
Nach Treu und Glauben ausgelegt (vgl. Art. 52 ZPO), ist der Antrag der
Gesuchstellerin so zu verstehen, dass sie die ihr mit Verfügung vom
25. Mai 2020 im Verfahren HSU.2020.27 angesetzte letzte, nicht erstreck-
bare Frist von 10 Tagen zur Erstattung einer schriftlichen Antwort, wieder-
hergestellt haben möchte.
3.
3.1.
Das Erfordernis der Säumnis der Gesuchstellerin ist erfüllt. Eine Partei ist
unter anderem säumig, wenn sie eine Prozesshandlung nicht fristgerecht
vornimmt (Art. 147 Abs. 1 ZPO). Vorliegend hat die Gesuchstellerin ihre
Antwort zum Gesuch des Gesuchsgegners vom 7. April 2020 im Verfahren
HSU.2020.27 nicht innert richterlich angesetzter Frist erstattet. Sie gilt da-
her als säumig.
3.2.
Die absolute Frist von sechs Monaten seit Eintritt der Rechtskraft (vgl.
Art. 148 Abs. 3 ZPO) ist ohne weiteres eingehalten worden. Fraglich ist hin-
1 BGE 117 Ia 297 E. 3. 2 SCHNEUWLY, Die Wiederherstellung nach Art. 148 f. ZPO im Organisationsmängelverfahren, RE-
PRAX 2016, S. 30.
- 6 -
gegen, ob die relative Frist von zehn Tagen seit Wegfall des Säumnis-
grunds (Art. 148 Abs. 2 ZPO) eingehalten wurde. Der Wegfall des Säum-
nisgrundes beginnt in dem Zeitpunkt, in welchem die Partei erkannt hat o-
der hätte erkennen müssen, dass sie die Frist oder den Termin versäumt
hat.3 Dabei genügt die Zumutbarkeit, Dritte mit der Wahrung seiner Interes-
sen zu beauftragen.4
Als Säumnisgrund, d.h. aus welchem Grund sie im Verfahren HSU.2020.27
keine Gesuchsantwort erstattete, gibt die Gesuchstellerin an, sie habe vom
Organisationsmängelverfahren keine Kenntnis gehabt (Gesuch Rz. 4, 8
und 18). Sie habe dieses erst am 2. August 2020 zur Kenntnis genommen,
als eine Mitarbeiterin einer Tochtergesellschaft sie darauf aufmerksam ge-
macht habe. Das ist nicht glaubhaft: Der ehemalige Treuhänder der Ge-
suchstellerin, B.W., hat sich am 31. Juli 2020 beim Handelsgericht des
Kantons Aargau bezüglich der Rechtskraft des Entscheids vom 10. Juni
2020 im Verfahren HSU.2020.27 erkundigt. Demnach wusste dieser bzw.
die C. AG., welche die Gesuchstellerin betreute, spätestens am 31. Juli
2020 vom Organisationsmängelverfahren HSU.2020.27 und der Säumnis.
Mit Eingabe vom 6. August 2020 ersuchte der Verwaltungsratspräsident
der Gesuchstellerin, H.E., im Verfahren HSU.2020.68 zudem um Wieder-
eintragung der Gesuchstellerin. Namens der C. AG. reichte B.W. mit Ein-
gabe vom 7. August 2020 die im Beilagenverzeichnis erwähnten Urkunden
nach. Der Verwaltungsratspräsident der Gesuchstellerin, H.E., und damit
die Gesuchstellerin (vgl. Art. 718a Abs. 1 OR), wussten damit wahrschein-
lich bereits vor dem Telefonanruf von B.W. vom 31. Juli 2020, sicherlich
aber spätestens seit der Einreichung des Gesuchs um Wiedereintragung
der Gesuchstellerin vom 6. August 2020 um den entsprechenden Säum-
nisgrund. Der vorliegende Antrag vom 18. August 2020 um Gewährung ei-
ner Nachfrist gemäss Art. 148 ZPO erfolgte damit mehr als 10 Tage seit
Wegfall des Säumnisgrundes. Dass die Gesuchstellerin ihren Rechtsver-
treter erst am 17. August 2020 mandatierte, mag an dieser Verspätung
nicht zu ändern: Die Gesuchstellerin wurde von der C. AG. entsprechend
betreut. Deren Verwaltungsratspräsident B.W. wurde anlässlich seiner te-
lefonischen Anfrage vom 31. Juli 2020 ausdrücklich empfohlen, die Rechts-
lage betreffend einer möglichen Fristwiederherstellung vorab mit einem
Rechtsanwalt abzusprechen. Dies hat die C. AG. und die Gesuchstellerin
offenbar unterlassen und stattdessen hat der Verwaltungsratspräsident der
Gesuchstellerin, H.E., im Verfahren HSU.2020.68 am 6. August 2020 beim
Handelsgericht ein Gesuch um Wiedereintragung der Gesuchstellerin ge-
stellt. Der Gesuchstellerin war es damit zumutbar, vor der Einreichung die-
ses Gesuchs einen Rechtsvertreter mit der Wahrung ihrer Interessen zu
beauftragen. Diese Unterlassung hat sie sich selbst zuzuschreiben.
3 STAEHELIN/STAEHELIN/GROLIMUND, Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 2019, § 17. N. 15. 4 KUKO ZPO-HOFFMANN-NOWOTNY, 2. Aufl. 2014, Art. 148 N. 10 mit Verweis auf BGE 119 II 86
E. 2a.
- 7 -
Schliesslich haben die Gerichtsferien vom 15. Juli bis 15. August 2020 (vgl.
Art. 145 Abs. lit. b ZPO) keinen Einfluss auf die 10-Tagesfrist von Art. 148
Abs. 2 ZPO: Das Verfahren betreffend Mängel in der Organisation der Ge-
sellschaft gemäss Art. 731b OR wird gestützt auf Art. 250 lit. c Ziff. 6 ZPO
im summarischen Verfahren durchgeführt. Folglich ist auch ein Gesuch um
Fristwiederherstellung gemäss Art. 148 ZPO betreffend ein Organisations-
mängelverfahren im summarischen Verfahren zu beurteilen. Im summari-
schen Verfahren gilt der Fristenstillstand der Gerichtsferien nicht (Art. 145
Abs. 2 lit. b ZPO).
Im Übrigen ist kein Grund ersichtlich, weshalb der Gesuchstellerin bzw.
H.E. kein oder nur ein leichtes Verschulden zukommen soll. Obwohl die
Gesuchstellerin und H.E. spätestens seit dem 19. Dezember 2019 – dem
Tag der Abberufung von D.O. – darum wussten, dass die Korrespondenz
der Gesellschaft nicht weitergeleitet wird (Gesuch Rz. 3), haben sie keiner-
lei Anstalten getroffen, damit die Korrespondenz entsprechend weitergelei-
tet wird. Damit wurden selbst die elementarsten Sorgfaltspflichten des cor-
porate houskeeping nicht beachtet. Es liegt daher ein zumindest mittel-
schweres und damit nicht mehr bloss leichtes Verschulden vor.
3.3.
Zusammenfassend ist das Gesuch vom 18. August 2020 infolge Versäum-
nis der relativen Frist von Art. 148 Abs. 2 ZPO und infolge Vorliegens eines
mindestens mittelschweren Verschuldens abzuweisen.
4.
Die Kosten für das Wiederherstellungsverfahren sind unabhängig vom Ver-
fahrensausgang des Organisationsmängelverfahrens nach dem Verursa-
cherprinzip, d.h. zulasten der säumigen Partei, dessen Gesuch abzuweisen
ist, zu verlegen.5 Demnach sind die auf Fr. 750.00 festzusetzenden Ge-
richtskosten der Gesuchstellerin aufzuerlegen. Sie werden mit dem von ihr
geleisteten Kostenvorschuss verrechnet (Art. 111 Abs. 1 ZPO). Eine Par-
teientschädigung ist dem Gesuchsgegner bereits mangels Aufwand nicht
zuzusprechen.
5.
Dieser Entscheid ist gemäss Art. 149 ZPO endgültig.
5 STAEHELIN in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Hrsg.) Kommentar zur Schweizerischen Zi-
vilprozessordnung, 3. Aufl. 2016, Art. 149 N. 5 i.f.
- 8 -
Der Vizepräsident erkennt:
1.
Das Wiederherstellungsgesuch der Gesuchstellerin vom 18. August 2020
wird abgewiesen.
2.
Ziff. 6 der Verfügung vom 19. August 2020, wonach das Konkursamt des
Kantons Aargau, Amtsstelle Brugg, ersucht wird, einstweilen keine (weite-
ren) Vollstreckungshandlungen vorzunehmen, wird aufgehoben.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 750.00 werden der Gesuchstellerin auferlegt
und mit dem von ihr geleisteten Kostenvorschuss in gleicher Höhe verrech-
net.
4.
Es werden keine Parteikosten zugesprochen.
Zustellung an:
- die Gesuchstellerin (Vertreter; zweifach)
- den Gesuchsgegner
Mitteilung an:
- das Konkursamt des Kantons Aargau, Amtsstelle Brugg
Aarau, 4. September 2020
Handelsgericht des Kantons Aargau
2. Kammer
Der Vizepräsident: Der Gerichtsschreiber:
Vetter Schneuwly | 3,642 | 2,705 | AG_HG_002 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_002_-Handelsrecht-Zivilp_2020-09-04 | https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/gesetze___entscheide/gesetze_2/handelsrecht/Entscheid_des_Handelsgerichts_vom_4._September_2020.pdf | null | nan |
||
9b665597-8f95-5d63-88f0-250bfa413fd9 | 1 | 417 | 871,017 | 1,083,628,800,000 | 2,004 | de | 2004
Zivilprozessrecht
53
[...]
9
§ 321 Abs. 1 und 3 ZPO.
Novenrecht bezüglich zivilrechtlicher Einwendungen. Auch im Falle einer
zivilrechtlichen Einwendung wie Erfüllung, welche als eine Frage der
Rechtsanwendung in jeder Instanz von Amtes wegen zu beachten ist,
müssen die dafür erforderlichen Tatsachen, d.h. tatsächlichen Behaup-
tungen und Beweismittel, wie bei den zivilrechtlichen Einreden rechtzei-
tig vorliegen, andernfalls sie vom Novenverbot erfasst werden und die zi-
vilrechtliche Einwendung deshalb nicht geprüft werden kann (Präzisie-
rung der Rechtsprechung zu AGVE 1996 Nr. 20 S. 69 ff.).
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 4. Zivilkammer, vom 19. Mai 2004 in
Sachen Z. F. GmbH gegen C. B.
Aus den Erwägungen
1. Gemäss § 321 Abs. 1 ZPO können in der schriftlichen Be-
gründung von Appellation und Anschlussappellation sowie in der
Antwort auf diese neue Angriffs- und Verteidigungsmittel vorge-
bracht werden, wenn eine Partei dartut, dass sie diese im erstinstanz-
liche Verfahren nicht mehr hat vorbringen können. Einer Partei, die
vor erster Instanz säumig war, steht dieses Recht nicht zu (§ 321
Abs. 3 Satz 1 ZPO).
Der Beklagte reichte trotz zweimaliger Aufforderung durch den
Gerichtspräsidenten keine Klageantwort ein, d.h. er blieb vor erster
Instanz säumig. Ihm steht deshalb das Recht, neue Angriffs- und
Verteidigungsmittel, d.h. tatsächliche Behauptungen und Bestreitun-
gen, Beweismittel, Beweisanträge und Beweiseinreden sowie zivil-
rechtliche Einreden und Gestaltungsrechte (Bühler, Das Novenrecht
im neuen Aargauischen Zivilprozessrecht, Zürich 1986, S. 80) im
Rechtsmittelverfahren vorzubringen, nicht zu. Sinngemäss macht er
mit Appellation (zumindest teilweise) Erfüllung geltend. Dabei han-
delt es sich um eine zivilrechtliche Einwendung, welche zivilrecht-
2004
Obergericht/Handelsgericht
54
lich die (teilweise) Aufhebung des Anspruchs zur Folge hat, und
nicht um ein Angriffs- oder Verteidigungsmittel im Sinne des Noven-
rechts. Eine solche zivilrechtliche Einwendung ist als eine Frage der
Rechtsanwendung in jeder Instanz von Amtes wegen zu beachten,
sofern die dafür erforderlichen Tatsachen vorliegen (Bühler, a.a.O.,
S. 81 ff.). Dies ist indessen nicht der Fall, da der Beklagte die der
(teilweisen) Erfüllung zu Grunde liegenden tatsächlichen Behaup-
tungen erstmals mit Appellation vorträgt und die dazu notwendigen
Beweismittel, Zahlungsbelege und Quittungen, erstmals mit Appel-
lation einreicht. Damit aber ist er infolge Säumnis vor Vorinstanz
ausgeschlossen, weshalb der Einwendungstatbestand der (teilweisen)
Erfüllung nicht geprüft werden kann, da die dafür erforderlichen
Tatsachen nicht vorliegen und eine erneute Prüfung des Sachverhalts
gestützt auf die neuen Belege vor Obergericht nicht zulässig ist, zu-
mal es sich dabei um unechte Noven, d.h. um solche handelt, die sich
bereits vor Eröffnung des erstinstanzlichen Entscheids verwirklicht
haben und dem Beklagten auch bereits bekannt waren (Bühler,
a.a.O., S. 93).
Die damalige 2. und heutige 4. Zivilkammer des Obergerichts
hat in publizierter Rechtsprechung (AGVE 1996 Nr. 20 S. 69 ff.)
bisher anders entschieden und den Einwendungstatbestand der Til-
gung im Rechtsöffnungsverfahren beachtet, auch wenn er sich auf
Tatsachenbehauptungen und Beweismittel stützte, die bereits vor
erster Instanz hätten vorgebracht werden können, aber erst in zweiter
Instanz vorgebracht wurden. Daran kann jedoch nicht festgehalten
werden, da zwar der Einwendungstatbestand der Erfüllung als eine
Frage der Rechtsanwendung jederzeit geltend gemacht werden kann
und von Amtes wegen zu beachten ist, die dazu notwendigen Tatsa-
chenbehauptungen und Beweismittel aber rechtzeitig vorliegen müs-
sen. Mit anderen Worten gilt bezüglich der Tatsachenbehauptungen
und Beweismittel nichts anderes als bei den zivilrechtlichen Einre-
den, sie müssen rechtzeitig vorliegen, andernfalls sie vom Novenver-
bot erfasst werden (vgl. dazu auch Bühler/Edelmann/Killer, Kom-
mentar zur aargauischen Zivilprozessordnung, Aarau/Frankfurt am
Main/Salzburg 1998, N 5 zu § 183 mit Hinweisen). | 917 | 737 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2004-9_2004-05-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2004-9.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2004-9.pdf | AGVE_2004_9 | null | nan |
9d54ed10-6583-4c36-9931-f30cd4fdaf15 | 1 | 414 | 1,497,460 | 1,566,432,000,000 | 2,019 | de | Urteil/Entscheid
Handelsgericht
2. Kammer
HSU.2019.103 / as / as
Art. 152
Entscheid vom 22. August 2019
Besetzung Oberrichter Vetter, Vizepräsident
Gerichtsschreiber Schneuwly
Gesuchstellerin J. AG, _
Gesuchsgegne-
rin
I. AG, _
vertreten durch lic. iur. Rolf Müller, Rechtsanwalt, Bahnhofstrasse 44,
Postfach 2622, 8022 Zürich
Gegenstand Summarisches Verfahren betreffend Bauhandwerkerpfandrecht
- 2 -
Der Vizepräsident entnimmt den Akten:
1.
Die Gesuchstellerin ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Baden (AG). Sie
bezweckt hauptsächlich _ (Gesuchsbeilage [GB] 1).
2.
Die Gesuchsgegnerin ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Opfikon (ZH).
Gemäss Handelsregister hat sie hauptsächlich _.
Die Gesuchsgegnerin ist Alleineigentümerin des Grdst-Nr. XXX GB Sprei-
tenbach (E-GRID: CH _; GB 2).
3.
Mit Gesuch vom 26. Juli 2019 (Postaufgabe: 26. Juli 2019) stellte die
Gesuchstellerin die folgenden Rechtsbegehren:
" 1. Das Grundbuchamt Baden sei im Sinne von Art. 961 ZGB ohne
Anhörung der Gegenpartei – sofort telefonisch und mit Nachreichung der schriftlichen Anmeldung – einstweilen anzuweisen, zugunsten der Gesuchstellerin und zulasten des Grundstücks der Gesuchsgegnerin ein Pfandrecht vorläufig auf die Liegenschaft Spreitenbach / XXX _ für eine Pfandsumme von CHF 234'699.95 nebst Zins zu 5 % auf CHF 100'000.- seit 13. Juli 2019 sowie auf CHF 134'699.95 ab 10. August 2019.
2. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zulasten der Gesuchs-
gegnerin."
4.
Am 29. Juli 2019 verfügte der Vizepräsident:
" 1. In Gutheissung des Gesuchs um Erlass superprovisorischer vom 26. Juli 2019 wird der Gesuchstellerin die Vormerkung einer vorläufigen Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts Art. 837/839 i.V.m. Art. 961 ZGB auf dem Grundstück der , Grdst.-Nr. XXX GB Spreitenbach (E-GRID: _), superprovisorisch für eine Pfandsumme von Fr. 234'699.95 Zins zu je 5 % ab dem 13. Juli 2019 auf Fr. 100'000.00 und ab dem 10. August 2019 auf Fr. 134'699.95 bewilligt.
2.
Das Grundbuchamt Baden wird angewiesen, die Vormerkung gemäss vorstehender Dispositiv-Ziff. 1 sofort einzutragen.
- 3 -
3. Die Gesuchstellerin hat mit beiliegendem Einzahlungsschein bis zum 13. August 2019 einen Gerichtskostenvorschuss von Fr. 3'000.00 zu leisten.
4.
Zustellung des Doppels des Gesuchs (inkl. Beilagen) vom 26. Juli 2019 an die Gesuchsgegnerin zur Erstattung einer schriftlichen Antwort bis zum 13. August 2019.
5.
Fristerstreckungen werden grundsätzlich nicht gewährt. ist eine Fristerstreckung beim Vorliegen zureichender Gründe möglich (Art. 144 Abs. 2 ZPO). Als solche gelten die Zustimmung der Gegenpartei oder von der Partei nicht vorhersehbare oder nicht Hinderungsgründe.
6.
Die Gesuchsgegnerin wird darauf hingewiesen, dass die Vormerkung im Grundbuch gelöscht wird, wenn sie für die angemeldeten hinreichende Sicherheiten leistet.
7.
Der Stillstand der Fristen gemäss Art. 145 Abs. 1 ZPO gilt nicht (Art. 145 Abs. 2 lit. b ZPO)."
5.
Das Grundbuchamt Baden merkte die vorläufige Eintragung am 29. Juli
2019 (Tagebuchnummer 6853) im Tagebuch vor.
6.
6.1.
Mit Verfügung vom 14. August 2019 stellte der Vizepräsident fest, dass die
Gesuchsgegnerin keine Gesuchsantwort erstattete und setzte daher eine
letzte, nicht erstreckbare Frist von 5 Tagen für die Erstattung einer schrift-
lichen Antwort an.
6.2.
Diese Verfügung wurde der Gesuchsgegnerin am 15. August 2019 zuge-
stellt.
6.3.
Mit Eingabe vom 14. August 2019 (Posteingang: 15. August 2019) zeigte
Rechtsanwalt Rolf Müller an, er vertrete die Gesuchsgegnerin. Daraufhin
wurde dem Vertreter der Gesuchsgegnerin die Verfügung vom 14. August
2019 mit Verfügung vom 15. August 2019 zugestellt. Die Kopie der Verfü-
gung vom 14. August 2019 wurde dem Rechtsvertreter der Gesuchsgeg-
nerin ebenfalls mit Verfügung vom 15. August 2019 zugestellt.
7.
Die Gesuchsgegnerin hat auch innert der Nachfrist keine Gesuchsantwort
eingereicht.
- 4 -
Der Vizepräsident zieht in Erwägung:
1.
Die Zuständigkeit des Einzelrichters des Handelsgerichts ist gegeben (vgl.
E. 4 der Verfügung vom 29. Juli 2019).
2.
Die Gesuchsgegnerin ist mit der Erstattung einer Gesuchsantwort innert
der ihr angesetzten Frist und Nachfrist säumig geblieben. Die Säumnisfol-
gen wurden der Gesuchsgegnerin in der Verfügung vom 14. August 2019
angedroht. Das Gericht erlässt damit entweder einen Endentscheid, sofern
die Angelegenheit spruchreif ist, oder es lädt zur Hauptverhandlung vor
(Art. 219 i.V.m. Art. 223 Abs. 2 ZPO).
Die im Gesuch vorgebrachten Tatsachenbehauptungen sind vorliegend un-
bestritten geblieben. Zugestanden sind damit die Tatsachen, nicht aber die
klägerischen Rechtsbegehren. Bei erheblichen Zweifeln an der Richtigkeit
einer nicht streitigen Tatsache, d.h. bei fehlender Spruchreife, kann das
Gericht nach Art. 153 Abs. 2 ZPO von Amtes wegen Beweis erheben.
Ist die Angelegenheit hingegen spruchreif, trifft das Gericht direkt einen En-
dentscheid. Hierzu muss das Gesuch soweit geklärt sein, dass darauf man-
gels Prozessvoraussetzungen nicht eingetreten oder es durch Sachurteil
erledigt werden kann. Dies setzt voraus, dass die Vorbringen der Gesuch-
stellerin nicht unklar, widersprüchlich, unbestimmt oder offensichtlich un-
vollständig sind, weil das Gericht gegebenenfalls seine Fragepflicht ausü-
ben muss.1
3.
3.1.
Der Vizepräsident hat sich bereits in der Verfügung vom 29. Juli 2019 mit
den Behauptungen der Gesuchstellerin auseinandergesetzt und es für
glaubhaft erachtet, dass es sich bei den geltend gemachten Forderungen
um Entschädigungen für Handwerker- oder Unternehmerleistungen im
Sinne von Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB handelt, ein Teil der Forderungen
noch nicht beglichen ist sowie die gesetzliche Eintragungsfrist noch nicht
abgelaufen ist.
3.2.
Der Tatsachenvortrag der Gesuchstellerin blieb von der Gesuchsgegnerin
unbestritten und gilt daher als wahr. Deshalb sind die Voraussetzungen für
1 LEUENBERGER, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Hrsg.), 3. Aufl. 2016, Art. 223 N. 5 und
7; BSK ZPO-WILLISEGGER, 3. Aufl. 2017, Art. 223 N. 18 ff.
- 5 -
die vorläufige Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts auf dem
Grundstück Nr. XXX GB Spreitenbach in Höhe von Fr. 234'699.95 zusätz-
lich Verzugszins von je 5 % auf Fr. 100'000.00 ab dem 13. Juli 2019 und
auf Fr. 134'699.95 ab dem 10. August 2019 erfüllt und ist die mit Verfügung
des Vizepräsidenten vom 29. Juli 2019 superprovisorisch angeordnete vor-
läufige Vormerkung der Bauhandwerkerpfandrechte in diesem Umfang vor-
sorglich zu bestätigen.
4.
4.1.
Ist eine Klage auf definitive Bestellung des Bauhandwerkerpfandrechts
noch nicht rechtshängig, ist der gesuchstellenden Partei nach Art. 263 ZPO
i.V.m. Art. 961 Abs. 3 ZGB eine Frist zur Einreichung der Klage mit der An-
drohung anzusetzen, dass die vorläufige Eintragung im Grundbuch bei un-
genutztem Ablauf der Frist ohne weiteres und ersatzlos gelöscht werden.2
4.2.
Vorliegend ist noch kein ordentliches Verfahren rechtshängig. Der Gesuch-
stellerin ist daher Frist zur Anhebung der Klage im ordentlichen Verfahren
anzusetzen und für den Säumnisfall das ersatzlose Dahinfallen der vor-
sorglichen Eintragungen anzudrohen. Eine Löschung des eingetragenen
Bauhandwerkerpfandrechts seitens des Handelsgerichts würde aber nur
auf entsprechendes Gesuch hin erfolgen. Die Prosequierungsfrist beträgt
nach handelsgerichtlicher Praxis rund drei Monate.
4.3.
Der Gesuchstellerin ist daher Frist bis 25. November 2019 anzusetzen, um
beim zuständigen Gericht Klage im ordentlichen Verfahren auf definitive
Bestellung des Bauhandwerkerpfandrechts anzuheben. Es gilt kein Still-
stand der Fristen.
5.
Die Prozesskosten, bestehend aus Gerichtskosten und Parteientschädi-
gung, werden der unterliegenden Partei auferlegt (Art. 95 Abs. 1 und
Art. 106 Abs. 1 ZPO). Ausgangsgemäss sind sie von der Gesuchsgegnerin
zu tragen.
5.1.
Unter Berücksichtigung des verursachten Aufwands sowie des Umfangs
der Streitigkeit werden die Gerichtskosten auf Fr. 3'000.00 festgesetzt (§ 8
VKD; SAR 221.150). Gestützt auf Art. 111 Abs. 1 Satz 1 ZPO werden sie
vorab mit dem von der Gesuchstellerin geleiseten Gerichtskostenvor-
schuss in Höhe von Fr. 3'000.00 verrechnet. Die Gesuchsgegnerin hat der
2 SCHUMACHER, Das Bauhandwerkerpfandrecht, 3. Aufl. 2008, N. 672 ff.
- 6 -
Gesuchstellerin die Gerichtskosten, d.h. Fr. 3'000.00, direkt zu ersetzen
(vgl. Art. 111 Abs. 2 ZPO).
5.2.
Die Gesuchstellerin macht eine Parteientschädigung geltend. Indes wird
einer Partei, die nicht durch einen Anwalt vertreten ist, keine Entschädigung
für die Kosten einer berufsmässigen Vertretung gemäss Art. 95 Abs. 3 lit. b
ZPO zugesprochen. Nur in begründeten Fällen, wie bei komplizierten
Streitsachen, grossem Arbeitsaufwand oder Erwerbsausfall eines Selb-
ständigerwerbenden ist allenfalls eine Umtriebsentschädigung gemäss
Art. 95 Abs. 3 lit. c ZPO angezeigt.3 Da es sich vorliegend aber weder um
eine komplizierte noch besonders aufwendige Angelegenheit handelt, ist
der Gesuchstellerin keine Umtriebsentschädigung zuzusprechen.
5.3.
Eine abweichende Verlegung der Prozesskosten im allenfalls vor Handels-
gericht stattfindenden Hauptprozess im ordentlichen Verfahren oder auf-
grund separater Verfügung im vorliegenden Verfahren bleibt vorbehalten.
Der Vizepräsident erkennt:
1.
In Gutheissung des Gesuchs vom 26. Juli 2019 wird die mit Verfügung
vom 29. Juli 2019 zugunsten der Gesuchstellerin auf dem Grundstück der
Gesuchsgegnerin, Grdst.-Nr. XXX GB Spreitenbach (E-GRID: _), su-
perprovisorisch für eine Pfandsumme von Fr. 234'699.95 zuzüglich Zins
zu je 5 % ab dem 13. Juli 2019 auf Fr. 100'000.00 und ab dem 10. August
2019 auf Fr. 134'699.95 angeordnete Vormerkung vorsorglich bestätigt.
2.
Das Grundbuchamt Baden wird angewiesen, die Vormerkung gemäss Dis-
positiv-Ziff. 1 aufrechtzuerhalten.
3.
3.1.
Die Gesuchstellerin hat bis zum 25. November 2019 beim zuständigen
Gericht im ordentlichen Verfahren Klage auf definitive Eintragung des Bau-
handwerkerpfandrechts anzuheben.
3 SUTER/VON HOLZEN, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Fn. Fehler! Textmarke nicht defi-
niert.), Art. 95 N. 40 f.
- 7 -
3.2.
Im Säumnisfall fällt die in der vorstehenden Dispositiv-Ziff. 1 angeordnete
vorsorgliche Massnahme dahin, wobei die Vormerkung im Grundbuch nur
auf entsprechendes Gesuch hin gelöscht wird.
3.3.
Es gilt kein Stillstand der Fristen.
4.
4.1.
Die Gerichtskosten in Höhe von Fr. 3'000.00 sind von der
Gesuchsgegnerin zu tragen und werden mit dem von der Gesuchstellerin
geleiseten Gerichtskostenvorschuss in Höhe von Fr. 3'000.00 verrechnet.
Die Gesuchsgegnerin hat die von ihr zu tragenden Gerichtskosten der Ge-
suchstellerin direkt zu ersetzen.
4.2.
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen.
4.3.
Eine abweichende Verlegung der Prozesskosten mittels separater Verfü-
gung oder im ordentlichen Verfahren bleibt vorbehalten, falls dieses vor
dem Handelsgericht stattfindet.
Zustellung an:
die Gesuchstellerin
die Gesuchsgegnerin (Vertreter; zweifach)
Zustellung an (nach Ablauf der Rechtsmittelfrist):
das Grundbuchamt Baden
Rechtsmittelbelehrung für die Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 ff.,
Art 90 ff. BGG)
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen, von der schriftlichen Eröff-
nung der vollständigen Ausfertigung des Entscheids an gerechnet, die Be-
schwerde an das Schweizerische Bundesgericht erhoben werden.
Die Beschwerde ist schriftlich oder in elektronischer Form beim Schweize-
rischen Bundesgericht einzureichen. Die Beschwerdeschrift ist in einer
Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit An-
gabe der Beweismittel und die Unterschriften bzw. eine anerkannte elekt-
ronische Signatur zu enthalten. In der Begründung ist in gedrängter Form
- 8 -
darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid verfassungsmässige
Rechte (Art. 98 ff. BGG) verletzt. Die Urkunden, auf die sich die Partei als
Beweismittel beruft, sind beizulegen, soweit die Partei sie in den Händen
hat; ebenso ist der angefochtene Entscheid beizulegen (Art. 42 BGG).
Aarau, 22. August 2019
Handelsgericht des Kantons Aargau
2. Kammer
Der Vizepräsident: Der Gerichtsschreiber:
Vetter Schneuwly | 3,019 | 2,201 | AG_HG_002 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_002_-Handelsrecht-Bauhan_2019-08-22 | https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/gesetze___entscheide/gesetze_2/handelsrecht/Entscheid_des_Handelsgerichts_vom_22._August_2019.pdf | null | nan |
||
9da188aa-0657-5a72-9fc7-82b92dbef92e | 1 | 417 | 870,432 | 986,428,800,000 | 2,001 | de | 2001
Zivilprozessrecht
63
[...]
17
Die Tatsache, dass eine in Betreibung gesetzte Forderung auf Urteilen des
nunmehr mit der Rechtsöffnung befassten Gerichtspräsidiums beruhen,
begründet für sich allein keinen Ausstandsgrund (§§ 2 und 3 ZPO). Das
Gerichtspräsidium amtete vormals als Sachrichter und jetzt als Voll-
2001
Obergericht/Handelsgericht
64
streckungsrichter. Die sich stellenden Rechtsfragen in den beiden Verfah-
ren sind nicht dieselben. In Bezug auf die zu beurteilenden Fragen kann
das Verfahren daher als offen und nicht vorbestimmt angesehen werden.
Dies gilt zufolge des im Zivilprozess- wie auch im Schuldbetreibungsrecht
geltenden Wohnsitzprinzips auch für Fälle, in denen es um die Betreibung
der Prozesskosten geht, die das Gerichtspräsidium im früheren Prozess
dem Schuldner auferlegte und für die dessen Gerichtskasse im Namen
des Kantons Aargau den Schuldner nun selbst betreibt.
Entscheid der Inspektionskommission vom 5. April 2001. | 205 | 171 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2001-17_2001-04-05 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-17.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-17.pdf | AGVE_2001_17 | null | nan |
9df2463b-b1d8-5ad5-ac66-616354689766 | 1 | 417 | 870,486 | 1,185,926,400,000 | 2,007 | de | 2007
Zivilprozessrecht
39
B. Anwaltsrecht
7
§ 3 Abs. 1 lit. d AnwT, Art. 122 bis 124 ZGB; Anwaltsentschädigung
Die Anwaltsentschädigung in Streitigkeiten betreffend Art. 122 bis 124
ZGB richtet sich nach § 3 Abs. 1 lit. d AnwT
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 1. Zivilkammer, vom 21. August
2007, in Sachen H.H. gegen. R.H.-M.
Aus den Erwägungen
9.2.
9.2.1
Wie die Beklagte zutreffend ausführt, bezeichnet das Bundesge-
richt
im Zusammenhang mit der Zulässigkeit von Rechtsmitteln
Verfahren betreffend Teilung der Austrittsleistung bzw. Entschädi-
gung nach Art. 124 ZGB als Zivilsachen mit Vermögenswert (BGE
5C.212/2004 Erw. 1; BGE 5C.159/2002 Erw. 1.1). Gleich hält es das
Bundesgericht auch mit Verfahren, die den nachehelichen Unterhalts-
anspruch betreffen (BGE 5C.49/2005 Erw. 1.1). Auch nach aargaui-
schem Prozessrecht gelten Abänderungsklagen betreffend familien-
rechtliche Unterhaltspflichten
im Zusammenhang mit der Frage der
sachlichen Zuständigkeit
als vermögensrechtliche Streitigkeiten
(Bühler/Edelmann/Killer, Kommentar zur aargauischen Zivilprozess-
ordnung, 2. A., Aarau/Frankfurt am Main/Salzburg 1998, N 7 Vorbe-
merkungen zu §§ 10 - 22 ZPO). § 3 Abs. 1 lit. d AnwT legt nun aber
für den Bereich des Anwaltstarifs
ausdrücklich fest, dass ,,die
Festsetzung familienrechtlicher Unterhalts- und Unterstützungsbei-
träge (...) als nicht vermögensrechtliche Streitsache" gilt. Dabei
präzisiert die nämliche Bestimmung wiederum klar, dass Verfahren
über güterrechtliche Ansprüche bezüglich Anwaltstarif als
vermögensrechtliche Streitsachen gelten. Der Anwaltstarif definiert
2007
Obergericht/Handelsgericht
40
im Bereich des Familienrechts also die ,,vermögensrechtlichen Streit-
sachen" autonom. Die Praxis behandelt denn auch Verfahren betref-
fend Abänderung von Unterhaltsbeiträgen bei der Anwendung des
Anwaltstarifs folgerichtig als nicht vermögensrechtliche Streitsachen
(AGVE 1992 S. 104 ff.).
9.2.2.
9.2.2.1.
Die Botschaft des Regierungsrates an den Grossen Rat vom
7. September 1987 zum Anwaltstarif enthält zu § 3 Abs. 1 lit. d
AnwT unter anderem folgende Erläuterung:
" Für nicht vermögensrechtliche Streitsachen ist ein Grundsatzrahmen
vorgesehen, da sich in diesem Bereich keine allgemeinen objektiven
Anhaltspunkte für eine Differenzierung finden lassen. Als nicht ver-
mögensrechtliche Streitigkeit wird nun neu, allgemein und aus-
nahmslos auch die Festsetzung familienrechtlicher Unterhalts- und
Unterstützungsbeiträge erklärt (dem Grundsatz nach galt diese Re-
gelung schon im geltenden Recht, doch konnten Streitwertzuschläge
ausnahmsweise gewährt werden, wenn ganz besondere Umstände
des Einzelfalles dies rechtfertigten) (vgl. Kreisschreiben des Ober-
gerichts vom 23.11.1956 in AGVE 1957, S. 166). Mit dieser klaren
Regelung wird verschiedenen Anregungen aus dem Vernehmlas-
sungsverfahren Rechnung getragen. In güterrechtlichen Streitigkei-
ten bleiben indessen wie bisher Streitwertzuschläge zulässig."
§ 3 Abs. 1 lit. d AnwT wurde auf Anregung der Konferenz der
Aargauischen Gerichtspräsidenten in ihrer Vernehmlassung vom
20. März 1987 in die Gesetzesvorlage aufgenommen. Es war darin
Folgendes ausgeführt:
,, In der Praxis sind die Ehescheidungsverfahren die weitaus häufigsten
Zivilsachen. Gerade für diese Verfahren enthält der Entwurf indessen
keine Regelung darüber, wie das Grundhonorar zu bemessen sei. Es
wird nicht gesagt, ob beispielsweise die Unterhaltsbeiträge zu kapita-
lisieren und dann als ,Streitwert' zu betrachten seien, ob güterrechtli-
2007
Zivilprozessrecht
41
che Ansprüche ebenfalls mit dem vollen Betrag als Streitwert einzu-
setzen seien usw.
Im geltenden Recht ist die Frage mindestens einigermassen geregelt.
So hat das Gesamtobergericht in einem Kreisschreiben vom 23. No-
vember 1956 (AGVE 1957, 166) festgehalten, Kinderrenten seien
keine ,vermögensrechtlichen Nebenfolgen' im Sinn von § 16 Abs. 2
Satz 2 AnwT. Hingegen könne für solche Renten in analoger Anwen-
dung von § 16 Abs. 2 Satz 1 AnwT ein Streitwertzuschlag gewährt
und nach Billigkeit bemessen werden, wenn es in einem bestimmten
Fall vom Umfang der Streitsache und der Schwierigkeit dieser
Rentenansprüche oder von den persönlichen Verhältnissen der Par-
teien her gerechtfertigt erscheine.
Hingegen hat das Obergericht im gleichen Kreisschreiben zu erken-
nen gegeben, dass güterrechtliche Ansprüche im Sinne von Art. 154
ZGB sehr wohl als ,vermögensrechtliche Nebenfolgen' gemäss § 16
Abs. 2 AnwT zu verstehen seien.
Bei Abänderungsverfahern im Sinne von Art. 157 ZGB hält das
Obergericht für Rentenansprüche - insbesondere auch Kinderren-
ten-- einen vollen Streitwertzuschlag nach §§ 11 und 12 AnwT für
zulässig. Massgebend sei der Barwert der ins Recht gesetzten Unter-
haltsbeiträge (vgl. AGVE 1971, 69).
Wünschbar wäre nun, dass mindestens in den Erläuterungen zum
Dekretsentwurf festgehalten würde, wie weit Unterhaltsbeiträge (im
Ehescheidungsverfahren wie auch im Abänderungsverfahren) sowie
güterrechtliche Ansprüche im Ehescheidungsverfahren bei der Be-
rechnung des Grundhonorars zu berücksichtigen seien. Andernfalls
wäre es wohl Aufgabe des Obergerichts, hier möglichst bald nach In-
krafttreten des neuen Anwaltstrarifes mit einem Kreisschreiben Klar-
heit zu schaffen."
Es lässt sich somit feststellen, dass § 3 Abs. 1 lit. d AnwT bei
seiner Schaffung eine direkte Antwort dieses Dekrets auf die von den
Gerichtspräsidenten aufgeworfenen Fragen darstellte. Die Fragestel-
lung, welche Ausgangpunkt für die strittige Bestimmung war, geht
davon aus, dass es zumindest unklar war, ob sich das Honorar hin-
sichtlich Unterhalts- und Güterrechtsfolgen einer Ehescheidung nach
2007
Obergericht/Handelsgericht
42
Streitwert bemesse oder nicht. Die Tatsache, dass in § 3 Abs. 1 lit. d
AnwT ausdrücklich gesagt wird, für güterrechtliche Ansprüche gäl-
ten die lit. a und c, d.h. sie seien als vermögensrechtliche Streitsa-
chen zu behandeln, zeigt, dass mit dieser Bestimmung nicht in erster
Linie die Festsetzung familienrechtlicher Unterhalts- und Unterstüt-
zungsbeiträge von den vermögensrechtlichen Streitsachen ausge-
nommen werden sollten. Es lässt sich vielmehr die Auffassung ver-
treten, mit dieser Bestimmung solle für familienrechtliche Verfahren,
die grundsätzlich nicht vermögensrechtlicher Natur sind, definiert
werden, welche vermögensrechtlichen Scheidungsfolgen im Rahmen
des Anwaltstarifs zu einer Anwaltsentschädigung nach Streitwert
berechtigten und welche nicht.
9.2.2.2.
Im Zeitpunkt des Erlasses des Anwaltstarifs (im Jahr 1987)
wurden Vorsorgeansprüche der Eheleute, soweit die Zeit nach Auflö-
sung der Ehe betroffen war, in Scheidungsverfahren einzig im Rah-
men des scheidungsrechtlichen Entschädigungs- oder Unterhaltsan-
spruchs gemäss aArt. 151 und 152 ZGB berücksichtigt (Walser, Bas-
ler Kommentar, 3. A., 2006, N 1 zu Art. 122 ZGB). Die Frage, ob im
Scheidungsverfahren beurteilte Ansprüche betreffend berufliche Vor-
sorge gemäss Art. 122 ff. ZGB zu einer nach Streitwert bemessenen
Anwaltentschädigung berechtigen, ist von § 3 Abs. 1 lit. d AnwT also
nicht geregelt. Die Regelung im Anwaltstarif ist somit planwidrig un-
vollständig bzw. aufgrund der Rechtsentwicklung unvollständig ge-
worden, d.h. es liegt eine Rechtslücke vor (Honsell, Basler Kommen-
tar, 3. A., 2006, N 27 zu Art. 1 ZGB). Das Gericht hat nach der Regel
zu entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde (Art. 1 Abs.
2 ZGB). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass familienrechtliche
Streitigkeiten solche nicht vermögensrechtlicher Art sind. Der De-
kretsgeber hat diese Qualifikation auch für die familienrechtlichen
Unterhalts- und Unterstützungsbeiträge ausdrücklich festgeschrie-
ben. Mit den entsprechenden aArt. 151 und 152 ZGB wurde ein brei-
tes Feld von scheidungsbedingten Nachteilen geregelt. Insbesondere
Vorsorgefragen wurden auch von diesen Regeln erfasst. Nachdem
der Dekretsgeber von den Scheidungsfolgen ausdrücklich und spe-
ziell die güterrechtlichen Ansprüche lit. a und c von § 3 Abs. 1 AnwT
2007
Zivilprozessrecht
43
unterstellt hat, ist davon auszugehen, dass er die nicht in diesen Be-
reich, sondern in den Bereich der ,,familienrechtlichen Unterhalts-
und Unterstützungsbeiträge" fallenden Vorsorgeansprüche ebenfalls
als nicht vermögensrechtliche Streitsache bezeichnet hätte. Dies er-
scheint auch unter folgendem Gesichtspunkt gerechtfertigt: Kommt
zwischen den Parteien eines Scheidungsverfahrens betreffend die be-
rufliche Vorsorge keine Vereinbarung zustande, so entscheidet das
Gericht über das Verhältnis, in welchem die Austrittsleistungen zu
teilen sind (Art. 142 Abs. 1 ZGB). Das Sozialversicherungsgericht
legt dann fest, welcher Betrag per Saldo als Austrittsleistung wel-
chem Ehegatten zusteht (Art. 142 Abs. 2 ZGB; Walser, a.a.O., N 6 zu
Art. 142 ZGB). In Verfahren vor kantonalem Versicherungsgericht
hat die obsiegende Partei zwar Anspruch auf Ersatz der Parteikosten.
Diese werden vom Versicherungsgericht aber ohne Rücksicht auf den
Streitwert nach der Bedeutung der Streitsache und nach der
Schwierigkeit des Prozesses bemessen und festgesetzt (Art. 61 lit. g
ATSG; § 5 Abs. 1 AnwT). Unter Berücksichtigung dieser Regel und
nachdem es sich von selbst versteht, dass die Festsetzung des
Verhältnisses, in welchem die Austrittsleistungen den Ehegatten
zustehen, kein Verfahren ist, das eine Anwaltsentschädigung nach
Streitwert rechtfertigt, erschiene es nicht legitim, im Verfahren nach
Art. 124 ZGB eine Parteientschädigung nach Streitwert zuzuspre-
chen. Eine solche Regelung stünde nicht im Einklang mit den
Intentionen des Dekretsgebers. | 2,235 | 1,702 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2007-7_2007-08-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2007-7.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2007-7.pdf | AGVE_2007_7 | null | nan |
9ea25373-fa2c-5db0-8e75-e3210acb4edf | 1 | 417 | 872,036 | 1,024,876,800,000 | 2,002 | de | 2002
Obergericht/Handelsgericht
74
[...]
22
Ablehnung; Anzeigeerstattung eines Gerichtspräsidenten gegenüber der
Anwaltskommission
Anzeigeerstattung durch einen Gerichtspräsidenten bei der Anwaltskom-
mission führt in späteren Verfahren, in welchen der betreffende Anwalt
auftritt, nicht ohne weiteres zu einem Ablehnungsgrund.
Aus dem Entscheid der Inspektionskommission vom 24. Juni 2002 i.S. E.
C. gegen Gerichtspräsidium X.
Aus den Erwägungen:
3. (...)
a) (...) Die Tatsache, dass ein Gerichtspräsident in einem frühe-
ren Verfahren mit dem Verhalten des Rechtsvertreters nicht einver-
standen war und deshalb eine Aufsichtsanzeige erstattete, ist für sich
allein nicht geeignet, in späteren Verfahren, in welchen der Anwalt
wieder auftritt, den Anschein der Befangenheit zu begründen, selbst
wenn wiederum die gleiche, vom Anwalt bereits im ersten Verfahren
vertretene Partei betroffen ist. Ansonsten würde für Anwälte, welche
sich nicht an die Berufsregeln halten, schon bald einmal kein Richter
mehr zur Verfügung stehen. Keine Rolle spielt dabei im Übrigen, ob
der Anzeige des Gerichtspräsidenten letztlich stattgegeben wird oder
nicht. Eine Ausnahme müsste höchstens in jenen Fällen gelten, wo
eine Anzeige offensichtlich grundlos erfolgte und damit Ausdruck
eines gestörten Verhältnisses zwischen dem Gerichtspräsidenten und
dem Anwalt ist. (...)
Wollte man anders entscheiden, hätte dies zur Folge, dass ein
Gerichtspräsident gegen einen sich seiner Meinung nach ungehörig
aufführenden oder gegen die Berufsregeln verstossenden Anwalt
keine Anzeige bei der Aufsichtsbehörde mehr machen könnte, ohne
2002
Zivilprozessrecht
75
sich in sämtlichen zukünftigen Verfahren, in welchen der betreffende
Anwalt als Rechtsvertreter auftritt, in den Ausstand begeben zu müs-
sen. Dies würde aber Art. 15 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die
Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte vom 23. Juni 2000
(BGFA; SR 935.61) widersprechen. Diese Bestimmung sieht näm-
lich für kantonale Gerichts- und Verwaltungsbehörden eine Melde-
pflicht betreffend Verletzung von Berufsregeln vor. | 417 | 367 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2002-22_2002-06-24 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-22.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-22.pdf | AGVE_2002_22 | null | nan |
9f5cce99-ee1b-493f-9729-607c6f2facba | 1 | 414 | 1,497,514 | 1,604,448,000,000 | 2,020 | de | Urteil/Entscheid
Handelsgericht
2. Kammer
HSU.2020.82 / as / as
Entscheid vom 4. November 2020
Besetzung Oberrichter Vetter, Vizepräsident
Gerichtsschreiber Schneuwly
Gesuchstellerin K. AG, _
Gesuchsgegne-
rin
I SA, _
vertreten durch MLaw Simon Fluri und MLaw Noëmi Nenniger, Rechtsan-
wälte, Jungfraustrasse 1, 3000 Bern 6
Gegenstand Summarisches Verfahren betreffend Bauhandwerkerpfandrecht
- 2 -
Der Vizepräsident entnimmt den Akten:
1.
Die Gesuchstellerin ist Aktiengesellschaft mit Sitz in Zürich. Sie bezweckt
im Wesentlichen _ (Gesuchsbeilage [GB] 0).
2.
Die Gesuchsgegnerin ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Freiburg i.Üe.
Sie hat gemäss Handelsregister folgenden Zweck _"
Die Gesuchsgegnerin ist Alleineigentümerin der Grdst.-Nrn. 255 GB R. (E-
GRID: CH 123; GB 1.2), 256 GB R. (E-GRID: CH 456; GB 1.1) und 3319
GB R. (E-GRID: CH 789; GB 1.3).
3.
Mit Gesuch vom 12. Oktober 2020 (gleichentags persönlich überbracht)
stellte die Gesuchstellerin die folgenden Rechtsbegehren:
" 1. Das Grundbuchamt A. sei anzuweisen, zulasten des Grund-
stücks in der Gemeinde R., Grundbuch-/Grundblatt-Nr. 255 -Nr. CH123, zugunsten von der gesuchstellenden Partei ein Bauhandwerkerpfandrecht für die Pfandsumme von CHF 374'042.5 nebst 5 % Zins seit 26.08.2020 vorläufig als einzutragen.
Die Anweisung sei superprovisorisch (d.h. sofort nach Eingang
des Gesuchs ohne Anhörung der Gegenpartei) zu verfügen und dem Grundbuchamt unverzüglich zur vorläufigen Eintragung im Grundbuch mitzuteilen.
Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Gegen-
partei.
2. Das Grundbuchamt A. sei anzuweisen, zulasten des Grund-
stücks in der Gemeinde R., Grundbuch-/Grundblatt-Nr. 256 -Nr. CH456, zugunsten von der gesuchstellenden Partei ein Bauhandwerkerpfandrecht für die Pfandsumme von CHF 374'042.5 nebst 5 % Zins seit 26.08.2020 vorläufig als einzutragen
Die Anweisung sei superprovisorisch (d.h. sofort nach Eingang
des Gesuchs ohne Anhörung der Gegenpartei) zu verfügen und dem Grundbuchamt unverzüglich zur vorläufigen Eintragung im Grundbuch mitzuteilen.
Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Gegen-
partei.
3. Das Grundbuchamt A. sei anzuweisen, zulasten des Grund-
stücks in der Gemeinde R., Grundbuch-/Grundblatt-Nr. 3319 -Nr. CH789, zugunsten von der gesuchstellenden Partei ein Bauhandwerkerpfandrecht für die Pfandsumme von
- 3 -
CHF 374'042.5 nebst 5 % Zins seit 26.08.2020 vorläufig als einzutragen
Die Anweisung sei superprovisorisch (d.h. sofort nach Eingang
des Gesuchs ohne Anhörung der Gegenpartei) zu verfügen und dem Grundbuchamt unverzüglich zur vorläufigen Eintragung im Grundbuch mitzuteilen.
Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Gegen-
partei."
4.
Am 12. Oktober 2020 erliess der Vizepräsident folgende Verfügung:
1.
In Gutheissung des Gesuchs vom 12. Oktober 2020 wird der Ge-
suchstellerin die Vormerkung je einer vorläufigen Eintragung eines
Bauhandwerkerpfandrechts gemäss Art. 837/839 i.V.m. Art. 961
ZGB wie folgt
Fr. 374'042.50 zuzüglich Zins zu 5 % seit 26. August 2020 auf
Grdst.-Nr. 255 GB R. (E-GRID: CH 123)
Fr. 374'042.50 zuzüglich Zins zu 5 % seit 26. August 2020 auf
Grdst.-Nr. 256 GB R. (E-GRID: CH 456)
Fr. 374'042.50 zuzüglich Zins zu 5 % seit 26. August 2020 auf
Grdst.-Nr. 3319 GB R. (E-GRID: CH 789)
superprovisorisch bewilligt.
2.
Das Grundbuchamt A. wird angewiesen, die Vormerkung gemäss
vorstehender Dispositiv-Ziff. 1 sofort einzutragen.
3.
Die Gesuchstellerin hat mit beiliegendem Einzahlungsschein bis
zum 27. Oktober 2020 einen Gerichtskostenvorschuss von
Fr. 5'250.00 zu leisten.
4.
Zustellung des Doppels des Gesuchs (inkl. Beilagen) vom 12. Okto-
ber 2020 an die Gesuchsgegnerin zur Erstattung einer schriftlichen
Antwort bis zum 27. Oktober 2020.
5.
Fristerstreckungen werden grundsätzlich nicht gewährt. Aus-
nahmsweise ist eine Fristerstreckung beim Vorliegen zureichender
Gründe möglich (Art. 144 Abs. 2 ZPO). Als solche gelten die Zustim-
mung der Gegenpartei oder von der Partei nicht vorhersehbare oder
nicht beeinflussbare Hinderungsgründe.
- 4 -
6.
Bei Säumnis wird das Verfahren ohne die versäumte Handlung wei-
tergeführt (Art. 147 Abs. 2 ZPO).
7.
Die Gesuchsgegnerin wird darauf hingewiesen, dass die Vormer-
kung im Grundbuch gelöscht wird, wenn sie für die angemeldeten
Forderungen hinreichende Sicherheiten leistet. Für die Anmel-
dung der Löschung sind die Parteien selbst verantwortlich.
8.
Der Stillstand der Fristen gemäss Art. 145 Abs. 1 ZPO gilt nicht
(Art. 145 Abs. 2 lit. b ZPO).
5.
Das Grundbuchamt A. merkte die vorläufigen Eintragungen am 12. Okto-
ber 2020 unter der Tagebuchnummer 2020/11257 vor.
6.
Mit Verfügung vom 28. Oktober 2020 setzte der Vizepräsident sowohl der
Gesuchstellerin für die Leistung des Kostenvorschusses als auch der Ge-
suchsgegnerin für die Einreichung einer Gesuchsantwort je eine kurze
Nachfrist bis zum 5. November 2020.
7.
Mit Gesuchsantwort vom 30. Oktober 2020 stellte die Gesuchsgegnerin fol-
gende Rechtsbegehren:
" 1. Das Grundbuchamt A. sei anzuweisen, das zugunsten der auf der Liegenschaft der Gesuchsgegnerin, Grdst.-Nr. 255 GB R., als vorläufige Eintragung vorgemerkte Bauhandwerkerpfandrecht im Betrag von CHF 374'042.50 Zins von 5 % seit 26. August 2020 zu löschen,
2.
Das Grundbuchamt A. sei anzuweisen, das zugunsten der auf der Liegenschaft der Gesuchsgegnerin, Grdst.-Nr. 256 GB R., als vorläufige Eintragung vorgemerkte Bauhandwerkerpfandrecht im Betrag von CHF 374'042.50 Zins von 5 % seit 26. August 2020 zu löschen,
3.
Das Grundbuchamt A. sei anzuweisen, das zugunsten der auf der Liegenschaft der Gesuchsgegnerin, Grdst.-Nr. 3319 GB R., als vorläufige Eintragung vorgemerkte Bauhandwerkerpfandrecht im Betrag von CHF 374'042.50 Zins von 5 % seit 26. August 2020 zu löschen,
unter Kosten- und Entschädigungsfolge."
8.
Der Kostenvorschuss für die Gerichtskosten in Höhe von Fr. 5'250.00 der
Gesuchstellerin ging am 3. November 2020 bei der Obergerichtskasse ein.
- 5 -
Der Vizepräsident zieht in Erwägung:
1. Zuständigkeit
Der Einzelrichter am Handelsgericht ist örtlich, sachlich und funktionell zur
Beurteilung der im summarischen Verfahren zu behandelnden Streitigkeit
zuständig (vgl. dazu E. 4 der Verfügung vom 12. Oktober 2020).
2. Allgemeine Voraussetzungen der vorläufigen Eintragung
2.1.
Die Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts setzt im Wesentlichen
die Forderung eines Bauhandwerkers oder Unternehmers für die Leistung
von Arbeit und allenfalls von Material zugunsten des zu belastenden
Grundstücks sowie die Wahrung der viermonatigen Eintragungsfrist voraus
(Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 und 839 Abs. 2 ZGB).
2.2.
Die Eintragungsvoraussetzungen sind im Verfahren betreffend vorläufige
Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts lediglich glaubhaft zu ma-
chen. An diese Glaubhaftmachung werden zudem weniger strenge Anfor-
derungen gestellt, als es diesem Beweismass für vorsorgliche Massnah-
men (Art. 261 ff. ZPO) sonst entspricht.1 Die vorläufige Eintragung darf nur
verweigert werden, wenn der Bestand des Pfandrechts ausgeschlossen o-
der höchst unwahrscheinlich erscheint. Im Zweifelsfall, bei unklarer Be-
weis- oder Rechtslage, ist die vorläufige Eintragung zu bewilligen und die
Entscheidung dem Richter im ordentlichen Verfahren zu überlassen.2 Letzt-
lich läuft es darauf hinaus, dass der gesuchstellende Unternehmer nur die
blosse Möglichkeit eines Anspruchs auf ein Bauhandwerkerpfandrecht
nachzuweisen hat.3
3. Pfandsumme
3.1. Parteibehauptungen
Die Gesuchstellerin behauptet, von der M. AG mit diversen Werkverträgen
und diversen Bestellungsänderungen betreffend verschiedene Baumeister-
arbeiten beauftragt worden zu sein. Daraus stehe ihr eine Werklohnsumme
inkl. einer Sicherheitsmarge von 10 % im Umfang von Fr. 1'122'127.50 zu
(Gesuch und GB 2-4, 7 f., 10 und 12).
Die Gesuchsgegnerin bestreitet die Höhe der Werklohnforderung mit Nicht-
wissen. Schuldnerin einer allfälligen Forderung wäre die M. AG (Antwort
Rz. 16 f.). Es sei nicht glaubhaft, dass die Gesuchstellerin auf allen drei
Grundstücken gleichmässig Arbeit geleistet habe. Entsprechend habe sie
1 BGE 137 III 563 E. 3.3; 86 I 265 E. 3; vgl. auch SCHUMACHER, Das Bauhandwerkerpfandrecht, 3. Aufl.
2008, N. 1394; BSK ZGB II-THURNHERR, 6. Aufl. 2019, Art. 839/840 N. 37. 2 BGE 86 I 265 E. 3; 102 Ia 81 E. 2b.bb; BGer 5A_426/2015 vom 8. Oktober 2015 E. 3.4; 5A_924/2014
vom 7. Mai 2015 E. 4.1.2; SCHUMACHER, Das Bauhandwerkerpfandrecht, Ergänzungsband zur 3. Aufl., 2011, N. 628.
3 SCHUMACHER (Fn. 1), N. 1395.
- 6 -
auch keinen Anspruch auf Eintragung eines Sicherheitszuschlags von
10 %.
3.2. Rechtliches
Pfandberechtigt sind die Forderungen der Handwerker oder Unternehmer,
die auf einem Grundstück zu Bauten oder anderen Werken, zu Abbruchar-
beiten, zum Gerüstbau, zur Baugrubensicherung oder dergleichen Material
und Arbeit oder Arbeit allein geliefert haben (Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB).
Die mit dem Bauhandwerkerpfand zu sichernde bzw. die gesicherte Forde-
rung besteht entsprechend in der Vergütungsforderung des Handwerkers
oder Unternehmers. Sie ist mit dieser identisch. Für die Eintragung des
Bauhandwerkerpfandrechts im Grundbuch ist daher nach Art. 794 Abs. 1
i.V.m. Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB eine bestimmte Pfandsumme anzuge-
ben.4
Werden auf mehreren Grundstücken pfandberechtigte Leistungen er-
bracht, so ist die Pfandsumme auf die einzelnen Parzellen zu verteilen.5
Die Aufteilung hat derart zu erfolgen, dass jedes einzelne Grundstück nur
mit demjenigen Anteil belastet wird, der dem Anteil an den Bauarbeiten
entspricht, die tatsächlich für das betreffende (belastete) Grundstück er-
bracht worden sind. Die sich aus der Aufteilung ergebenden Teilbeträge
sind in der Folge als Teilpfandrechte i.S.v. Art. 798 Abs. 2 ZGB einzutra-
gen.6 Der Unternehmer hat grundsätzlich nachzuweisen, welche konkreten
Leistungen an Arbeit und Material er zu welchen Preisen für jedes einzelne
Grundstück erbracht hat.7 Im Verfahren betreffend vorläufige Eintragung ist
indes – aufgrund der drohenden Verwirkung bei Nichteintragung innerhalb
der Frist von Art. 839 Abs. 2 ZGB – eine Aufteilung auf die einzelnen Lie-
genschaften nach Bruchteilen (etwa auf der Grundlage von Quadrat- oder
Kubikmeterzahlen) statthaft. Die im Grundbuch vorläufig eingetragenen
Teilpfandsummen sind dann im Verfahren betreffend definitive Eintragung
aufgrund konkreter Nachweise der auf den verschiedenen Grundstücken
erbrachten Leistungen zu berichtigen.8
3.3. Würdigung
Mit der Vorlage der Werkverträge Nr. 1, 3 und 65 (GB 2-4) sowie der Rech-
nungen (GB 7 f. und 12) macht die Gesuchstellerin glaubhaft, dass ihr ge-
genüber der M. AG eine Werklohnsumme von insgesamt Fr. 1'020'115.96
zusteht. Im vorliegenden Verfahren betreffend Bauhandwerkerpfandrechte
ist dabei unerheblich, dass diese vermeintliche Summe nicht die Gesuchs-
gegnerin, sondern die M. AG schuldet. Weshalb es weiter nicht glaubhaft
4 SCHUMACHER (Fn. 1), N. 436, 438 und 547. 5 BSK ZGB II-THURNHERR (Fn. 1), Art. 839/840 N. 18 m.w.H. 6 SCHUMACHER (Fn. 1), N. 593, 837; vgl. BRITSCHGI Das belastete Grundstück beim Bauhandwerker-
pfandrecht, Luzerner Beiträge zur Rechtswissenschaft, Band/Nr. 30, 2008, S. 103-118, 105, 113 f.; vgl. auch MATHIS, Das Bauhandwerkerpfandrecht in der Gesamtüberbauung und im , 1988, S. 150, 152.
7 SCHUMACHER (Fn. 1), N. 593; BRITSCHGI (Fn. 6), S. 114; MATHIS (Fn. 6), S. 152. 8 Vgl. SCHUMACHER (Fn. 1), N. 840; BRITSCHGI (Fn. 6), S. 115; MATHIS (Fn. 6), S. 150 f.
- 7 -
sein soll, dass die Gesuchstellerin auf den drei Grundstücken Grdst.-Nr.
255, 256 und 3319 GB R. gleichmässig viel Arbeiten leistete, begründet die
Gesuchsgegnerin nicht. Entsprechendes ist jedenfalls nicht ausgeschlos-
sen oder höchst unwahrscheinlich. Demnach rechtfertigt sich auch ein Si-
cherheitszuschlag von 10 %.
3.4. Verzugszinsen
In Bezug auf die Verzugszinsen bringt die Gesuchsgegnerin nichts vor,
weshalb es bei den Ausführungen gem. E. 5.3 der Verfügung vom 12. Ok-
tober 2020 bleibt.
4. Eintragungsfrist
4.1. Parteibehauptungen
Die Gesuchstellerin behauptet, sie habe die letzten Arbeiten am 12. Juni
2020 ausgeführt. Dabei habe es sich um Tiefbauarbeiten, d.h. Belags- und
Werkleitungsarbeiten im Bereich der Zufahrt auf sämtlichen Parzellen ge-
handelt.
Die Gesuchsgegnerin behauptet hingegen, das Bauende der Gesuchstel-
lerin sei in Bezug auf den Werkvertrag Nr. 1 (Baugrubenaushub, Abbrüche,
Rodungen) und auf den Werkvertrag Nr. 3 (Baugrubensicherung) bereits
am 30. November 2019 erfolgt, was sich insbesondere aus der Schluss-
rechnung ergebe (Antwort Rz. 6; GB 12). Unabhängig davon, habe die To-
talunternehmerin, M. AG, mit der Gesuchstellerin am 26. November 2018
einen weiteren Werkvertrag betreffend Anpassungen Werkleitungen
Elektro abgeschlossen (Werkvertrag Nr. 65). Dies sei notwendig gewor-
den, da im Zuge der Installation einer Trafostation die Zuleitungen hätten
vergrössert werden und eine neue Trassierung gesucht werden müssen.
Diese Arbeiten seien nicht Bestandteil der Werkverträge Nr. 1 und 3 gewe-
sen (Antwort Rz. 7; GB 4 und 6). Demnach sei die Frist für die Eintragung
von Bauhandwerkerpfandrechten in Bezug auf die Werkverträge Nr. 1 und
3 bereits verwirkt (Antwort Rz. 9 ff.).
4.2. Rechtliches
Die Eintragung des Bauhandwerkerpfandrechts muss bis spätestens vier
Monate nach der Arbeitsvollendung erfolgen, andernfalls verwirkt der An-
spruch (Art. 839 Abs. 2 ZGB).9 Die Eintragungsfrist berechnet sich nach
Art. 7 ZGB i.V.m. Art. 77 Abs. 1 Ziff. 3 i.V.m. Abs. 2 OR. Sie endet somit an
demjenigen Tag des letzten Monats, der durch seine Zahl dem Tag der
Arbeitsvollendung entspricht.10
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 839 Abs. 2 ZGB gel-
ten Bauarbeiten grundsätzlich dann als vollendet, wenn alle Verrichtungen,
die Gegenstand des Werkvertrages bilden, ausgeführt sind. Nicht in Be-
9 BGE 126 III 462 E. 4c.aa; BSK ZGB II-THURNHERR (Fn. 1), Art. 839/840 N. 29. 10 BSK ZGB II-THURNHERR (Fn. 1), Art. 839/840 N. 31a.
- 8 -
tracht fallen dabei geringfügige oder nebensächliche, rein der Vervoll-
kommnung dienende Arbeiten oder Ausbesserungen wie der Ersatz gelie-
ferter, aber fehlerhafter Teile oder die Behebung anderer Mängel. Gering-
fügige Arbeiten gelten aber dann als Vollendungsarbeiten, wenn sie uner-
lässlich sind; insoweit werden Arbeiten weniger nach quantitativen als viel-
mehr nach qualitativen Gesichtspunkten gewürdigt.11
Werden auf der Grundlage verschiedener Werkverträge mehrere, zeitlich
gestaffelte Leistungen erbracht, so stellt sich die Frage, wann deren frist-
auslösende Vollendung anzunehmen ist. Dabei kommt es entscheidend
darauf an, ob diese Leistungen eine Einheit bilden. Wiederholt gleiche oder
gleichartige Bauleistungen des gleichen Unternehmens bilden in ihrer Ge-
samtheit eine einzige, spezifische Bauarbeit und unterliegen einem einheit-
lichen Fristenlauf. Eine Einheit zwischen zeitlich gestaffelten Bauleistungen
ist dann anzunehmen, wenn zwischen diesen ein innerer Zusammenhang
besteht.12 Vorausgesetzt ist, dass die verschiedenen Bauleistungen in wirt-
schaftlicher und tatsächlicher Hinsicht ein Ganzes bilden.13 Ob formell ge-
trennte Werkverträge abgeschlossen wurden, spielt keine Rolle, kommt es
doch nicht auf die oft eher zufällige Anzahl von Werkverträgen an, sondern
darauf, ob zwischen den fraglichen Leistungen ein enger Konnex vorhan-
den ist.14 Zur Beurteilung, ob zwei Bauleistungen eine funktionelle Einheit
bilden, kann der Begriff der Arbeitsgattung herangezogen werden, der frei-
lich unscharfer Natur ist.15
4.3. Würdigung
In der Tat ergibt sich aus den Ausführungen der Gesuchstellerin nicht mit
Sicherheit, welche Arbeiten sie wann gestützt auf welchen Werkvertrag er-
ledigte. Allerdings kommt vorliegend nicht das ordentliche Beweismass,
sondern dasjenige der Glaubhaftmachung zur Anwendung. Soweit die Be-
klagte einwendet, die Arbeiten gestützt auf den Werkvertrag Nr. 65 (GB 4)
stünden nicht in einem Zusammenhang mit den anderen beiden Werkver-
trägen Nr. 1 und 3 (GB 2-3) kann ihr nicht gefolgt werden: Vielmehr umfasst
dieser Werkvertrag ebenfalls Baumeisteraushubsarbeiten (GB 4 S. 2).
Zwar wurden diese aufgrund der Notwendigkeit der Anpassung der Tra-
fostation separat vereinbart, was aber nicht bedeutet, dass sie in keinem
inneren Zusammenhang mit den Aushubsarbeiten gemäss Werkvertrag
Nr. 1 (GB 2) stehen. Jedenfalls ist solches nicht ausgeschlossen oder
höchst unwahrscheinlich. Es wird sich demnach im Verfahren um die defi-
nitive Eintragung der Bauhandwerkerpfandrechte zeigen, ob die letzten Ar-
beiten der Gesuchstellerin tatsächlich in einem inneren Zusammenhang zu
den Werkverträgen Nr. 1 und 3 (GB 2-3) stehen.
11 BGer 5A_613/2015 vom 22. Januar 2016 E. 4 m.w.N. 12 BGer 5C.232/2001 vom 19. November 2001 E. 3.a. 13 BGer 5A_282/2016 vom 17. Januar 2017 E. 7.1. 14 BGer 5C.232/2001 vom 19. November 2001 E. 3.a. 15 SCHUMACHER (Fn. 1), N. 1191 ff.
- 9 -
5. Ergebnis
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die vorläufige
Eintragung der Bauhandwerkerpfandrechte in der jeweils beantragten
Höhe nebst Zins zu 5 % ab 26. August 2020 erfüllt sind und die mit Verfü-
gung vom 12. Oktober 2020 superprovisorisch angeordneten Vormerkun-
gen der vorläufigen Eintragungen der Bauhandwerkerpfandrechte entspre-
chend zu bestätigen sind.
6. Prosequierung
Ist eine Klage auf definitive Eintragung des Bauhandwerkerpfandrechts
noch nicht rechtshängig, ist der gesuchstellenden Partei nach Art. 263 ZPO
eine Frist zur Einreichung der Klage mit der Androhung anzusetzen, dass
die Vormerkung der vorläufigen Eintragung im Grundbuch bei ungenutztem
Ablauf der Frist ohne weiteres und ersatzlos gelöscht werde.16 Die Prose-
quierungsfrist beträgt nach handelsgerichtlicher Praxis bei Fällen der vor-
liegenden Grösse rund drei Monate. Der Fristenstillstand gemäss Art. 145
Abs. 1 ZPO ist bei der Prosequierungsfrist nach Art. 263 ZPO i.V.m.
Art. 961 Abs. 3 ZGB ausgeschlossen.17
7. Prozesskosten
Die Prozesskosten bestehen vorliegend nur aus Gerichtskosten und wer-
den der unterliegenden Partei auferlegt (Art. 95 Abs. 1 und Art. 106 Abs. 1
ZPO). Ausgangsgemäss sind sie von der Gesuchsgegnerin zu tragen.
7.1.
Unter Berücksichtigung des verursachten Aufwands sowie des Umfangs
der Streitigkeit werden die Gerichtskosten auf Fr. 5'250.00 festgesetzt (§ 8
VKD; SAR 221.150). Gestützt auf Art. 111 Abs. 1 Satz 1 ZPO werden sie
vorab mit dem von der Gesuchstellerin geleisteten Gerichtskostenvor-
schuss in Höhe von Fr. 5'250.00 verrechnet. Die Gesuchsgegnerin hat der
Gesuchstellerin die Gerichtskosten, d.h. Fr. 5'244.25, direkt zu ersetzen
(vgl. Art. 111 Abs. 2 ZPO).
7.2.
Da sich die Gesuchstellerin weder anwaltlich vertreten liess noch beson-
dere Umtriebe behauptete, ist ihr keine Parteientschädigung zuzuspre-
chen.
7.3.
Eine abweichende Verlegung der Prozesskosten im allenfalls vor Handels-
gericht stattfindenden Hauptprozess im ordentlichen Verfahren oder auf-
grund separater Verfügung im vorliegenden Verfahren bleibt vorbehalten.
16 SCHUMACHER (Fn. 1), N. 672 ff. 17 BGE 143 III 554 E. 2.5.2 m.w.H.; vgl. auch SCHUMACHER (Fn. 1), N. 688.
- 10 -
Der Vizepräsident erkennt:
1.
In Gutheissung des Gesuchs vom 12. Oktober 2020 werden die mit Ver-
fügung vom 12. Oktober 2020 zugunsten der Gesuchstellerin superprovi-
sorisch angeordneten Vormerkungen wie folgt:
Fr. 374'042.50 zuzüglich Zins zu 5 % seit 26. August 2020 auf
Grdst.-Nr. 255 GB R. (E-GRID: CH 123)
Fr. 374'042.50 zuzüglich Zins zu 5 % seit 26. August 2020 auf
Grdst.-Nr. 256 GB R. (E-GRID: CH 456)
Fr. 374'042.50 zuzüglich Zins zu 5 % seit 26. August 2020 auf
Grdst.-Nr. 3319 GB R. (E-GRID: CH 789)
vorsorglich bestätigt.
2.
Das Grundbuchamt A. wird angewiesen, die Vormerkung gemäss Disposi-
tiv-Ziff. 1 aufrechtzuerhalten.
3.
3.1.
Die Gesuchstellerin hat bis zum 8. Februar 2021 beim zuständigen Ge-
richt im ordentlichen Verfahren Klage auf definitive Eintragung der Bau-
handwerkerpfandrechte anzuheben.
3.2.
Im Säumnisfall fällt die in der vorstehenden Dispositiv-Ziff. 1 angeordnete
vorsorgliche Massnahme dahin, wobei die Vormerkung im Grundbuch nur
auf entsprechendes Gesuch hin gelöscht wird.
3.3.
Es gilt kein Stillstand der Fristen.
4.
4.1.
Die Gerichtskosten in Höhe von Fr. 5'250.00 sind von der
Gesuchsgegnerin zu tragen und werden mit dem von der Gesuchstellerin
geleisteten Gerichtskostenvorschuss in Höhe von Fr. 5'250.00 verrechnet.
Die Gesuchsgegnerin hat die von ihr zu tragenden Gerichtskosten der Ge-
suchstellerin im Umfang von Fr. 5'250.00 direkt zu ersetzen.
4.2.
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen.
- 11 -
4.3.
Eine abweichende Verlegung der Prozesskosten mittels separater Verfü-
gung oder im ordentlichen Verfahren bleibt vorbehalten, falls dieses vor
dem Handelsgericht stattfindet.
Zustellung an:
die Gesuchstellerin (mit Abrechnung mit Kopie der Gesuchsantwort
vom 30. Oktober 2020 [inkl. Beilagen])
die Gesuchsgegnerin (Vertreter; zweifach)
Zustellung an:
das Grundbuchamt A. (nach Ablauf der Rechtsmittelfrist)
Rechtsmittelbelehrung für die Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 ff.,
Art 90 ff. BGG)
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen, von der schriftlichen Eröff-
nung der vollständigen Ausfertigung des Entscheids an gerechnet, die Be-
schwerde an das Schweizerische Bundesgericht erhoben werden.
Die Beschwerde ist schriftlich oder in elektronischer Form beim Schweize-
rischen Bundesgericht einzureichen. Die Beschwerdeschrift ist in einer
Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit An-
gabe der Beweismittel und die Unterschriften bzw. eine anerkannte elekt-
ronische Signatur zu enthalten. In der Begründung ist in gedrängter Form
darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid verfassungsmässige
Rechte (Art. 98 ff. BGG) verletzt. Die Urkunden, auf die sich die Partei als
Beweismittel beruft, sind beizulegen, soweit die Partei sie in den Händen
hat; ebenso ist der angefochtene Entscheid beizulegen (Art. 42 BGG).
Aarau, 4. November 2020
Handelsgericht des Kantons Aargau
2. Kammer
Der Vizepräsident: Der Gerichtsschreiber:
Vetter Schneuwly | 5,728 | 4,107 | AG_HG_002 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_002_-Handelsrecht-Bauhan_2020-11-04 | https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/gesetze___entscheide/gesetze_2/handelsrecht/Entscheid_des_Handelsgerichts_vom_4._November_2020.pdf | null | nan |
||
9f7d4363-9dbb-5108-aad4-a4bbd4827aaa | 1 | 417 | 871,543 | 1,242,950,400,000 | 2,009 | de | 2009
Obergericht
36
[...]
6
Art. 30 Abs. 1 BV, Art. 18, 19 und 20 KSG
Gemäss Art. 18 Abs. 1 KSG i.V.m. Art. 34 Abs. 1 lit. b BGG besteht bei
Schiedsgerichtsverfahren ein Ausstandsgrund, wenn ein Schiedsrichter in
der gleichen Sache bereits in anderer Stellung, insbesondere als Rechts-
berater einer Partei, tätig war. Dieser Ausstandsgrund entspricht demje-
nigen von § 2 lit. c ZPO; er ist somit von Amtes wegen zu beachten und
wirkt absolut.
Ein gemäss Art. 20 KSG verspätet gestelltes Ablehnungsbegehren, wel-
ches mit dem erwähnten Ausstandsgrund begründet wird, führt demnach
auch im Schiedsverfahren nicht zur Verwirkung des Ablehnungsrechts.
2009
Zivilprozessrecht
37
Entscheid der Inspektionskommission vom 22. Mai 2009 i.S. MG c. M. M.
(IVV.2008.49). | 207 | 167 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2009-6_2009-05-22 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2009-6.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2009-6.pdf | AGVE_2009_6 | null | nan |
9fb92ff2-22c4-5840-821d-2e82aff05fb4 | 1 | 417 | 870,305 | 1,044,316,800,000 | 2,003 | de | 2003
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
43
II. Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
9
Art. 56, 63 und 174 Abs. 1 SchKG.
Keine Geltung der Betreibungsferien im Weiterziehungsverfahren gemäss
Art. 174 SchKG. Die Mitteilung der Konkurseröffnung ist keine Betrei-
bungshandlung und hat daher ohne Rücksicht auf die Betreibungsferien
zu erfolgen, welche folglich für die Berechnung der Weiterziehungsfrist
gemäss Art. 174 Abs. 1 SchKG ohne Bedeutung sind.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 4. Zivilkammer, vom 12. Februar
2003 in Sachen S. G. gegen N. D.
Aus den Erwägungen
1. Gemäss Art. 174 Abs. 1 SchKG kann der Entscheid des Kon-
kursgerichts innert zehn Tagen nach seiner Eröffnung an das obere
Gericht weitergezogen werden. Da das Konkurserkenntnis ohne Ein-
schränkung sofort mit dessen Erlass vollstreckbar ist und die Durch-
führung des Konkursverfahrens ohne Aufschub zu erfolgen hat, ist
die Konkurseröffnung unverzüglich mitzuteilen, ausser es wäre auf-
grund einer bereits eingereichten Berufung die aufschiebende Wir-
kung erteilt worden (BGE 120 Ib 250 mit Hinweisen). Die Mittei-
lung der Konkurseröffnung ist keine Betreibungshandlung und hat
daher ohne Rücksicht auf Ferien oder Rechtsstillstand zu erfolgen
(BGE a.a.O.; Bauer, Kommentar zum Bundesgesetz über Schuldbe-
treibung und Konkurs, Basel/Genf/München 1998, N 40 zu Art. 56;
Jaeger/Walder/Kull/Kottmann, Kommentar zum Bundesgesetz über
Schuldbetreibung und Konkurs, Zürich 1997/99, N 6 zu Art. 56). Wo
aber Art. 56 SchKG nicht zum Tragen kommt, ist auch der Anwen-
dung von Art. 63 SchKG betreffend die Auswirkungen der Betrei-
bungsferien auf den Lauf einer Frist der Boden entzogen
(BGE 117 III 5 mit Hinweis auf BGE 115 III 6 f. und 10 f.), was das
2003
Obergericht/Handelsgericht
44
Bundesgericht trotz Kritik in der Literatur (Bauer, a.a.O., N 7 zu
Art. 63; Jaeger/Walder/Kull/Kottmann, a.a.O., N 3 zu Art. 63 und
N 5 zu Art. 174; Giroud, Kommentar zum Bundesgesetz über
Schuldbetreibung und Konkurs, Basel/Genf/München 1998, N 11 zu
Art. 174) jüngst erneut bestätigt hat (Praxis 2003 Nr. 9 S. 46). Die
Betreibungsferien sind demnach für die Berechnung der Weiterzie-
hungsfrist gemäss Art. 174 Abs. 1 SchKG ohne Bedeutung (AGVE
2000 Nr. 6 S. 41). | 585 | 468 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2003-9_2003-02-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-9.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-9.pdf | AGVE_2003_9 | null | nan |
a00ac8dd-576d-53a5-ba70-b462f186a017 | 1 | 417 | 871,959 | 1,086,825,600,000 | 2,004 | de | 2004
Zivilprozessrecht
49
III. Zivilprozessrecht
A. Zivilprozessordnung
7
Zivilprozess, Stufenklage; Anspruch auf Auskunft und Rechnungslegung
1. Die Prüfung, ob ein Gewinnherausgabeanspruch tatsächlich besteht,
kann erst nach Auskunftserteilung und Rechnungslegung vorgenommen
werden.
2. Die auskunftspflichtige Partei kann die Auskunftserteilung über ihren
Verletzergewinn nicht unter Berufung auf ihr Geschäftsgeheimnis ver-
weigern.
Auszug aus dem Teilurteil des Handelsgerichts vom 10. Juni 2004 in Sa-
chen S. AS und S. AG gegen T. AS und A.
Aus den Erwägungen
1.
1.1 Die Unterlassungs- und Bestandesansprüche gemäss Klage-
/Replikbegehren Ziffern 1 und 2 und Widerklage sind mit Teilurteil
vom 21. August 2003 rechtskräftig beurteilt worden. Zu entscheiden
ist noch über die mit den Klagebegehren Ziffern 3 und 4 geltend
gemachten Ansprüche.
1.2 Beim Klagebegehren Ziffer 3 handelt es sich um eine sog.
Stufenklage. Sie beinhaltet die Auskünfte oder die Rechnungslegung
über den auf Grund der Verletzung der Rechte der Klägerinnen an
der Marke "X" von den Beklagten erzielten Umsatz und Gewinn.
Dabei handelt es sich um den Hilfsanspruch für die Bezifferung der
mit Klagebegehren Ziffer 4 geltend gemachten reparatorischen
Hauptansprüche auf Schadenersatz oder Gewinnherausgabe. Der
Hilfsanspruch auf Auskunft oder Rechnungslegung ist darauf ausge-
richtet, die in der Rechtssphäre der Beklagten eingetretenen wirt-
schaftlichen Faktoren, die für den Bestand und Umfang der reparato-
rischen Ansprüche der Klägerinnen massgebend sind, offen zu legen
2004
Obergericht/Handelsgericht
50
und so den Klägerinnen zu ermöglichen, ihre reparatorischen An-
sprüche überhaupt beziffern zu können. Ist der mit einer Stufenklage
geltend gemachte Hilfsanspruch auf Rechnungslegung oder Auskunft
streitig, ist hierüber ein Teilurteil zu erlassen, das mit eidgenössischer
Berufung angefochten werden kann (BGE 123 III 143 f. Erw. 2c; O.
Vogel, Die Stufenklage und die dienende Funktion des
Zivilprozessrechts, recht 1992, 63).
2.
2.1 Die Beklagten bestreiten ihre Auskunfts- und Rechnungsle-
gungspflicht. Sie sind der Auffassung, vorgängig der Auskunftser-
teilung oder Rechnungslegung sei vorfrageweise zu entscheiden, ob
den Klägerinnen überhaupt ein Gewinnherausgabeanspruch gestützt
auf Art. 423 Abs. 1 OR zustehe oder nicht. Dieser Auffassung kann
aus mehreren Gründen nicht beigepflichtet werden.
2.2 Der Hilfsanspruch auf Auskunft oder Rechnungslegung
stellt eine Nebenpflicht zur Hauptpflicht auf Leistung von Schaden-
ersatz oder Gewinnherausgabe dar (L. David, Der Rechtsschutz im
Immaterialgüterrecht, SIWR I/2, 2. A., Basel e.a. 1998, 104). Er setzt
den Bestand einer Hauptleistung sachlogisch voraus und dient deren
prozessualer Durchsetzung. Da indessen der Hilfsanspruch auf Aus-
kunft oder Rechnungslegung dem (Haupt-)Leistungsberechtigten die
Bezifferung seines Leistungsanspruches überhaupt erst ermöglichen
soll, ist es verfahrensrechtlich ausgeschlossen, dass vorerst (oder
vorfrageweise) über den Bestand des Hauptleistungsanspruches ent-
schieden wird, um dann in einem zweiten Verfahrensschritt über den
Hilfsanspruch und erst danach - in einem dritten Verfahrensschritt -
über den Umfang der geschuldeten Hauptleistung zu entscheiden.
Das wäre eine unnötige Verfahrensaufsplitterung, die weder mit dem
prozessualen Beschleunigungsgebot (§ 72 Abs. 1 ZPO), noch mit
dem Justizgewährleistungsanspruch (§ 29 Abs. 1 BV), noch mit der
dienenden Funktion des Zivilprozessrechts (BGE 116 II 218 Erw. 3)
zu vereinbaren wäre; alle drei genannten Verfahrensgrundsätze ver-
bieten derartige unnötige Hindernisse oder Erschwerungen der
Durchsetzung des materiellen Rechts. Umgekehrt versteht es sich
von selbst, dass dort, wo die Voraussetzungen des geltend gemachten
(Haupt-)Leistungsanspruches nicht erfüllt sind, auch nicht vorgängig
2004
Zivilprozessrecht
51
ein selbständiger Entscheid über den Hilfsanspruch auf Rechnungs-
legung oder Auskunft zu treffen und dieser abzuweisen ist.
2.3 Schadenersatz und Gewinnherausgabe stehen dem Geschä-
digten als selbständige, aber sich gegenseitig ausschliessende An-
sprüche zu (BGE 97 II 178 Erw. 3a in fine). Daraus folgt, dass der
Geschädigte die beiden Ansprüche alternativ einklagen darf und sich
erst nach durchgeführtem Beweisverfahren entscheiden muss, wel-
chen der beiden Hauptleistungsansprüche er als günstiger erachtet
und zugesprochen erhalten will (David, a.a.O., 121). Mit der Aus-
übung seines Wahlrechts erklärt er mittelbar auch sein dahingefalle-
nes Rechtsschutzinteresse an dem nicht mehr weiterverfolgten
Hauptleistungsanspruch. Führt aber die mit einer alternativen Haupt-
klage auf Schadenersatz oder Gewinnherausgabe verbundene Stu-
fenklage zwingend zur Gegenstandslosigkeit einer der beiden Haupt-
klagen, schliesst dies ebenfalls aus, dass vor Beurteilung der beiden
alternativen Hauptklagen oder vorfrageweise im Rahmen der Beur-
teilung der Stufenklage über den Bestand eines oder beider Hauptlei-
stungsansprüche definitiv entschieden werden muss.
2.4 Schliesslich kann auch der Umstand, dass die im vorliegen-
den Fall von den Beklagten zu erteilenden Auskünfte und die von
ihnen geschuldete Rechnungslegung Geschäftsgeheimnischarakter
haben, das verlangte prozessuale Vorgehen nicht rechtfertigen. Im
Verhältnis zu den Klägerinnen als Schutzrechtsinhaberinnen bilden
die offen zu legenden Geschäftszahlen gerade keine Geschäftsge-
heimnisse, weil das, was die Beklagten als Schutzrechtsverletzerin-
nen aus ihrem rechtswidrigen Verhalten an Vorteilen erlangt haben,
kein Geschäftsgeheimnis darstellen kann (P. Mes, si tacuisses - Zur
Darlegungs- und Beweislast im Prozess des gewerblichen Rechts-
schutzes, GRUR 2000, 940).
3.
3.1. [...] Die Beklagten sind daher in dem mit Verfügung des In-
struktionsrichters vom 9./10. März 2004 festgelegten Sinne und Um-
fang zur Auskunft oder Rechnungslegung zu verpflichten. | 1,294 | 999 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2004-7_2004-06-10 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2004-7.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2004-7.pdf | AGVE_2004_7 | null | nan |
a19bbb90-a374-54ae-b73e-f5cd3806749c | 1 | 417 | 870,281 | 957,830,400,000 | 2,000 | de | 2000
Strafprozessrecht
73
21
§§ 54 Abs. 2/55 Abs. 1 StPO. Polizeirapport.
Ein solcher kann nur wegen Verletzung der Protokollierungsvorschriften
oder Unvollständigkeit, nicht aber wegen der Art seiner Abfassung durch
den Polizeibeamten beanstandet werden (E. 1a und b).
Aus dem Entscheid des Obergerichts, Beschwerdekammer in Straf-
sachen, vom 9. Mai 2000 i.S. M.H.
Sachverhalt
Mit Eingabe vom 29. Juni 1999 liessen die Eltern des Kindes
M.H., geb. 01.02.1989, für dieses gegen A.S. Strafanzeige wegen
Nötigung erstatten, im Wesentlichen mit der Begründung, A.S. habe
am 7. Juni 1999 vor dem Schulhauseingang in W. aggressiv auf das
Kind M.H. eingeredet und es während mehreren Minuten daran ge-
hindert, den Heimweg anzutreten. Das Kind M.H. wurde am
21. Dezember 1999 in Anwesenheit des von seinen Eltern beigezo-
genen Rechtsanwalts B. polizeilich befragt. Nach der Akteneröff-
nung durch das Bezirksamt B. stellte Rechtsanwalt B. unter Rüge
dieser formlosen polizeilichen Befragung und der Art der Abfassung
des Polizeirapports durch den Polizeibeamten verschiedene Aktener-
gänzungsanträge und wurde durch Verfügung des Bezirksamts B.
vom 27. März 2000 mit jenen Rügen und diesen Aktenergänzungs-
anträgen abgewiesen. Die dagegen eingelegte Beschwerde wies das
Obergericht, Beschwerdekammer in Strafsachen, mit Entscheid vom
9. Mai 2000 ab, soweit es darauf eintrat.
Aus den Erwägungen
1. a) Der Vertreter der Anzeigerin hat an der polizeilichen Be-
fragung von M.H. vom 21. Dezember 1999 persönlich teilgenommen
und hat dort akzeptiert, dass das Kind nicht formell zu Protokoll
2000
Obergericht
74
(§§ 54, 55 StPO), sondern formlos befragt worden ist. Es hätte
Rechtsanwalt B. freigestanden, einen entsprechenden Antrag zu
stellen und gegen dessen Ablehnung zu protestieren. Die Rüge über
die Art der Befragung erfolgt demnach verspätet.
b) Die Ausführung in der bezirksamtlichen Verfügung, dass die
Anzeigerin dem Polizisten nicht vorschreiben könne, wie er seinen
Rapport abzufassen habe, ist grundsätzlich richtig. Ein solches Wei-
sungsrecht steht auch dem Bezirksamt gegenüber dem Polizeibeam-
ten nicht zu. Dem Beschwerdebegehren, der Polizeibeamte sei anzu-
halten, seinen Rapport anders abzufassen, kann folglich nicht statt-
gegeben werden. Soweit indessen geltend gemacht wird, der Rapport
sei unvollständig, und es fehlten wesentliche Äusserungen des Mäd-
chens zur Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit, ist die Rüge
zuzulassen und zu prüfen. Zur Klärung des Sachverhalts wird es
unumgänglich sein, das Mädchen erneut, diesmal indessen nicht
formlos, sondern zu Protokoll einzuvernehmen. Dass Kinder in der
Regel im Verfahren nur einmal einvernommen werden dürfen (Ver-
fügung des Bezirksamts), trifft nur bei Unzuchtsdelikten zu (§ 107
Abs. 2 StPO).
4. a) Es ist richtig, dass der Vertreter der Anzeigerin in seiner
Anzeige vom 29. Juni 1999 um Mitteilung der Termine gemäss § 130
Abs. 2 StPO ersuchte. Im Schreiben vom 24. August 1999, das er per
Fax an das Bezirksamt sandte, ersuchte er erneut um Absprache der
Einvernahmetermine mit ihm. Gleichentags teilte ihm das Bezirks-
amt per Fax mit, dass die Kantonspolizei B. mit dem Ermittlungsver-
fahren beauftragt worden sei; falls der Vertreter der Anzeigerin bei
Einvernahmen dabei sein möchte, müsse er sich mit dem beauftrag-
ten Polizeibeamten in Verbindung setzen. Auf dieses Schreiben hin
reagierte der Vertreter der Anzeigerin nicht und setzte sich offenbar
auch nicht mit dem Polizeiposten B. in Verbindung. Am 29. August
1999 wurde die Beanzeigte polizeilich befragt.
Die Rüge des Vertreters der Geschädigten, durch die Befragung
der Beanzeigten ohne Terminabsprache oder auch nur Mitteilung des
2000
Strafprozessrecht
75
Termins an ihn sei sein rechtliches Gehör verletzt worden, geht fehl.
Nachdem er gegen das Fax des Bezirksamts vom 24. August 1999
weder protestiert und auf der Mitteilung der Termine beharrt noch
sich mit der Kantonspolizei B. rechtzeitig in Verbindung gesetzt
hatte, war die Verpassung des Einvernahmetermins seinem eigenen
Verhalten zuzuschreiben und selbstverschuldet. Es sei beigefügt, dass
das Recht des Zivilklägers, dass ihm auf Verlangen die Termine von
Untersuchungshandlungen mitgeteilt werden, nicht auch das Recht
auf Absprache der Termine mit ihm beinhaltet. | 953 | 785 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2000-21_2000-05-09 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-21.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-21.pdf | AGVE_2000_21 | null | nan |
a32aade9-e505-5c6d-9cf9-86c327510ac9 | 1 | 417 | 869,863 | 1,025,740,800,000 | 2,002 | de | 2002
Obergericht/Handelsgericht
52
[...]
8
Art. 80 SchKG.
Rechtsöffnung in der Betreibung auf Grundpfandverwertung. In der Be-
treibung auf Grundpfandverwertung kann Rechtsöffnung auch nur für
die Forderung oder das Pfandrecht gewährt werden. Dies hat lediglich
zur Folge, dass der Gläubiger die Fortsetzung nicht verlangen kann, bis
sämtliche Rechtsvorschläge beseitigt sind.
Ein rechtsgenügender Rechtsöffnungstitel liegt nur vor, wenn eine das ge-
setzliche Pfandrecht feststellende Verfügung vom Pfandeigentümer aner-
kannt oder erfolglos angefochten wurde.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 4. Zivilkammer, vom 31. Juli 2002 in
Sachen A. G. gegen A. SA.
Aus den Erwägungen
4. a) Die Klägerin hat Betreibung auf Grundpfandverwertung
eingeleitet, Rechtsöffnung jedoch nur für die Forderung, nicht aber
für das Pfandrecht verlangt. Während sich nach der früheren Rechts-
lage ein nicht weiter begründeter Rechtsvorschlag lediglich auf die
Forderung bezog, wird nach der am 5. Juni 1996 revidierten Fassung
von Art. 85 VZG, in Kraft seit 1. Januar 1997, angenommen, der
Rechtsvorschlag beziehe sich auf die Forderung und auf das Pfand-
recht, wenn nichts anderes vermerkt ist. Will die Klägerin die Betrei-
bung fortsetzen, so muss sie den Rechtsvorschlag nicht nur für die
Forderung, sondern auch bezüglich des Pfandrechts beseitigen las-
sen. Die Vorinstanz hat Rechtsöffnung für Forderung und Pfandrecht
gewährt, wiewohl das Begehren der Klägerin lediglich auf Beseiti-
gung des Rechtsvorschlags für die Forderung ging. Damit aber ist
der Klägerin mehr zugesprochen worden als sie verlangt hat, was mit
der Dispositionsmaxime (§ 75 Abs. 2 ZPO) nicht vereinbar ist.
b) In der Literatur wird die Auffassung vertreten, aus Gründen
der Praktikabilität sei die Rechtsöffnung nur immer für die Forde-
2002
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
53
rung und das Pfandrecht gemeinsam zu gewähren und das Rechtsöff-
nungsbegehren gänzlich abzuweisen, wenn für Forderung oder
Pfandrecht ein Rechtsöffnungstitel fehle (Daniel Staehelin, Kom-
mentar zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Ba-
sel/Genf/München 1998, N 166 zu Art. 82 SchKG; Peter Stücheli,
Die Rechtsöffnung, Zürich 2000, S. 209). Dieser Auffassung kann
nicht beigepflichtet werden. Richtig ist nur, dass die Betreibung ge-
hemmt bleibt und die Fortsetzung nicht verlangt werden kann, so-
lange nicht sämtliche Rechtsvorschläge beseitigt sind. Wenn der
Gläubiger nur für die Forderung über einen Rechtsöffnungstitel ver-
fügt, so ist er darauf angewiesen, das Rechtsöffnungsbegehren hie-
rauf beschränken zu können und das Pfandrecht im ordentlichen Ver-
fahren feststellen zu lassen und den diesbezüglichen Rechtsvorschlag
zu beseitigen.
c) Gemäss § 123 EGZGB und § 33 des Gebäudeversicherungs-
gesetzes (SAR 673.100) besteht auf den versicherten Gebäuden für
den verfallenen und den laufenden Versicherungsbeitrag ein gesetzli-
ches Pfandrecht zu Gunsten der Aargauischen Gebäudeversiche-
rungsanstalt. Für das Pfandrecht hat die Klägerin jedoch kein Begeh-
ren auf Beseitigung des Rechtsvorschlags gestellt, weshalb die Vorin-
stanz hierfür nicht hätte Rechtsöffnung gewähren dürfen. Abgesehen
davon erwähnt die ins Recht gelegte Verfügung, welche Rechtsöff-
nungstitel für die Forderung ist, das gesetzliche Pfandrecht nicht.
Nur wenn eine das Pfandrecht feststellende Verfügung vom Pfandei-
gentümer anerkannt oder erfolglos angefochten worden wäre, läge
ein rechtsgenügender Rechtsöffnungstitel vor; wie bei Forderungen
kann der Rechtsöffnungsrichter auch bei Pfandrechten nicht deren
materiellrechtlichen Bestand überprüfen, sondern bloss darüber be-
finden, ob die Voraussetzungen für eine Vollstreckung auf dem Be-
treibungswege erfüllt sind oder nicht (Art. 153 Abs. 4 in Verbindung
mit Art. 80 Abs. 2 SchKG). Die Klägerin müsste deshalb den Rechts-
vorschlag bezüglich des Pfandrechts im ordentlichen Verfahren, hier
dem Verwaltungsverfahren (Art. 79 Abs. 1 SchKG), beseitigen. | 864 | 705 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2002-8_2002-07-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-8.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-8.pdf | AGVE_2002_8 | null | nan |
a7e6d511-3760-5ff5-918c-5cb3e1b180a4 | 1 | 417 | 869,891 | 938,736,000,000 | 1,999 | de | 2000
Obergericht
34
B. Sachenrecht
5
Art. 694 ZGB; Notwegrecht.
Ist die notwegsbelastete Parzelle überbaut, hat sich der Notwegsberech-
tigte grundsätzlich in den von ihm beanspruchten Grundstücksteil einzu-
kaufen (E. 5).
Analoge Anwendung der enteignungsrechtlichen Kostenverteilungsregeln
im erstinstanzlichen Notwegprozess (Erw. 6).
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 1. Zivilkammer, vom 1. Oktober 1999
in Sachen St. E. gegen B.Sch.
Aus den Erwägungen
5. a) Mit der Einräumung des Notwegrechts ist der Beklagte
verpflichtet, alles zu unterlassen, was die Ausübung der Dienstbar-
keit verhindert oder erschwert (Art. 737 Abs. 3 ZGB), insbesondere
ist er zur permanenten Freihaltung der Wegfläche verpflichtet. Da-
durch wird dem Beklagten die Servitutsfläche entlang der Grund-
stückgrenze der individuellen Nutzung entzogen.
b) Gemäss Art. 694 Abs. 1 ZGB hat der durch das Notwegrecht
belastete Grundeigentümer Anspruch auf volle Entschädigung.
Massgebend für die Berechnung der Entschädigung sind die Nach-
teile des Notwegbelasteten im Zeitpunkt der Einräumung des Not-
wegs (Meier-Hayoz, Berner Kommentar, N 78 zu Art. 694 ZGB).
Wegen der Ähnlichkeit der Stellung des Notwegberechtigten mit
derjenigen eines Exproprianten hat das Bundesgericht für die
Berechnung der Entschädigung nach Art. 694 Abs. 1 ZGB die
Heranziehung der Grundsätze der Enteignung anerkannt. Danach
entspricht die Entschädigung grundsätzlich der Differenz zwischen
dem Verkehrswert des unbelasteten und demjenigen des mit dem
Notweg belasteten Grundstück, wobei die Schätzung bei einem
2000
Zivilrecht
35
überbauten Grundstück in Abweichung von der globalen Ermittlung
der Wertdifferenz mit Vorteil auf die Wertdifferenz des vom
Notwegrecht konkret beanspruchten Grundstückteils allein zu
beschränken ist, mit der Folge, dass sich der Notwegberechtigte am
Verkehrswert der von ihm beanspruchten Fläche durch Einkauf
angemessen zu beteiligen hat (BGE 120 II 423 f. mit Hinweisen auf
Literatur und Rechtsprechung).
c) Die Vorinstanz hat dem Beklagten für die Einräumung des
Notwegrechts eine Entschädigung von Fr. 30'000.-- zugesprochen.
Dabei ist sie von einer Servitutsfläche von 29,25 m2 und gestützt auf
eine telefonische Auskunft des Kreisschätzers von einem relativen
Landwert bei überbauten Grundstücken von Fr. 500.-- pro m2 ausge-
gangen. Den so ermittelten Verkehrswert von gerundet Fr. 15'000.--
hat sie nicht nur teilweise im Sinne eines Einkaufs, sondern gänzlich
dem Kläger überbunden. Zusätzlich hat sie eine Entschädigung von
Fr. 15'000.-- für die Beeinträchtigung der ungestörten Nutzung der
Liegenschaft des Beklagten sowie für die zu erwartenden Immissio-
nen festgesetzt.
Der Beklagte rügt in der Appellation grundsätzlich zu Recht die
Verletzung seiner Parteirechte, da die Vorinstanz für den relativen
Landwert auf eine telefonische Auskunft abgestellt hat, statt ein for-
melles Expertiseverfahren durchzuführen. Vor Obergericht hat sich
der Beklagte zum Landwert äussern können, wodurch die Verletzung
seines rechtlichen Gehörs in erster Instanz geheilt ist. Von einer Ex-
pertise über den Verkehrswert des Grundstücks kann aber abgesehen
werden, weil für den Beklagten auf keinen Fall eine höhere Entschä-
digung als die von der Vorinstanz zugesprochene und vom Kläger
akzeptierte Entschädigung in der Höhe von Fr. 30'000.-- resultiert.
Der Beklagte teilte in seiner Eingabe vom 23. August 1999 mit, dass
nach eigenen Erkundigungen der Verkehrswert für Grundstücke in
der fraglichen Lage Fr. 650.--/m2 betrage. Die von der Vorinstanz auf
Fr. 15'000.-- festgelegte "Grundentschädigung" für die der
Grundstücksgrenze entlang verlaufende Dienstbarkeitsfläche von
2000
Obergericht
36
unbestrittenermassen 29.25 m2 kommt einem Einkauf zu knapp über
Fr. 500.-- pro Quadratmeter gleich, was bei einem relativen Landwert
von Fr. 650.-- einem Einkauf von rund 75% entspricht. Selbst im
Vergleich mit einem absoluten Landwert von gerichtsnotorisch klar
unter Fr. 1'000.-- entspricht der Einkauf über 50% des Werts; für eine
prozentual höhere Beteiligung des Klägers an der beanspruchten
Grundstücksfläche besteht kein Anlass.
Im Übrigen erscheint die Zulässigkeit des von der Vorinstanz
festgesetzten "Zuschlags" für Immissionen und
Beeinträchtigung der
ungestörten Nutzung
höchst fragwürdig. Denn der Einkauf in den mit
der Dienstbarkeit zu belastenden Grundstücksteil tritt grundsätzlich
anstelle
der Differenzberechnung im Sinne eines Vergleichs des
Werts des Gesamtgrundstücks vor und nach der Belastung mit der
Servitut, dies weil die letztere "klassische" Differenzberechnung vor
allem bei überbauten Grundstücken aleatorische Züge aufweist (BGE
120 II 424). Dies trifft gerade im Fall der Parteien des vorliegenden
Verfahrens zu, wo dem Kläger lediglich ein Fussweg- und auf Fahr-
zeuge mit Elektromotoren beschränktes Fahrwegrecht eingeräumt
worden ist, weshalb Lärmimmissionen vernachlässigbar sind, und
wo das entlang der Grundstücksgrenze verlaufende Wegrecht an der
Garage und dem Garten des Beklagten vorbeiführt, weshalb die Be-
einträchtigung der Privatsphäre im Wesentlichen in einer exponierte-
ren Gartennutzung besteht.
[...]
6. Die Vorinstanz hat die Gerichtskosten den Parteien je zur
Hälfte auferlegt und die Parteikosten wettgeschlagen. Demgegenüber
beantragt der Beklagte in der Appellation, es seien die gesamten
Prozesskosten dem Kläger aufzuerlegen, denn dieser sei mit seinem
Begehren nur teilweise durchgedrungen und es sei das gute Recht
des Beklagten gewesen, sich gegen den erheblichen Eingriff in einen
Teil seines Privatlebens zur Wehr zu setzen.
Beim Notweganspruch handelt es sich um eine Legalservitut,
die sich im Ergebnis für den Notwegverpflichteten gleich auswirkt,
2000
Zivilrecht
37
wie wenn ihm in einem Enteignungsverfahren eine Dienstbarkeit
auferlegt wird. So wie der Enteignete zur Feststellung der Enteig-
nungsvoraussetzungen und der Höhe der Enteignungsentschädigung
grundsätzlich ohne Kostenrisiko jedenfalls das erstinstanzliche Ent-
eignungsverfahren beanspruchen kann, so soll es auch der Notweg-
verpflichtete ohne Kostenfolge zumindest für das erstinstanzliche
Verfahren auf einen Prozess ankommen lassen dürfen. Lehre und
Rechtsprechung vertreten deshalb die Auffassung, dass die enteig-
nungsrechtlichen Kostenverteilungsregeln im Notwegprozess analog
anzuwenden sind (BGE 85 II 402; AGVE 1974 S. 36 Erw. 3; Meier-
Hayoz, a.a.O., N 69 zu Art. 694 ZGB; Bühler/Edelmann/Killer,
Kommentar zur aargauischen Zivilprozessordnung, Aarau 1998,
N 11 zu § 113; Caroni-Rudolf, Der Notweg, Diss. Bern 1969,
S. 115).
Die enteignungsrechtlichen Kostenregeln sehen zweierlei Aus-
nahmen vom Grundsatz vor, dass der Enteigner sowohl die Verfah-
renskosten als auch die Parteikosten des Enteigneten zu tragen hat:
- Der Enteignete hat missbräuchliche Begehren, namentlich of-
fensichtlich unbegründete oder übersetzte Forderungen gestellt
(Art. 114 Abs. 2 und Art. 115 Abs. 3 EntG; § 26 Abs. 2 des Dekrets
über das Verfahren vor der Schätzungskommission nach Baugesetz
und Gewässerschutzgesetz vom 22. Februar 1972).
- Die Begehren des Enteigneten werden ganz oder zum grössten
Teil abgewiesen (Art. 115 Abs. 2 und Art. 116 Abs. 1 Satz 2 EntG).
Für diese beiden Ausnahmefälle ist im Enteignungsrecht vorge-
sehen, dass dem Enteigneten die Verfahrenskosten ganz oder teilwei-
se auferlegt werden können und ihm eine Parteientschädigung nicht
nur verweigert, sondern auch die Ausrichtung einer Parteientschädi-
gung an den Enteigner auferlegt werden kann. Es soll damit verhin-
dert werden, dass übertriebene Begehren des Enteigneten, mit denen
er die Rechtsfindung erschwert, keinerlei Kostennachteile nach sich
ziehen und er dafür vom Enteigner noch honoriert werden muss
(Hess/Weibel, Kommentar zum Enteignungsrecht des Bundes,
2000
Obergericht
38
Art. 114 N 6 und Art. 115 N 6). Dabei wird allerdings nicht aus-
schliesslich auf den Prozessausgang, sondern wesentlich darauf ab-
gestellt, ob die Begehren des Enteigneten mutwillig oder miss-
bräuchlich waren oder ob er sich uneinsichtig gezeigt hat (BGE 108
Ib 498 Erw. 7, 98 Ib 432; Hess/Weibel, a.a.O., Art. 116 N 3).
Die Vorinstanz ist bei ihrem Kostenentscheid zutreffend vom
enteignungsähnlichen Charakter des Notwegrechts ausgegangen, hat
aber von einer einseitigen Kostenauflage zu Lasten des Klägers ab-
gesehen, weil offensichtlich eine Wegnot des klägerischen Grund-
stücks bestehe, die schon seit Jahrzehnten über die Liegenschaft des
Beklagten gelindert worden sei; es sei deshalb nicht zu verstehen,
dass der Beklagte nicht wenigstens zu einer Lösung wie der vom
Gericht gefundenen Hand geboten habe. Die tatsächliche Benutzung
eines Weges wie auch die Duldung eines Zugangs auf Zusehen hin
präjudizieren jedoch das Notwegrecht bei verschiedenen möglichen
Notwegverbindungen nicht (Meier-Hayoz, a.a.O., N 31 zu Art. 694
ZGB), so dass der Standpunkt des Beklagten, die Wegnot könne
durch Ausdehnung des bestehenden Fusswegrechts über die nördli-
chen Nachbargrundstücke behoben werden, nicht als mutwillig be-
zeichnet werden kann.
Dennoch ist der vorinstanzliche Kostenentscheid wegen der of-
fensichtlich übersetzten Entschädigungsforderung des Beklagten zu
schützen. § 21 ZPO statuiert für Streitigkeiten über Bestand und
Umfang von Dienstbarkeiten und nachbarrechtliche Eigentumsbe-
schränkungen - in Abweichung vom Grundsatz von § 16 ZPO, wo-
nach das Klagebegehren den Streitwert bestimmt -, dass das grössere
der beiden (geldwerten) Interessen der Parteien massgebend ist. Mit-
hin ist der Grundeigentümer, dessen Grundstück nach der Auffassung
eines klagenden Nachbarn mit einer Dienstbarkeit belastet werden
soll, nicht gehalten, ein eigentliches Widerklageeventualbegehren zu
stellen. Der Beklagte hat sein Interesse an einem vom eingeklagten
Fahrwegrecht freien Grundstück in der Klageantwort auf rund
Fr. 200'000.-- beziffert (vgl. auch Streitwert gemäss zweitinstanzlich
2000
Zivilrecht
39
eingeholter Kostennote). Ausgehend von der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung, wonach - aus überzeugenden Gründen - bei einem
überbauten
Grundstück grundsätzlich ein angemessener
Einkauf
in
den von der Servitut belasteten Grundstücks
teil,
d.h. nicht ein
Abkauf, zu erfolgen hat (vgl. Erwägung 5b vorstehend), sowie vom
Umstand, dass Grundstückpreise von mehr als Fr. 1'000.--/m2 in der
fraglichen Gegend nicht erzielt werden, muss die vom Beklagten
verlangte Entschädigungsforderung als klar übersetzt betrachtet
werden. Die Wettschlagung der Parteikosten durch die Vorinstanz ist
daher nicht zu beanstanden. Mangels einer Anfechtung des
vorinstanzlichen Urteils im Kostenpunkt durch den Kläger kann
dahingestellt bleiben, ob sich gar gerechtfertigt hätte, den Beklagten
zu verpflichten, dem Kläger die erstinstanzlichen Parteikosten teil-
weise oder ganz zu ersetzen. | 2,445 | 1,889 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2000-5_1999-10-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-5.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-5.pdf | AGVE_2000_5 | null | nan |
a8714b8f-51e7-51b9-abf8-9800ec4a3c20 | 1 | 417 | 870,699 | 1,307,059,200,000 | 2,011 | de | 2011
Obergericht
30
[...]
3
Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 124 Abs. 1 ZPO
1. Das Gericht hat dafür zu sorgen, dass einer Partei jede Eingabe der
anderen vollständig und zuverlässig zugeht und sie Gelegenheit hat,
darauf zu antworten. Wird die Klageantwort dem Kläger erst zusammen
mit dem Entscheid zugestellt, ist dessen rechtliches Gehör verletzt.
2. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs kann im Beschwerdeverfahren
nach Art. 319 ff. ZPO aufgrund der eingeschränkten Kognition nicht ge-
heilt werden, wenn Tatfragen streitig sind.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 3. Zivilkammer vom 20. Juni 2011,
i.S. B.R. ca. N.F. (ZSU.2011.117).
Aus den Erwägungen
1.
Rechtsöffnungsentscheide können mit Beschwerde angefochten
werden (Art. 319 lit. a i.V.m. Art. 309 lit. b Ziff. 3 ZPO). Mit der
Beschwerde kann die unrichtige Rechtsanwendung sowie die offen-
sichtlich unrichtige Feststellung des Sachverhaltes geltend gemacht
werden (Art. 320 ZPO). Neue Anträge, neue Tatsachenbehauptungen
und neue Beweismittel sind im Beschwerdeverfahren ausgeschlossen
(Art. 326 Abs. 1 ZPO). Das Obergericht kann aufgrund der Akten
entscheiden (Art. 327 Abs. 2 ZPO).
2.
2.1.
2.1.1.
Aus dem verfassungsmässigen Anspruch auf rechtliches Gehör
(Art. 29 Abs. 2 BV) folgt das Recht einer Partei, sich im Rahmen
eines Gerichtsverfahrens zu den Eingaben der anderen Verfahrens-
partei zu äussern. Dies bedeutet auch, dass ein Gericht jede bei ihm
eingereichte Stellungnahme den Beteiligten zur Kenntnis zu bringen
hat (BGE 133 I 98 ff. Erw. 2.1 und 2.2). Dieses Äusserungsrecht
2011
Zivilprozessrecht
31
steht einer Prozesspartei unabhängig davon zu, ob die Eingabe neue
Tatsachen oder rechtliche Argumente enthält und ob sie im Einzelfall
geeignet ist, den richterlichen Entscheid zu beeinflussen, denn es ist
Sache der Parteien und nicht des Gerichts zu beurteilen, ob eine neue
Eingabe oder ein neues Beweismittel Bemerkungen erfordert oder
nicht (BGE 133 I 100 Erw. 4.3; vgl. auch Mazan, Basler Kommentar,
Basel 2010, N. 15 zu Art. 253 ZPO; Chevalier, in: Sutter-Somm/
Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg], Kommentar zur Schweizerischen
Zivilprozessordnung [ZPO-Kommentar], Zürich 2010, N. 12 zu
Art. 253 ZPO). Diese Verfahrensansprüche gelten auch im Rechtsöff-
nungsverfahren (BGE 5A_151/2007 Erw. 3.2; Daniel Staehelin, Bas-
ler Kommentar zum SchKG, 2. Aufl., Basel 2010, N. 49 zu Art. 84
SchKG).
2.1.2.
Die Beklagte erstattete am 11. März 2011 eine Klageantwort.
Am 18. März 2011 erging der Entscheid der Vorinstanz, welcher der
Klägerin zusammen mit der Klageantwort zugestellt wurde. Die
Klägerin konnte sich somit vor Vorinstanz nicht mehr zur Klageant-
wort äussern. Damit hat die Vorinstanz den Anspruch der Klägerin
auf rechtliches Gehör verletzt. Die Prozessleitung ist Aufgabe des
Gerichts (Art. 124 Abs. 1 ZPO), d.h. dieses hat die prozessualen Vor-
schriften von Amtes wegen zur Anwendung zu bringen, soweit die
Prozessordnung nicht einen entsprechenden Parteiantrag voraussetzt
(Guldener, Schweizerisches Zivilprozessrecht. 3. Aufl., Zürich 1979,
S. 179). Das Gericht hat deshalb selbst dafür zu sorgen, dass einer
Partei jede Eingabe der anderen vollständig und zuverlässig zugeht
und sie Gelegenheit hat, darauf zu antworten.
2.2.
2.2.1.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur. Seine
Verletzung führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in
der Sache selbst zur Aufhebung des angefochtenen Entscheides. Vor-
behalten bleiben praxisgemäss Fälle, in denen die Verletzung nicht
besonders schwer wiegt und dadurch geheilt wird, dass die Partei,
deren rechtliches Gehör verletzt wurde, sich vor einer Instanz äus-
sern kann, welche sowohl die Tat- als auch die Rechtsfragen un-
2011
Obergericht
32
eingeschränkt überprüft (BGE 132 V 387 Erw. 5.1), oder wenn bei-
spielsweise nur Rechtsfragen streitig sind, die - wie im Rahmen der
Beschwerde nach Art. 319 ff. ZPO (Freiburghaus/Afheldt, ZPO-
Kommentar, a.a.O., N. 4 zu Art. 320 ZPO) - von der Rechtsmit-
telinstanz mit freier Kognition beurteilt werden können (BGE 133 I
100 Erw. 4.9; von Werdt, Die Beschwerde in Zivilsachen, Bern 2010,
Rz. 879).
2.2.2.
Die Beklagte führte in der Klageantwort aus, die Klägerin habe
die von ihr unterzeichnete Bestätigung nachträglich eigenmächtig
um Fr. 4'179.00 für Geschenke, die die Klägerin ihr damals gemacht
habe, auf den Betrag von insgesamt Fr. 14'179.00 erhöht. Die Klä-
gerin macht demgegenüber in der Beschwerde geltend, bei den auf
der Bestätigung oben aufgeführten Beträgen handle es sich keines-
wegs um Geschenke, wie von der Beklagten behauptet, sondern um
Rechnungen und Einkäufe, die die Beklagte nicht habe bezahlen
können, weshalb die Beklagte sie gebeten habe, diese auf der Bestä-
tigung nachzutragen.
Streitig sind somit Tatfragen. Aufgrund der Beschränkung auf
die Rüge der offensichtlich unrichtigen Feststellung des Sachverhal-
tes ist aber die Kognition der Rechtsmittelinstanz bei der Beschwer-
de in tatsächlicher Hinsicht auf eine Willkürprüfung reduziert
(vgl. Freiburghaus/Afheldt, ZPO-Kommentar, a.a.O., N.5 zu Art. 320
ZPO). Damit steht dem Obergericht vorliegend nicht dieselbe Kog-
nition zu wie der Vorinstanz und die Gehörsverletzung kann nicht
geheilt werden. Der Entscheid der Vorinstanz ist daher aufzuheben
und die Streitsache ist an diese zur Neubeurteilung unter Berück-
sichtigung der Ausführungen der Klägerin in der Beschwerde zu-
rückzuweisen. | 1,328 | 1,070 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2011-3_2011-06-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2011-3.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2011-3.pdf | AGVE_2011_3 | null | nan |
a8cbf5d1-65ac-4648-9135-5e6f04999d23 | 1 | 414 | 1,497,470 | 1,597,017,600,000 | 2,020 | de | Urteil/Entscheid
Handelsgericht
2. Kammer
HSU.2020.68
Entscheid vom 10. August 2020
Besetzung Oberrichter Vetter, Vizepräsident
Gerichtsschreiber Schneuwly
Gesuchsteller H.E., _
Gegenstand Summarisches Verfahren betreffend Wiedereintragungsgesuch gelöschte
AG
Der Vizepräsident entnimmt den Akten:
1.
Mit Entscheid vom 10. Juni 2020 wurde die F. AG mit Sitz in M. (AG) im
Verfahren HSU.2020.27 wegen eines nicht behobenen Organisationsman-
gels aufgelöst. Dagegen wurde kein Rechtsmittel ergriffen; der Entscheid
wurde rechtskräftig.
2.
Mit der als "Gesuch um Wiedereintragung der gelöschten Aktiengesell-
schaft" betitelten Eingabe vom 6. August 2020 (Postaufgabe: 6. August
2020) stellte der Gesuchsteller folgende Rechtsbegehren:
" [...] stelle ich den Antrag, die am 10. Juni 2020 verfügte Löschung der F. AG zu widerrufen und die Gesellschaft wieder ordentlich im des Kantons Aargau einzutragen."
Zur Begründung führte der Gesuchsteller im Wesentlichen aus, die F. AG
verfüge noch über substantielle Vermögenswerte. Zwar habe er vom Orga-
nisationsmängelverfahren Kenntnis genommen und sofort mit dem Han-
delsregisteramt in Aarau Kontakt aufgenommen. Er sei am Telefon nicht
auf die Folgen dieses Verfahrens aufmerksam gemacht worden. Der Ge-
suchsteller wisse, dass alles in seiner Verantwortung als Verwaltungsrat
sei und versichert, dass solches sich nicht wiederholen werde. Weiter
werde neu A.B., wohnhaft in O., als Direktorin mit Einzelunterschrift für die
F. AG fungieren.
- 2 -
3.
Mit Eingabe vom 7. August 2020 reichte die C. AG noch diverse Beilagen
zum Gesuch von H.E. ein.
Der Vizepräsident zieht in Erwägung:
1.
Das Gericht prüft die Prozessvoraussetzungen von Amtes wegen (Art. 60
ZPO). Darunter fallen insbesondere die örtliche und die sachliche Zustän-
digkeit des angerufenen Gerichts (Art. 59 Abs. 2 lit. b ZPO).
2.
Beim Verfahren um Wiedereintragung einer Gesellschaft im Handelsregis-
ter gemäss Art. 164 Abs. 1 lit. c HRegV handelt es sich um eine gerichtliche
Anordnung der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Gemäss bundesgerichtlicher
Rechtsprechung fällt diese nicht unter den bundesgerichtlichen Begriff der
Streitigkeiten aus dem Recht der Handelsgesellschaften und Genossen-
schaften gemäss Art. 6 Abs. 4 lit. b ZPO. Das Handelsgericht ist folglich für
ein Wiedereintragungsverfahren nach Art. 164 HRegV sachlich unzustän-
dig (BGE 140 III 550 E. 2; VETTER, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuen-
berger [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung
[ZPO], 3. Aufl. 2016, Art. 6 N. 40). § 13 Abs. 1 lit. b EG ZPO wurde per
1. Juli 2015 entsprechend angepasst.
Demnach fehlt es vorliegend an der Prozessvoraussetzung der sachlichen
Zuständigkeit des Handelsgerichts (Art. 59 Abs. 2 lit. b ZPO), so dass auf
das Gesuch um Wiedereintragung nicht einzutreten ist (Art. 59 Abs. 1
ZPO). Im Übrigen ist die F. AG noch gar nicht aus dem Handelsregister
gelöscht worden, sondern deren Firma bisher bloss mit dem Zusatz "in Li-
quidation" ergänzt worden. Das Gesuch ist offensichtlich unzulässig, wes-
halb keine Stellungnahme eingeholt werden muss (Art. 253 ZPO).
3.
Selbst wenn das Gesuch als Gesuch um Revision des Entscheids vom
10. Juni 2020 verstanden würde, wäre darauf nicht einzutreten, da der Ge-
suchsteller nicht Partei des Verfahrens HSU.2020.27 war und er demnach
nicht zur Einreichung eines Revisionsgesuchs legitimiert ist. Zudem sind
auch keine Revisionsgründe i.S.v. Art. 328 ZPO ersichtlich oder vorge-
bracht worden. Weil das Revisionsgesuch offensichtlich unzulässig wäre,
wäre auch diesbezüglich keine Stellungnahme einzuholen gewesen
(Art. 330 ZPO).
4.
Wird eine Eingabe, die mangels Zuständigkeit zurückgezogen oder auf die
nicht eingetreten wurde, innert eines Monates seit dem Rückzug oder dem
- 3 -
Nichteintretensentscheid beim zuständigen Gericht neu eingereicht, so gilt
als Zeitpunkt der Rechtshängigkeit das Datum der ersten Einreichung
(Art. 63 Abs. 1 ZPO). Vorbehalten bleiben die besonderen gesetzlichen
Klagefristen nach dem SchKG (Art. 63 Abs. 3 ZPO).
5.
Als einzige Partei im vorliegenden Verfahren hat die Gesuchstellerin die
Gerichtskosten zu tragen. Gemäss § 8 VKD beträgt die Entscheidgebühr
für die Durchführung eines summarischen Verfahrens Fr. 500.00 bis
Fr. 12'000.00. Vorliegend sind die Gerichtskosten entsprechend dem ent-
standenen Aufwand auf Fr. 500.00 festzusetzen.
Der Vizepräsident erkennt:
1.
Auf das Gesuch wird nicht eingetreten.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.00 werden dem Gesuchsteller auferlegt.
Zustellung an:
den Gesuchsteller (mit Einzahlungsschein)
6.
Rechtsmittelbelehrung für die Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 ff.,
Art. 90 ff. BGG)
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen, von der schriftlichen Eröff-
nung der vollständigen Ausfertigung des Entscheides an gerechnet, die Be-
schwerde an das Schweizerische Bundesgericht erhoben werden.
Die Beschwerde ist schriftlich oder in elektronischer Form beim Schweize-
rischen Bundesgericht einzureichen. Die Beschwerdeschrift ist in einer
Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit An-
gabe der Beweismittel und die Unterschriften bzw. eine anerkannte elekt-
ronische Signatur zu enthalten. In der Begründung ist in gedrängter Form
darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid Recht (Art. 95 ff. BGG)
verletzt. Die Urkunden, auf die sich die Partei als Beweismittel beruft, sind
beizulegen, soweit die Partei sie in den Händen hat; ebenso ist der ange-
fochtene Entscheid beizulegen (Art. 42 BGG).
- 4 -
Aarau, 10. August 2020
Handelsgericht des Kantons Aargau
2. Kammer
Der Vizepräsident: Der Gerichtsschreiber:
Vetter Schneuwly | 1,319 | 1,060 | AG_HG_002 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_002_-Handelsrecht-Zivilp_2020-08-10 | https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/gesetze___entscheide/gesetze_2/handelsrecht/Entscheid_des_Handelsgerichts_vom_10._August_2020.pdf | null | nan |
||
a94b88ce-8ef8-5dc0-8398-c59e1ae8b0e4 | 1 | 417 | 871,723 | 1,068,422,400,000 | 2,003 | de | 2003
Zivilprozessrecht
71
[...]
20
Art. 12 lit. e BGFA, Verpfändung des Streitgegenstandes an den Anwalt
Bezüglich der Frage der Verpfändung eines Streitgegenstandes an den
Anwalt zur Sicherung seiner Honorarforderung enthält Art. 12 lit. e
BGFA keine Lücke, weshalb die Zulässigkeit einer solchen Verpfändung
zu bejahen ist.
Entscheid der Anwaltskommission vom 10. November 2003 i.S. T. E. | 101 | 79 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2003-20_2003-11-10 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-20.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-20.pdf | AGVE_2003_20 | null | nan |
a98af245-82dd-4a32-b97d-35d5756e9086 | 1 | 414 | 1,497,436 | 1,585,612,800,000 | 2,020 | de | Referat
Handelsgericht
1. Kammer
HOR.2018.14
Urteil vom 31. März 2020 (Teilentscheid)
Besetzung Oberrichter Dubs, Präsident
Ersatzrichter Wyss
Handelsrichterin Baumann
Handelsrichter Alberati
Handelsrichter Gruntz
Gerichtsschreiber Müller
Klägerin A. Genossenschaft, _
vertreten durch Dr. iur. Michael Ritscher und M.A. HSG in Law and Eco-
nomics Louisa Galbraith, Rechtsanwälte, Schiffbaustrasse 2, Postfach
1765, 8031 Zürich
Beklagte Luminarte GmbH, _
vertreten durch Dr. iur. Michael Kikinis und Dr. iur. Melanie Bosshart,
Rechtsanwälte, Waffenplatzstrasse 10, Postfach 1871, 8027 Zürich
Gegenstand Ordentliches Verfahren betreffend Lauterkeitsrecht und Namensrecht
- 2 -
Das Handelsgericht entnimmt den Akten:
1.
Die Klägerin ist eine Genossenschaft mit Sitz in X. Sie bezweckt im We-
sentlichen die Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Interessen ihrer
Mitglieder in gemeinsamer Selbsthilfe sowie der Konsumentinnen und Kon-
sumenten (Klagebeilage [KB] 2).
Gemäss ihrem Handelsregistereintrag betreibt die Klägerin als Kernge-
schäft den Einzelhandel sowie weitere Aktivitäten einschliesslich der vor-
gelagerten Stufen und erforderlichen Dienstleistungen (KB 2).
2.
Die Beklagte ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung deutschen
Rechts mit Sitz in Y (DE). Sie bezweckt im Wesentlichen den Handel mit
Beleuchtungskörpern, Leuchtmitteln und entsprechendem Zubehör (KB 3).
3.
Das Zeichen "Lumimart" wird seit einigen Jahren zur Bezeichnung von
Fachmärkten für Leuchten verwendet. In diesen wird eine grosse Auswahl
an Pendelleuchten, Stehleuchten, Wand- und Deckenleuchten, Spots,
Tisch- und Büroleuchten sowie Leuchtmittel für den Innen- und Aussenbe-
reich angeboten. Bei einem Teil der angebotenen Produkte handelt es sich
um Produkte, die unter Drittmarken angeboten werden. Teilweise werden
aber auch betriebseigene Produkte angeboten.
Dieselben Produkte werden auch in dem über die Internet-Domain
"www.lumimart.ch" abrufbaren Webshop angeboten.
Unbestritten ist ferner, dass das Logo seit 1998 "verwendet"
wird. Im September 2018 erfolgte ein Logowechsel, so dass die Fach-
märkte und der Webshop neu mit dem Logo gekennzeichnet
werden.
4.
Die Beklagte wurde im Jahr 2012 unter der (deutschen) Firma Lumin-
arte GmbH gegründet.
Sie tritt unter den beiden Internet-Domains "www.luminarte.de" und
"www.luminarte.ch" auf, über welche sie einen Webshop für Lampen,
Leuchten, Beleuchtungskörper, Beleuchtungsgeräte, Leuchtmittel und ähn-
liche Waren betreibt. Im Urteilszeitpunkt wird die Internet-Domain "www.lu-
minarte.ch" auf die Internet-Domain "www.luminarte.de" weitergeleitet.
- 3 -
Auf ihren Websites sowie in Werbeunterlagen verwendet sie auch das Zei-
chen .
Zudem betreibt sie in Y (DE) eine Lokalität.
5.
5.1.
Mit Klage vom 17. April 2018 stellte die Klägerin die folgenden Rechtsbe-
gehren:
- 4 -
4. Die Beklagte sei zu verpflichten, der Klägerin einen Betrag von CHF 13'945.25
zuzüglich 5% Zins p.a. seit dem 30. März 2017 zu bezahlen.
5. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zulasten der Beklagten."
Daneben stellte sie den folgenden prozessualen Antrag:
" 1. Dieses Verfahren sei mit dem beim Handelsgericht Aargau unter der Geschäftsnummer HOR.2017.30 hängigen Verfahren in Sachen A.- Gruppe Genossenschaft gegen Luminarte GmbH betreffend von Namens- und Markenrecht zu vereinen."
Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, die Beklagte verletze die
Namensrechte der Klägerin an der Bezeichnung "Lumimart" und betreibe
unlauteren Wettbewerb.
5.2.
Mit Verfügung vom 3. Mai 2018 wies der Präsident den von der Klägerin
gestellten prozessualen Antrag ab.
6.
6.1.
Mit Eingabe vom 13. Juli 2018 stellte die Beklagte den folgenden Prozessu-
alen Antrag:
" Es sei der A.-Gruppe Genossenschaft, X., der Streit durch gerichtliche Anzeige zu verkünden, und das Gericht habe der A.-Gruppe Frist anzusetzen, um sich zu einem allfälligen Beitritt zum äussern zu können.
Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Klägerin."
6.2.
Mit Eingabe vom 27. Juli 2018 hat die A.-Gruppe Genossenschaft den Ein-
tritt in das Verfahren abgelehnt, so dass dieses ohne Rücksicht auf die A.-
Gruppe Genossenschaft fortgeführt wird (Art. 79 Abs. 2 ZPO).
- 5 -
7.
7.1.
Mit Eingabe vom 2. August 2018 erstattete die Beklagte ein Sistierungsge-
such mit den folgenden prozessualen Anträgen:
" 1. Das vorliegende Verfahren sei bis zum Ergehen eines rechtskräftigen
Entscheids im Verfahren Nr. HOR.2017.30 vor dem Handelsgericht Aargau zu sistieren.
2. Es sei der Beklagten unverzüglich einstweilen die Frist für die Erstat-
tung der Klageantwort abzunehmen, bis über den Sistierungsantrag rechtskräftig entschieden sei.
3. Eventualiter, bei einer allfälligen Abweisung des Sistierungsbegeh-
rens, es sei der Beklagten eine neue Frist für die Klageantwort .
4. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Klägerin."
7.2.
Mit Verfügung vom 6. August 2018 wurde der Beklagten die Frist zur Er-
stattung der Klageantwort einstweilen abgenommen.
7.3.
Mit Verfügung vom 27. August 2018 wies der Präsident das Sistierungsge-
such der Beklagten ab und setzte der Beklagten erneut Frist zur Erstattung
einer schriftlichen Antwort an.
8.
Mit Klageantwort vom 17. September 2018 stellte die Beklagte die folgen-
den Rechtsbegehren:
" 1. Die Klage sei vollumfänglich abzuweisen, soweit auf die der Klägerin überhaupt einzutreten ist.
2. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Klägerin."
Zur Begründung brachte sie im Wesentlichen vor, die geltend gemachten
angeblichen Namensrechte stünden der Klägerin gar nicht zu. Weiter seien
allfällige Namensrechte der Klägerin bereits verwirkt. Aber auch eine recht-
lich relevante Verwechslungsgefahr sei auszuschliessen.
9.
Mit Replik vom 20. November 2018 stellte die Klägerin die folgenden ange-
passten Rechtsbegehren:
- 6 -
- 7 -
10.
Mit Duplik vom 6. Februar 2019 hielt die Beklagte an den von ihr gestellten
Rechtsbegehren fest.
11.
11.1.
Mit Eingabe vom 12. Februar 2019 ersuchte die Klägerin um Bestätigung,
dass aufgrund des Umfangs der Duplik allfällige Bemerkungen der Klägerin
bis am 13. März 2019 als rechtzeitig erachtet würden.
11.2.
Mit Verfügung vom 13. Februar 2019 wurde das Gesuch der Klägerin ab-
gewiesen.
12.
12.1.
Mit Eingabe vom 6. März 2019 erstattete die Klägerin eine Stellungnahme
zur Duplik vom 6. Februar 2019.
12.2.
Mit Eingabe vom 25. März 2019 erstattete die Beklagte eine Noveneingabe
mit folgenden prozessualen Anträgen:
" 1. Die Eingabe der Klägerin vom 06. März 2019 sei vom Gericht für zu erklären und bei der Urteilsfindung nicht zu , insoweit als die Klägerin dort neue tatsächliche Ausführungen macht.
2. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Klägerin."
12.3.
Mit Eingabe vom 4. April 2019 teilte die Klägerin ihre Absicht mit, inskünftig
keine weiteren schriftlichen Stellungnahmen einzureichen.
13.
13.1.
Mit Verfügung vom 21. März 2019 ersuchte der Präsident die Klägerin um
Edition des Lizenzvertrages mit der A.-Gruppe Genossenschaft vom 7. Mai
2013 betreffend Markenrechte (nachfolgend "Lizenzvertrag"). Mit Eingabe
vom 9. April 2019 hat die Klägerin dem Editionsgesuch entsprochen.
13.2.
Mit Eingabe vom 23. April 2019 erstattete die Beklagte eine Noveneingabe
mit folgenden prozessualen Anträgen:
" 1. Eventualiter, es sei der Beklagten die völlig ungeschwärzte Fassung des Lizenzvertrages (klägerische Beilage 200) zugänglich zu .
- 8 -
2. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Klägerin."
13.3.
Mit Eingabe vom 14. Mai 2019 erstattete die Klägerin eine unaufgeforderte
Stellungnahme zur Noveneingabe der Beklagten vom 23. April 2019. Da-
raufhin erstattete die Beklagte mit unaufgeforderter Eingabe vom
11. Juni 2019 ebenfalls eine Stellungnahme und stellte folgende prozessu-
alen Anträge:
A.
A.
- 9 -
A.
A.
A.
- 10 -
13.4.
Mit Eingabe vom 24. Juni 2019 teilte die Klägerin ihren Verzicht auf eine
Stellungnahme mit.
14.
14.1.
Mit Eingaben vom 8. bzw. 9. Juli 2019 haben die Parteien ihren Verzicht
auf die Durchführung einer mündlichen Hauptverhandlung mitgeteilt und
beantragt, beiden Parteien eine Frist bis am 19. August 2019 für die Einrei-
chung von schriftlichen Schlussvorträgen anzusetzen.
14.2.
Mit Verfügung vom 10. Juli 2019 wurde den Parteien Frist bis zum 19. Au-
gust 2019 angesetzt, um schriftliche Schlussvorträge einzureichen.
14.3.
Die Schlussvorträge vom 19. August 2019 wurden den Parteien mit Verfü-
gung vom 21. August 2019 zugestellt. Gleichzeitig wurde eine Beweisver-
fügung erlassen.
A.
A.
- 11 -
14.4.
Mit Eingaben vom 29. August 2019 (Klägerin) resp. 2. September 2019
(Beklagten) nahmen die Parteien zu den jeweiligen Schlussvorträgen der
Gegenpartei Stellung. Die Beklagte stellte in ihrer Stellungnahme die fol-
genden prozessualen Anträge:
"1. Es seien die nachfolgend aufgeführten Behauptungen der Klägerin in Schlussvortrag vom 19. August 2019 vom Gericht für unbeachtlich zu erklären und bei der Urteilsfindung nicht zu berücksichtigen:
2. Eventualiter, es sei der Beklagten eine angemessene Frist anzusetzen, um zu den Ausführungen der Klägerin in den Ziffern 61-66 des der Klägerin vom 19. August 2019 substantiiert Stellung zu nehmen.
3. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Klägerin."
14.5.
Mit Eingaben vom 10. September 2019 (Beklagte) resp. 12. September
2019 (Klägerin) machten die Parteien erneut von ihrem unbedingten Rep-
likrecht Gebrauch.
15.
Mit Verfügung vom 28. November 2019 wurde den Parteien die Besetzung
des Gesamtgerichts mitgeteilt.
- 12 -
Das Handelsgericht zieht in Erwägung:
1. Prozessvoraussetzungen
Die Prozessvoraussetzungen sind von Amtes wegen zu prüfen (Art. 60
ZPO). Dazu gehören namentlich ein schutzwürdiges Interesse der klagen-
den Partei sowie die örtliche und die sachliche Zuständigkeit des angeru-
fenen Gerichts (Art. 59 Abs. 2 lit. a und b ZPO).
1.1. Zuständigkeit
1.1.1. Parteibehauptungen
Die Klägerin behauptet, der Internetauftritt der Beklagten richte sich an ein
schweizerisches Publikum, weshalb die örtliche Zuständigkeit überall in der
Schweiz zu bejahen sei. Zudem habe die Beklagte eine Bestellung an eine
in Lenzburg im Kanton Aargau gelegene Wohnadresse geliefert, was be-
stätige, dass im Kanton Aargau ein Erfolgsort gemäss Art. 5 Ziff. 3 LugÜ
liege (Klage N. 6 - 12). Da die geltend gemachten namensrechtlichen An-
sprüche auf dem gleichen Lebenssachverhalt beruhen würden, sei auch
diesbezüglich die Zuständigkeit zu bejahen (Klage N. 13).
Die Beklagte anerkennt die örtliche Zuständigkeit des Handelsgerichts des
Kantons Aargau insoweit, als sich die Rechtsbegehren der Klägerin auf die
Schweiz beziehen und beschränkten (Klageantwort N. 2).
1.1.2. Internationale Zuständigkeit
1.1.2.1. Internationales Verhältnis
Die Parteien sind in unterschiedlichen Staaten domiziliert. Es liegt ein inter-
nationales Verhältnis vor,1 weshalb die internationale Zuständigkeit zu prü-
fen ist. Diese beurteilt sich, einschlägige Staatsverträge vorbehalten, nach
dem Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht (IPRG; vgl.
Art. 1 IPRG). Vorliegend geht das Übereinkommen über die gerichtliche
Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen
in Zivil- und Handelssachen (Lugano-Übereinkommen bzw. LugÜ) dem
IPRG als einschlägiger Staatsvertrag vor.
1.1.2.2. Würdigung
Die Klägerin stützt ihre Unterlassungsklage (Rechtsbegehren Ziff. 1) auf
eine Verletzung von Lauterkeits- und Namensrecht. Bezüglich dieser An-
sprüche kann sich die Beklagte einlassen und hat dies auch getan (vgl.
Art. 24 LugÜ).
Die Rechtsbegehren Ziff. 2 und 3 dienen der Durchsetzung des behaupte-
ten lauterkeitsrechtlichen Anspruchs der Klägerin (Art. 9 Abs. 3 UWG). Be-
züglich dieser Ansprüche kann sich die Beklagte einlassen und hat dies
auch getan.
1 BGE 131 III 76 E. 2.3.
- 13 -
Mit Rechtsbegehren Ziff. 4 verlangt die Klägerin die Rückerstattung vorpro-
zessualen Aufwands (Klage N. 212). Bezüglich dieses Anspruchs kann
sich die Beklagte einlassen und hat dies auch getan.
Ohnehin liegt in casu eine objektive Klagehäufung von in engem sachli-
chem Zusammenhang stehenden Rechtsbegehren vor. Daher ergibt sich
die internationale Zuständigkeit hinsichtlich der Rechtsbegehren Ziff. 2 - 4
ebenfalls aufgrund Art. 8a Abs. 2 i.V.m. Art. 6 IPRG. Damit ist die internati-
onale Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte für sämtliche Rechtsbe-
gehren zu bejahen.
1.1.3. Örtliche Zuständigkeit
Eine Einlassung im Sinne von Art. 24 LugÜ begründet nicht nur die inter-
nationale, sondern auch die örtliche Zuständigkeit des angerufenen Ge-
richts.2 Daher ergibt sich die örtliche Zuständigkeit der aargauischen Ge-
richte zufolge Einlassung bereits aus Art. 24 LugÜ. Gleiches gilt bei einer
Abstützung auf Art. 8a Abs. 2 IPRG.3
1.1.4. Sachliche Zuständigkeit
Für die Beurteilung der von der Klägerin geltend gemachten lauterkeits-
rechtlichen Ansprüche ist das hiesige Gericht ohne Weiteres zuständig
(Art. 5 Abs. 1 lit. d i.V.m. Art. 6 Abs. 4 lit. a ZPO i.V.m. § 12 Abs. 1 lit. a EG
ZPO AG). Im Übrigen betrifft die vorliegende Streitigkeit die geschäftliche
Tätigkeit zweier im Handelsregister oder einem vergleichbaren ausländi-
schen Register eingetragener Parteien (Art. 6 Abs. 2 lit. a und c ZPO). Eine
Aufgliederung des Streitwertes von unstrittig zumindest Fr. 500'000.00 (vgl.
Duplik N. 34) ist sodann nicht vorzunehmen. Denn nach der bundesgericht-
lichen Rechtsprechung sind die Streitwerte gemeinsam eingeklagter An-
sprüche zwecks Bestimmung des zuständigkeits- und verfahrensartrele-
vanten Streitwerts zusammenzuzählen, wenn – wie vorliegend – konnexe
Klagen vorliegen.4 Daher steht die Beschwerde in Zivilsachen an das Bun-
desgericht offen (Art. 6 Abs. 2 lit. b ZPO i.V.m. Art. 74 Abs. 1 lit. b BGG).
Das Handelsgericht ist somit sachlich zuständig.
1.2. Bestimmtheit Rechtsbegehren Ziff. 1
1.2.1. Parteibehauptungen
Die Beklagte bestreitet die Bestimmtheit des klägerischen Rechtsbegeh-
rens Ziff. 1. Insbesondere sei die Bezeichnung "in der Schweiz" zu unbe-
stimmt und es sei nicht klar und voraussehbar, was der Beklagten verboten
werden solle. Sollte das klägerische Rechtsbegehren gutgeheissen wer-
den, müsste die Beklagte ein anderes Zeichen wählen, was ebenfalls ihre
2 BSK LugÜ-BERGER, 2. Aufl. 2016, Art. 24 N. 37. 3 ZK IPRG-MÜLLER-CHEN, 3. Aufl. 2018, Art. 8a N. 63. 4 BGE 142 III 788 E. 4.2.
- 14 -
Stellung auf dem deutschen Markt beeinflussen würde (zum Ganzen Kla-
geantwort N. 273 ff.).
Die Klägerin weist darauf hin, dass ihr Unterlassungsbegehren explizit auf
das Territorium der Schweiz beschränkt sei. Folglich sei es weder unbe-
stimmt noch unklar (Replik N. 521).
1.2.2. Würdigung
1.2.2.1.
Gemäss Rechtsbegehren Ziff. 1 soll der Beklagten verboten werden, in der
Schweiz Leuchten und/oder Leuchtmittel unter der Firmenbezeichnung
"Luminarte GmbH" und/oder den Domainnamen "luminarte.ch" und/oder
"luminarte.de" und/oder dem Zeichen "Luminarte" und/oder unter dem
Logo selber oder durch Dritte zu bewerben, anzubieten
und/oder zu liefern.
Die Klägerin will der Beklagten daher das Bewerben, Anbieten und Liefern
von Leuchten und/oder Leuchtmitteln unter Verwendung einer abschlies-
senden Liste verschiedener Bezeichnungsformen verbieten lassen. Folg-
lich soll der Beklagten verboten werden, die Firmenbezeichnung "Lumin-
arte GmbH", die Domainnamen "luminarte.ch" und "luminarte.de", das Zei-
chen "Luminarte" und das Logo in der Schweiz kennzei-
chenmässig zu gebrauchen. Insoweit ist das Rechtsbegehren-Ziff. 1 genü-
gend bestimmt.5
1.2.2.2.
Die von der Beklagten erhobenen Einwände gegen die angeblich ungenü-
gende örtliche Bestimmtheit von Rechtsbegehren Ziff. 1 erscheinen nicht
stichhaltig. Bei Unterlassungsklagen ist der Ort, für welchen die Unterlas-
sung verlangt wird, zu bezeichnen. Insbesondere ist aufgrund des Territo-
rialitätsprinzips das Territorium zu bezeichnen, für welches das Verbot aus-
gesprochen werden soll.6 Dem kommt die Klägerin mit der Angabe "in der
Schweiz" nach. Die dagegen vorgebrachten Argumente der Beklagten sind
gesucht und nicht schützenswert. Die Einschränkung "in der Schweiz" ent-
spricht gängiger Gerichtspraxis. Dass ein Verbot, "in der Schweiz" Leuch-
ten und Leuchtmittel zu bewerben, anzubieten und/oder zu liefern, der Be-
klagten an sich nicht untersagen würde, in Deutschland einen Showroom
bzw. ein Ladenlokal zu betreiben, dürfte klar sein. Ebenso kann die Kläge-
rin der Beklagten nicht verbieten, in den deutschen Lokalitäten Schweizer
Kunden zu bedienen. Was den beklagtischen Webseiteninhalt angeht,
hätte eine Gutheissung von Rechtsbegehren Ziff. 1 zur Folge, dass die Be-
5 Siehe auchBSK MSchG-FRICK, 3. Aufl. 2016, Art. 55 N. 40 2. Lemma. 6 Vgl. SHK MSchG-STAUB, 2. Aufl. 2017, Art. 55 N. 36 u. 40; Urteil HG140055-O des HGer ZH vom
18. Dezember 2014 E. 2.4.1.
- 15 -
klagte einerseits keine Liefermöglichkeit in die Schweiz bei Onlinebestel-
lungen anbieten dürfte und andererseits die bestehenden Ausrichtungs-
merkmale für Schweizer Kunden (insbesondere Anzeige von Preisen in
CHF, Servicedienstleistungen für Schweizer Kunden wie Übernahme der
Zollformalitäten; vgl. Klage N. 9 und KB 8 f., 176) unterlassen müsste.
Schliesslich hat das Bundesgericht mit Bezug auf Websites, die unter aus-
ländischen Domainnamen betrieben werden, bereits im Jahr 2004 Folgen-
des festgehalten:
"Weshalb das auf die Domainnamen bezogene Unterlassungsgebot nicht vollstreckbar sein soll, wie die Beklagten geltend machen, wird in der nicht näher begründet (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG). In der Literatur wird es jedenfalls als technisch unproblematisch ausgegeben, gezielt aus einem bestimmten Land den Zugang zu einem Website zu verweigern (Dasser, Gerichtsstand und anwendbares Recht bei Haftung aus Internetdelikten, in Arter/Jörg [Hrsg.], Internet-Recht und Electronic Commerce Law, 3. Tagungsband, Bern 2003, S. 127 ff., 135; Buri, a.a.O., S. 227 ff.; a.A. aber mit anderen Lösungsvorschlägen Sara Stein, Schutz von Name und Kennzeichen gegen eine Verwendung als Domain-Name durch Dritte, Diss. Bonn 2002, S. 188 ff.). Soweit der Einwand überhaupt zu hören ist, erweist er sich damit als unbegründet."7
Das damals von der Vorinstanz (dem hiesigen Gericht) angeordnete Verbot
lautete:
"In Gutheissung der Klagebegehren Ziffer 1a und b, des Replikbegehrens Ziffer 1c und des Klagebegehrens Ziffer 2 wird den Beklagten verboten: [...] d) die Domainnamen "www.triptrap.ch" und "www.triptrap.com" in der
Schweiz selbst oder durch Dritte, mittelbar oder unmittelbar, im zu benutzen oder benutzen zu lassen."8
Daher weist das Rechtsbegehren Ziff. 1 eine genügende Bestimmtheit auf.
1.3. Rechtsschutzinteresse (Rechtsbegehren Ziff. 1)
1.3.1. Parteibehauptungen
Die Klägerin bringt im Wesentlichen vor, die Beklagte bewerbe und ver-
treibe in der Schweiz unter Verwendung der Geschäftsbezeichnung "Lumi-
narte GmbH", der Domainnamen "luminarte.ch" und "luminarte.de" sowie
der Bezeichnung "Luminarte" und des Logos Leuchten und
Leuchtmittel (Klage N. 7). Da diese Zeichen in der Schweiz unbestrittener-
massen seit einiger Zeit verwendet würden und die Beklagte deren Ver-
wendung auch nach den klägerischen Verwarnungen nicht aufgegeben
habe, sei die Wiederholungsgefahr ohne weiteres nachgewiesen (Klage
N. 195).
7 BGer 4C.229/2003 vom 20. Januar 2004 E. 5 (nicht publiziert in BGE 130 III 268). 8 HGer AG HOR.2002.19, Teilurteil vom 21. August 2003.
- 16 -
Die Beklagte scheint das klägerische Rechtsschutzinteresse implizit zu be-
streiten soweit sie ausführt, von der Klägerin nicht abgemahnt worden zu
sein (Klageantwort N. 280). Überdies macht sie geltend, sie betreibe in der
Schweiz keine stationären Läden und beabsichtige keinen Eintritt in den
stationären Handel in der Schweiz (Schlussvortrag vom 19. August 2019
N. 5, 130).
1.3.2. Rechtliches
Ein Unterlassungsbegehren setzt voraus, dass zumindest die Gefahr einer
Verletzung im Zeitpunkt der Urteilsfällung besteht.9 Eine solche besteht,
wenn die widerrechtliche Handlung unmittelbar droht, indem das Verhalten
der Gegenpartei die künftige Rechtsverletzung ernsthaft befürchten lässt
(Erstbegehungsgefahr), oder wenn die Gefahr einer Wiederholung früherer
Verletzungshandlungen besteht (Wiederholungsgefahr).10
Eine Wiederholungsgefahr ist in der Regel schon anzunehmen, wenn die
beklagte Partei die Widerrechtlichkeit des beanstandeten Verhaltens be-
streitet, ist doch in einem solchen Fall zu vermuten, dass sie es im Ver-
trauen auf dessen Rechtmässigkeit weiterführen wird.11 Letzteres wird in
der Rechtsprechung angenommen, wenn die beklagte Partei die – wenigs-
tens potentielle – Widerrechtlichkeit des beanstandeten Verhaltens bestrei-
tet, selbst wenn sie dieses zwischenzeitlich im Rahmen des hängigen Ver-
fahrens eingestellt hat.12 Will der Verletzer die Vermutung der Wiederho-
lungsgefahr eindeutig umstossen, so ist ihm die Abgabe einer vorbehalts-
losen Unterlassungserklärung (sog. Abstandserklärung) zu empfehlen.13
Die Wiederholungsgefahr entfällt dann, wenn sich die Gegenseite in einer
Unterlassungserklärung ausdrücklich dazu verpflichtet, das beanstandete
Verhalten vorbehaltlos einzustellen. Dabei wird eine förmliche, verbindliche
und bedingungslose Abstandserklärung verlangt. Es genügt nicht, wenn
die Gegenpartei ohne materielle Anerkennung der Rechtswidrigkeit ihres
umstrittenen Verhaltens irgendwelche Zusicherungen macht.14
Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung hat die klagende Partei die
Tatsachen vorzutragen und zu belegen, welche die Zulässigkeit ihrer Klage
begründen, die beklagte Partei diejenigen Tatsachen, welche sie angreifen.
Für die klagende Partei gilt daher auch im Bereich der Prozessvorausset-
zungen weiterhin die gewöhnliche Verhandlungsmaxime (beziehungs-
9 BGE 128 III 96 E. 2e; 124 III 72 E. 2; 109 II 338 E. 3. 10 BGE 128 III 96 E. 2e; 124 III 72 E. 2; 116 II 359 E. 2a. 11 BGE 124 III 72 E. 2a; 116 II 357 E. 2a S. 359; DAVID/FRICK/KUNZ/STUDER/ZIMMERLI, SIWR I/2,
3. Aufl. 2011, N. 273. 12 BGE 128 III 96 E. 2e; SHK MSchG-STAUB, 2. Aufl. 2017, Art. 55 N. 51 f. m.w.N. 13 BSK UWG-RÜETSCHI/ROTH, 2013, Art. 9 N. 23; SHK UWG-SPITZ, 2. Aufl. 2016, Art. 9 N. 64 je
m.w.N. 14 BSK UWG-RÜETSCHI/ROTH (Fn. 13), Art. 9 N. 23 m.w.N.
- 17 -
weise das gewöhnliche Verfahrensrecht einschliesslich des darin vorgese-
henen Novenrechts). Der beklagten Partei wird demgegenüber die Bestrei-
tungslast abgenommen und in Bezug auf klagehindernde Sachumstände
sind auch verspätet bekannt gewordene Tatsachen von Amtes wegen zu
berücksichtigen. Der Richter muss lediglich von Amtes wegen erforschen,
ob Tatsachen bestehen, die gegen das Vorliegen der Prozessvorausset-
zungen sprechen.15
1.3.3. Würdigung
1.3.3.1. Prüfungsaufbau
Das klägerische Unterlassungsbegehren umfasst nach dem Verständnis
des Gerichts dreierlei: Die Verwendung der beklagtischen Zeichen (1.) als
Geschäftsbezeichnung und Domainnamen, (2.) im Zusammenhang mit
dem Vertrieb von Marken von Drittherstellern sowie (3.) im Zusammenhang
mit der Kennzeichnung von eigenen Leuchten und Leuchtmitteln.
1.3.3.2. Verwendung als Geschäftsbezeichnung und Domain
Es ist unbestritten, dass die Beklagte die Geschäftsbezeichnung "Lumin-
arte GmbH", das Zeichen "Luminarte" sowie das Logo im
Zusammenhang mit dem Betrieb eines Unternehmens, welches Leuchten,
Leuchtmittel und Leutenzubehör von Drittherstellern veräussert, verwendet
(Klageantwort N. 4).
Der auf die Schweiz ausgerichtete Webshop der Beklagten ist über die bei-
den Domains "www.luminarte.ch" und "www.luminarte.de" erreichbar (Dup-
lik N. 188). Die Tatsache, dass bei Eingabe der Domain "www.lumin-
arte.ch" aktuell eine Weiterleitung auf die unter der Domain "www.lumin-
arte.de" aufgeschaltete Webseite erfolgt, vermag die Wiederholungsgefahr
nicht zu beseitigen. Ob der auf die Schweiz ausgerichtete Webshop der
Beklagten mittels direkter Aufschaltung auf der Domain "www.luminarte.ch"
oder durch Weiterleitung auf die Domain "www.luminarte.de" erreichbar ist,
ist für das Rechtsschutzinteresse nicht von Belang. Im Übrigen hat die Be-
klagte im Zusammenhang mit der Domain "www.luminarte.ch" weder die
Widerrechtlichkeit ihres Verhaltens anerkannt noch eine vorbehaltslose Ab-
standserklärung abgegeben.
Durch den andauernden Gebrauch der Firmenbezeichnung "Luminar-
te GmbH", des Zeichens "Luminarte", des Logos sowie der
Domains "www.luminarte.de" und "www.luminarte.ch" ist diesbezüglich
eine Wiederholungsgefahr zu bejahen.
Die Beklagte bringt sodann vor, sie betreibe in der Schweiz keine Laden-
geschäfte und beabsichtige ebenfalls keinen Eintritt in den stationären Han-
15 BGer 4A_229/2017 vom 7. Dezember 2017 E. 3.1 u. 3.4 m.w.N.
- 18 -
del. Insoweit bestehe kein Rechtschutzinteresse der Klägerin (vgl. Schluss-
vortrag vom 19. August 2019 N. 5, 130). Dieser Argumentation kann nicht
gefolgt werden. Die Klägerin äussert sich in ihrem Rechtsbegehren nicht
zu den möglichen Vertriebswegen, deren Benutzung der Beklagten verbo-
ten werden soll. Vielmehr soll der Beklagten der kennzeichenmässige Ge-
brauch der in Rechtsbegehren Ziff. 1 genannten Zeichen verboten werden.
Darin liegt der entscheidende Unterschied zum Bundesgerichtsurteil
4A_22/2019 vom 23. Mai 2019, in welchem die klagende Partei der beklag-
ten Partei verbieten wollte, die Tätigkeit als Detail- oder Versandhändlerin
in der Schweiz aufzunehmen.16
1.3.3.3. Vertrieb von Marken von Drittherstellern
Das klägerische Rechtsbegehren Ziff. 1 erfasst auch den Gebrauch des
Zeichens "Luminarte" im Zusammenhang mit dem Verkauf bzw. Handel
von Leuchten und/oder Leuchtmitteln, die von Dritten hergestellt wurden
und mit deren eigenen Marken gekennzeichnet sind, also den eigentlichen
Handel mit Drittmarkenprodukten. Da die Beklagte unbestrittenermassen
einen solchen Handel betreibt (vgl. Duplik N. 4), verfügt die Klägerin dies-
bezüglich über ein entsprechendes Rechtsschutzinteresse.
1.3.3.4. Kennzeichnung von eigenen Leuchten und Leuchtmitteln
Es spricht nichts dafür, im vorliegenden Kontext zwischen dem Vertrieb von
Waren Dritter und dem Vertrieb eigener Leuchten zu differenzieren. Die
massgeblichen Verkehrskreise nehmen den Marktauftritt der Beklagten als
Webshop für Leuchten, Leuchtmittel und Beleuchtungszubehör wahr. Ob
das Sortiment der Beklagten einzig Produkte von Drittmarken oder darüber
hinaus auch Eigenmarken enthält, ist für die massgebende Wahrnehmung
nicht von entscheidender Bedeutung. Daher ist entgegen den Vorbringen
der Beklagten ein Rechtsschutzinteresse nicht bereits deshalb zu vernei-
nen, weil die Beklagte bis anhin noch keine Waren ohne Kennzeichnung
Dritter beworben oder veräussert hat. Auch diesbezüglich ist ein Rechts-
schutzinteresse zu bejahen.
1.3.3.5. Zwischenfazit
Die Klägerin verfügt hinsichtlich Rechtsbegehren Ziff. 1 über ein genügen-
des Rechtsschutzinteresse.
1.4. Stufenklage
Mit Rechtsbegehren Ziff. 2 und 3 ersucht die Klägerin um finanzielle Wie-
dergutmachung in Form einer Stufenklage (Art. 85 Abs. 2 ZPO).
1.4.1. Parteibehauptungen
Die Klägerin macht im Wesentlichen geltend, sie fordere von der Beklagten
mittels Rechtsbegehren Ziff. 3 finanzielle Wiedergutmachung in Form von
16 BGer 4A_22/2019 vom 23. Mai 2019 Sachverhalt B.a.
- 19 -
Schadenersatz oder der Herausgabe von unrechtmässig erwirtschafteten
Gewinn (Klage N. 200). Da sich der Anspruch auf finanzielle Wiedergutma-
chung im Wesentlichen auf den Umsatz der Beklagten stütze, könne das
Rechtsbegehren ohne Auskunftserteilung durch die Beklagte nicht beziffert
werden (Klage N. 61, 199, 203). Zur Schätzung des Mindeststreitwerts
gehe die Klägerin davon aus, dass rund 1⁄3 der Abnehmer durch die von der
Beklagten geschaffene Verwechslung gelenkt würden und so bei der Be-
klagten einkauften. Bei einem geschätzten Nettoerlös von Fr. 8 bis 10 Mio.,
der schätzungsweise zu 60 % mit Schweizer Kunden erzielt werde, betrage
der relevante Gewinnumsatz der Beklagten zwischen Fr. 4.8 und 6 Mio.
(Mittelwert Fr. 5.4 Mio.). Der Marktanteil der Klägerin belaufe sich in der
Deutschschweiz auf ca. 22 %, womit das ihr entgangene Gesamtvolumen
Fr. 1.19 Mio. pro Jahr betrage. Der entgangene Umsatz belaufe sich daher
auf F. 0.357 Mio. jährlich und erhöhe sich pro Jahr aufgrund des Wachs-
tums des Online-Handels um 20 %. In den Jahren 2014 bis 2018 sei der
Klägerin daher ein Umsatz von Fr. 2.65 Mio. respektive ein Gewinn von
etwa Fr. 1.46 Mio. entgangen (zum Ganzen Klage N. 61 ff; Replik N. 243,
541).
Die Beklagte bestreitet demgegenüber insbesondere die von der Klägerin
vorgenommene Schadensschätzung (Klageantwort N. 92-97) und führt
aus, es sei unverständlich, wieso die Klägerin nicht die Fr. 1.46 Mio. ein-
klage, sondern eine Stufenklage erhebe. Eine Bezifferung ihres finanziellen
Ausgleichsanspruchs sei ihr möglich, sodass auf die Stufenklage nicht ein-
zutreten sei (Klageantwort N. 98, 287). Sodann habe sie, die Beklagte, die
Umsätze mit Schweizer Kunden bis Mitte des Jahres 2016 offengelegt und
auch in den Geschäftsjahren 2016/2017 und 2017/2018 habe der jährliche
Umsatz weniger als EUR 2 Mio. betragen (Klageantwort N. 65, Duplik
N. 365).
1.4.2. Rechtliches
Nach Art. 9 Abs. 3 UWG kann der durch unlauteren Wettbewerb Verletzte
nach Massgabe des OR vom Schädiger Schadenersatz und Genugtuung
sowie Herausgabe eines Gewinnes entsprechend den Bestimmungen über
die Geschäftsführung ohne Auftrag (Art. 419 ff. OR) verlangen.
Die Erschwernisse, die sich dem Geschäftsherrn im Streit um den Nach-
weis der finanziellen Ansprüche in den Weg stellen und zu deren Bewälti-
gung gegebenenfalls die ermessensweise Schätzung nach Massgabe von
Art. 42 Abs. 2 OR ins Spiel kommt, rühren oft daher, dass der Geschäfts-
herr ohne eigenes Verschulden den Umsatz respektive den Umfang des
Gewinns des Schädigers gar nicht kennt und den diesbezüglichen Beweis
praktisch nur erbringen kann, wenn der Schädiger über den von ihm erziel-
ten Umsatz respektive Gewinn Auskunft und Rechnungslegung gewährt. In
der Lehre wird deshalb angenommen, die geschädigte Person verfüge ge-
- 20 -
genüber dem Schädiger über einen Anspruch auf Auskunft und Rech-
nungslegung, der seine gesetzliche Grundlage wohl in Art. 2 Abs. 1 ZGB
findet.17 Es steht dem Kläger frei, seinen Auskunftsanspruch im Rahmen
einer Stufenklage (Art. 85 ZPO) geltend zu machen, die das Auskunftsbe-
gehren mit einem ganz oder teilweise unbezifferten Leistungsbegehren ver-
bindet.18
Es muss der klagenden Partei dabei insbesondere unmöglich19 oder unzu-
mutbar sein, ihre Forderung bereits bei Klageanhebung zu beziffern.20 Die
Bezifferung ist unmöglich, wenn die klagende Partei die Höhe ihres An-
spruchs nicht kennen kann, da diese von Tatsachen abhängig ist, über die
sie nicht selbst verfügt, somit im Einflussbereich eines Dritten oder der be-
klagten Partei liegt.21 Darüber hinaus ist die Bezifferung insbesondere un-
zumutbar, wenn die klagende Partei zur Erlangung der zur Bezifferung not-
wendigen Unterlagen zuvor ein selbständiges Verfahren zu durchzulaufen
hätte.22 Die unbezifferte Forderungsklage dient damit der Prozessökono-
mie.23 Die Unmöglichkeit resp. Unzumutbarkeit muss sich auf die Forde-
rungsbezifferung beziehen. Besteht diesbezüglich kein Informationsdefizit,
kann von vornherein weder eine Unmöglichkeit noch eine Unzumutbarkeit
vorliegen, womit die Klage von Beginn weg zu beziffern ist.24 Sie muss da-
bei einen Mindestwert angeben, der als vorläufiger Streitwert gilt.25 Die For-
derung ist zu beziffern, sobald die klagende Partei nach Abschluss des Be-
weisverfahrens oder nach Auskunftserteilung durch die beklagte Partei
dazu in der Lage ist (Art. 85 Abs. 2 ZPO).
1.4.3. Würdigung
Die Gutheissung von Rechtsbegehren Ziff. 1 setzt ein unlauteres Verhalten
der Beklagten voraus. Entsprechend kann die Klägerin bei Gutheissung
von Rechtsbegehren Ziff. 1 in Anwendung von Art. 9 Abs. 3 UWG Scha-
17 Zum Ganzen je m.w.N.: DIKE UWG-DOMEJ, 2018, Art. 9 N. 108; BSK UWG-RÜETSCHI/ROTH
(Fn. 13), Art. 9 N. 134; SHK UWG-SPITZ (Fn. 13), Art. 9 N. 239 f. 18 BGE 143 III 297 E. 8.2.5.2. 19 BGE 123 III 140 E. 2c: "Der Hilfsanspruch auf Auskunftserteilung oder Rechnungslegung setzt den
Kläger überhaupt erst in die Lage, seine Forderung zu beziffern." 20 BAECHLER, Die Stufenklage, sic! 1/2017, S. 1. 21 GUT, Die unbezifferte Forderungsklage nach Schweizerischer Zivilprozessordnung, 2014, N. 116
m.w.V.; KRAUSKOPF/WIRZ, Rechtsbegehren im Haftpflichtrecht, in: Kostkiewicz/Markus/Rodriguez (Hrsg.), Die Rechtsfragen im Zivilverfahren: Theoretische Fragen, praktische Antworten, 2017, S. 45; BOPP/BESSENICH, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, 3. Aufl. 2016, Art. 85 N. 12; vgl. auch BGer 4A_36/2009 vom 27. Februar 2009 E. 3.1.
22 KRAUSKOPF/WIRZ (Fn. 21), S. 45; GUT (Fn. 21), N. 117. 23 BOPP/BESSENICH (Fn. 21), Art. 85 N. 13; vgl. auch BSK ZPO-DORSCHER, 3. Aufl. 2017, Art. 85 N. 8,
wonach das Risiko der Einklagung eines falschen Betrags massgebend sei. 24 BAUMANN WEY, Die unbezifferte Forderungsklage nach Art. 85 ZPO, 2013, N. 426 f.; HGer ZH,
HG140244 vom 20. April 2016 E. 3.4.1. 25 BGE 140 III 409 E. 4.3.1.
- 21 -
denersatz, Genugtuung sowie die Herausgabe eines Gewinns der Beklag-
ten verlangen. Gegenstand dieses finanziellen Ausgleichsanspruchs bildet
die klägerische Stufenklage (Rechtsbegehren Ziff. 2 und 3 der Replik).
Die Erhebung der Stufenklage ist vorliegend zulässig. Einerseits verfügt die
Klägerin hinsichtlich ihrer finanziellen Ausgleichsansprüche praxisgemäss
über einen materiell-rechtlichen Auskunftsanspruch. Andererseits ist es ihr
entgegen der Beklagten weder möglich noch zumutbar, ihren finanziellen
Anspruch bereits zu beziffern. Zwar hat die Beklagte die mit Schweizer
Kunden erzielten Umsätze vom 1. Januar 2003 bis 30. Juni 2016 offenge-
legt (Klageantwort N. 65). Die Angabe der Umsatzzahlen der Beklagten ist
zwar eine wichtige Berechnungsgrundlage für den behaupteten Schaden-
ersatz-, Gewinnherausgabe- oder Bereicherungsanspruch. Jedoch ist die
Offenlegung der Umsatzzahlen nicht hinreichend. Notwendig erscheint ei-
nerseits die Offenlegung der Anzahl der Leuchten und Leuchtmittel, die in
den Jahren 2014 bis 2018 an Abnehmer mit Wohnsitz respektive Sitz in der
Schweiz verkauft wurden. Nur mit Hilfe dieser Angabe können der Markt-
anteil, der herauszugebende Gewinn oder die Bereicherung der Beklagten
geschätzt werden. Entsprechende Zahlen hat die Beklagte jedoch bis anhin
nicht offen gelegt. Andererseits steht es der Klägerin im Anschluss an die
Auskunftserteilung und Rechnungslegung durch die Beklagte offen, wel-
chen finanziellen Anspruch sie geltend machen und somit beziffern will.26
Alleine aus den Umsatzzahlen kann der von der Beklagten erzielte Gewinn
weder beziffert noch gemäss Art. 42 Abs. 2 OR ermessensweise bestimmt
werden. Notwendig wäre hierzu die Kenntnis der von der Beklagten getä-
tigten Aufwendungen. Mangels einer Offenlegung durch die Beklagte ver-
fügt die Klägerin indes nicht über die entsprechenden Angaben. Folglich ist
die Bezifferung des Rechtsbegehrens Ziff. 3 aufgrund des aktuellen Akten-
standes sowohl unmöglich als auch unzumutbar. Da das Rechtsbegehren
Ziff. 3 überdies einen Mindeststreitwert von Fr. 1 Mio. enthält, ist auf die
Stufenklage und damit auf die Rechtsbegehren Ziff. 2 einzutreten.
1.5. Objektive Klagehäufung
Die objektive Klagehäufung ist zulässig, da das Handelsgericht für sämtli-
che Rechtsbegehren zuständig ist und diese im ordentliche Verfahren zu
beurteilen sind (Art. 90 ZPO).27
1.6. Zwischenfazit
Da sämtliche Prozessvoraussetzungen vorliegen, ist auf die Rechtsbegeh-
ren Ziff. 1, 2 und 4 einzutreten.
26 SHK UWG-SPITZ (Fn. 13), Art. 9 N. 241; BSK UWG-RÜETSCHI/ROTH (Fn. 13), Art. 9 N. 134; ähnlich
wohl BGer 4C.384/2006 vom 1. März 2007 E. 2.1 (nicht publiziert in BGE 133 III 273). 27 Vgl. auch BGE 142 III 788 E. 4.2.
- 22 -
2. Replik- und Novenrecht
In der vorliegenden Streitsache trat der Aktenschluss mit Erstattung der
Duplik ein. Sowohl die Klägerin als auch die Beklagte haben von ihrem un-
bedingten Replikrecht Gebrauch gemacht.
Die Parteien haben gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 29 Abs. 1 und
2 BV das Recht, zu jeder Eingabe der Gegenpartei Stellung zu nehmen,
und zwar unabhängig davon, ob diese neue und erhebliche Gesichtspunkte
enthält.28 Diesbezüglich ist aber klarzustellen, dass es bei der Zeitdauer,
während der das Gericht die allfällige Wahrnehmung dieses sog. unbeding-
ten Replikrechts abwarten muss, nicht darum geht, dass eine nach einer
solchen Zeitspanne eingegangene nachträgliche Eingabe vom Gericht
nicht mehr berücksichtigt werden dürfte. Eine Partei, der eine Eingabe der
Gegenseite mit Hinweis auf den Aktenschluss zur Wahrung dieses Replik-
rechts zugestellt wird, weiss damit regelmässig, dass das Gericht die Sa-
che als spruchreif erachtet; sie geht damit das Risiko eines raschen Ent-
scheids ein. Aus dem Umstand aber, dass ein Gericht nach Ablauf dieser
Dauer zu urteilen berechtigt ist, ohne sich dem Vorwurf einer Gehörsverlet-
zung auszusetzen, kann nicht umgekehrt abgeleitet werden, dass nach
dem fraglichen Zeitpunkt, aber vor der Urteilsfällung eintreffende Stellung-
nahmen generell zufolge Verspätung unberücksichtigt zu bleiben hätten.29
Nach Eintritt des Aktenschlusses können neue Tatsachen und Beweismit-
tel nur noch unter den Voraussetzungen von Art. 229 Abs. 1 ZPO vorge-
bracht werden.30 Eine Tatsache ist neu, wenn sie ein Sachverhaltselement
erstmals einführt. Wird ein bereits eingeführtes Sachverhaltselement hin-
gegen bloss klargestellt, ist es nicht neu. Jedoch sind Vorbringen neu, die
dem Nachsubstantiieren dienen, wenn die Partei ein substantiiertes Be-
haupten oder Bestreiten zuvor unterlassen hat.31 Die Verspätung ist ent-
schuldbar, wenn der betroffenen Partei keine Nachlässigkeit bei der Be-
hauptungs- oder Beweisführungslast vorzuwerfen ist. Das Mass der zumut-
baren Sorgfalt ist aus der Sicht vor dem Aktenschluss und nicht ex post zu
bewerten.32 Es gilt ein objektiver Massstab.33 Es obliegt der Partei, die das
Novenrecht beansprucht, darzutun, inwiefern die Verspätung entschuldbar
ist.34 Ohne Verzug sind Noven vorgebracht, wenn sie unverzüglich nach
der Entdeckung in den Prozess eingebracht werden.35 Gemäss der han-
delsgerichtlichen Praxis sind Noven im ordentlichen Verfahren innert kurzer
28 BGE 144 III 117 E. 2.1; BGE 138 I 154 E. 2.3.3 m.w.N. 29 BGer 4A_61/2017 vom 31. August 2017 E. 6.2.2. 30 LEUENBERGER, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Hrsg.), Kommentar zur Schweizeri-
schen Zivilprozessordnung, 3. Aufl. 2016, Art. 229 N. 4a. 31 BSK ZPO-WILLISEGGER, 3. Aufl. 2017, Art. 229 N. 16. 32 LEUENBERGER (Fn. 30), Art. 229 N. 8. 33 BSK ZPO-WILLISEGGER (Fn. 31), Art. 229 N. 32. 34 BSK ZPO-WILLISEGGER (Fn. 31), Art. 229 N. 33; vgl. LEUENBERGER (Fn. 30), Art. 229 N. 10. 35 LEUENBERGER (Fn. 30), Art. 229 N. 9.
- 23 -
Frist (praxisgemäss 10 Tage)36 und – falls sie nicht erst unmittelbar vor der
Hauptverhandlung entstehen – noch vor Durchführung der Hauptverhand-
lung mittels Noveneingabe in das Verfahren einzubringen.37 Ob das Erfor-
dernis des Vorbringens "ohne Verzug" mit Bezug auf eine bestimmte Ein-
gabe eingehalten ist, ist letztlich jedoch in Würdigung der Umstände des
konkreten Einzelfalls zu beurteilen. Allgemein ist immerhin festzuhalten,
dass nach der Entdeckung von Noven nicht einfach zugewartet werden
darf, bis die Gegenpartei eine Eingabe macht, worauf im Rahmen des Rep-
likrechts zu dieser Eingabe Stellung genommen wird.
Ob die von den Parteien aufgestellten Tatsachenbehauptungen und offe-
rierten Beweismittel im Einzelnen zu berücksichtigen oder verspätet erfolgt
sind, ist eine Frage des Novenrechts. Soweit die nach Aktenschluss getä-
tigten Tatsachenbehauptungen und eingereichten Beweismittel Ent-
scheidrelevanz aufweisen, ist darauf zurückzukommen.
3. Anwendbares Recht
Weil ein internationales Verhältnis vorliegt, ist vorab das anwendbare Recht
zu bestimmen. Die zu beurteilenden namens- und lauterkeitsrechtlichen
Ansprüche sind nach schweizerischem Recht zu beurteilen (Art. 136 Abs. 1
und Art. 157 Abs. 2 IPRG).
4. Massgebende Verkehrskreise / Aufmerksamkeit
Die Klägerin ist durch ihre Geschäftssparte "Lumimart" Betreiberin von
Fachmärkten für Beleuchtungskörper und -geräte. Neben Fachgeschäften
bieten vor allem Möbelhäuser (beispielsweise C.) und Warenhäuser
(z.B. D.), die sich ans allgemeine Publikum richten, Beleuchtungskörper
und Beleuchtungsgeräte zum Kauf an. Entsprechend ist davon auszuge-
hen, dass die Durchschnittsverbraucher bzw. das allgemeine Publikum die
massgeblichen Verkehrskreise bilden. Beleuchtungskörper und Beleuch-
tungsgeräte sind keine Massenartikel des täglichen Bedarfs (wie z.B. Le-
bensmittel). Verglichen mit solchen werden sie mit einem höheren Grad an
Aufmerksamkeit gekauft. Da es sich in aller Regel ebenfalls nicht um Lu-
xusgüter handelt, ist von einer durchschnittlichen Aufmerksamkeit auszu-
gehen. Daher nehmen die massgebenden Verkehrskreise die Zeichen von
physischen Verkaufslokalen und Onlineshops, welche Leuchten und
Leuchtmittel vertreiben, ebenfalls mit einer durchschnittlichen Aufmerk-
samkeit wahr.
5. Anwendbarkeit des Lauterkeitsrechts
Die sachliche Anwendbarkeit des UWG setzt voraus, dass eine Wettbe-
werbshandlung vorliegt. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist
36 Vgl. Merkblatt des Handelsgerichts, abrufbar unter: <https://www.ag.ch/media/kanton_aar-
gau/jb/dokumente_6/obergerichte/handelsgericht/Merkblatt_Handelsgericht.pdf> (letztmals besucht am 31. März 2020).
37 Vgl. auch LEUENBERGER (Fn. 30), Art. 229 N. 9 m.w.N.; ZR 2014 Nr. 54, S. 176.
- 24 -
ein auf den Wettbewerb gerichtetes, marktrelevantes Verhalten notwen-
dig.38 Dazu ist eine Tätigkeit ausserhalb der rein privaten Sphäre voraus-
gesetzt, die als wirtschaftsrelevant bezeichnet werden kann.39
Die Beklagte verkauft unter anderem via ihren Webshop, welcher über die
Domains "www.luminarte.de" und "www.luminarte.ch" erreichbar ist, Lam-
pen, Leuchten und Leuchtmittel auf dem schweizerischen Markt. Diese
Handlung ist auf den Wettbewerb gerichtet und daher marktrelevant. Das
UWG ist sachlich anwendbar.
6. Art. 3 Abs. 1 lit. d UWG
6.1. Übersicht
Nach Art. 3 Abs. 1 lit. d UWG handelt unlauter, wer Massnahmen trifft, die
geeignet sind, Verwechslungen mit den Waren, Werken, Leistungen oder
dem Geschäftsbetrieb eines anderen herbeizuführen. Unter diesen auch
als wettbewerbsrechtlichen Kennzeichenschutz bezeichneten Tatbestand
fallen sämtliche Verhaltensweisen, bei denen das Publikum durch die
Schaffung von Verwechslungsgefahr irregeführt wird, insbesondere um
den Ruf der Wettbewerber auszubeuten.40 Ob eine lauterkeitsrechtliche
Verwechslungsgefahr besteht, ist dabei hinsichtlich eines konkreten Wett-
bewerbsverhaltens zu bestimmen.41 Bezugspunkt der Irreführung nach
Art. 3 Abs. 1 lit. d UWG ist die betriebliche Herkunft eines Produkts oder
die Identität eines Geschäftsbetriebs.42
6.2. Aktiv- und Passivlegitimation
6.2.1. Parteibehauptungen
Zur Aktiv- und Passivlegitimation führt die Klägerin aus, die Beklagte be-
werbe und vertreibe in der Deutschschweiz Lampen und Leuchten. Sie
trete daher in direkte Konkurrenz mit der Klägerin und beeinträchtige diese
in ihren wirtschaftlichen Interessen. Daher liege die Aktiv- und Passivlegiti-
mation auf der Hand (Klage N. 71).
Die Beklagte bestreitet die Aktivlegitimation der Klägerin, da keine Verlet-
zung von Art. 3 Abs. 1 lit. d UWG vorliege (Klageantwort N. 153; Duplik
N. 376).
38 BGE 124 III 297 E. 5d m.w.N. 39 Vgl. DAVID/JACOBS, Schweizerisches Wettbewerbsrecht, 5. Aufl. 2012, N. 24. 40 BGE 140 III 297 E. 7.2.1; 135 III 446 E. 6.1; 128 III 353 E. 4; 126 III 239 E. 3a; BGer 4A_567/2008
vom 23. Februar 2009 E. 5.1; 4A_103/2008 vom 7. Juli 2008 E. 6; 4C.439/2006 vom 4. April 2007 E. 6.1; 4P.222/2006 vom 21. Dezember 2006 E. 3.1.
41 BGE 129 III 353 E. 3.3. 42 BGer 4C.332/2006 vom 20. Dezember 2006 E. 2.3; BAUDENBACHER/CASPERS, in: BAUDENBACHER,
Lauterkeitsrecht, 2001, Art. 3 lit. d N. 4.
- 25 -
6.2.2. Rechtliches
Nach Art. 9 Abs. 1 UWG ist klageberechtigt, wer durch unlauteren Wettbe-
werb in seiner Kundschaft, seinem Kredit oder beruflichen Ansehen, in sei-
nem Geschäftsbetrieb oder sonst in seinen wirtschaftlichen Interessen be-
droht oder verletzt wird.
Aktivlegitimiert sind Rechtssubjekte, die selbst am wirtschaftlichen Wettbe-
werb beteiligt sind und eigene wirtschaftliche Interessen geltend machen.43
Zentral ist somit die eigene Teilnahme am wirtschaftlichen Wettbewerb, zu
dessen Schutz das Klagerecht in Anspruch genommen wird.44 Erforderlich
ist ein unmittelbares Interesse daran, die eigene Stellung im Wettbewerb
mit dem Erfolg der Klage abzusichern oder zu verbessern.45 Von der Klage
ausgeschlossen sind somit all jene, deren Interessen sich darin erschöp-
fen, vom Wettbewerbserfolg eines Dritten profitieren zu können.46 Eine di-
rekte Konkurrenzsituation zwischen der klagenden und beklagten Partei ist
jedoch nicht vorausgesetzt; es genügt jede Verschlechterung der eigenen
Stellung im Wettbewerb.47
6.2.3. Würdigung
Die Klägerin betreibt diverse Fachmärkte für Leuchten und Leuchtmittel un-
ter dem Kennzeichen "Lumimart" in der Schweiz. Daneben ist sie Betreibe-
rin der Domain "www.lumimart.ch", über welche ein auf die Schweiz aus-
gerichteter Webshop für Leuchten und Leuchtmittel zugänglich ist (vgl.
Klage N. 15 f, 21). Die Klägerin nimmt demnach am Schweizer Markt für
Leuchten und Leuchtmittel teil und macht eigene wirtschaftliche Interessen
geltend. Die Beklagte ist Betreiberin der Domains "www.luminarte.de" und
"www.luminarte.ch", über welche unter anderem ein auf den Schweizer
Markt ausgerichteter Webshop für Leuchten und Leuchtmittel zugänglich
ist (vgl. KB 9, 154). Beide Parteien sind somit Teilnehmer am Schweizer
Markt für Leuchten und Leuchtmittel und stehen in einem Wettbewerbsver-
hältnis. Entsprechend sind sie aktiv- bzw. passivlegitimiert.
43 BGE 126 III 239 E. 1a; 123 III 395 E. 2a; BSK UWG-RÜETSCHI/ROTH, 2013, Art. 9 N. 4 f; BORER,
§ 13 Zivil- und strafrechtliches Vorgehen, in Geiser/Krauskopf/Münch (Hrsg.), Handbücher für die Anwaltspraxis: Schweizerisches und europäisches Wettbewerbsrecht, Bd. IX, 2005, N. 13.05; PEDRAZZINI/PEDRAZZINI, Unlauterer Wettbewerb UWG, 2. Aufl. 2002, N. 16.08.
44 SHK UWG-SPITZ, 2. Aufl. 2016, Art. 9 N. 9 u. 13; BSK UWG-RÜETSCHI/ROTH (Fn. 43), Art. 9 N. 4 f.; RAUBER, Lauterkeitsrecht, SIWR V/1, 3. Aufl. 2020, S. 420, 424 ff.; BAUDENBACHER/GLÖCKNER, , 2001, Art. 9 N. 305.
45 BGE 126 III 239 E. 1a; 112 II 369 E. 5a; 90 IV 39 E. 1; BSK UWG-RÜETSCHI/ROTH (Fn. 43), Art. 9 N. 4; CHK UWG-FERRARI HOFER/VASELLA, 3. Aufl. 2016, Art. 9-15 N. 9; PEDRAZZINI/PEDRAZZINI (Fn. 43), N. 16.08.
46 RAUBER (Fn. 44), S. 425 f.; ähnlich CHK UWG-FERRARI HOFER/VASELLA (Fn. 45), Art. 9-15 N. 9. 47 BGE 121 III 168 E. 3b.aa; BGer 4A_467/2007 und 4A_469/2007 vom 8. Februar 2008 E. 4.1; SHK
UWG-SPITZ (Fn. 44), Art. 9 N. 13; BSK UWG-RÜETSCHI/ROTH (Fn. 43), Art. 9 N. 6; CHK UWG- HOFER/VASELLA (Fn. 45), Art. 9-15 N. 9.
- 26 -
6.3. Individualisierender Marktauftritt der Klägerin
6.3.1. Parteibehauptungen
Die Klägerin führt aus, sie verwende die Bezeichnung "Lumimart" für ihren
Marktauftritt als Anbieterin von Leuchten und Leuchtmitteln in Form der
Marke CH2P-434 099 (bis September 2018) resp.
(seit September 2018), als Bezeichnung ihrer Geschäftssparte und deren
33 Verkaufsstandorte sowie in Form des Domainnamens "lumimart.ch".
Daher liege ihrerseits ein individualisierender Marktauftritt vor (Klage N. 83;
Replik N. 386).
Die Beklagte bestreitet, dass die Klägerin das Zeichnen "Lumimart" in der
Form der Marke CH 2P-434099 noch (lange) weiterhin gebrau-
chen würde, zumal die Klägerin ihr Logo geändert habe und seit September
2018 das Logo für ihr Zeichen "Lumimart" benütze (Klageant-
wort N. 175).
6.3.2. Rechtliches
Laut Art. 3 Abs. 1 lit. d UWG handelt insbesondere unlauter, wer Massnah-
men trifft, die geeignet sind, Verwechslungen mit den Waren, Werken, Leis-
tungen oder dem Geschäftsbetrieb eines anderen herbeizuführen. Durch
diesen Artikel werden auch Geschäftsbezeichnungen geschützt, sofern sie
(originäre oder auf dem Weg der Verkehrsdurchsetzung erlangte) Kenn-
zeichnungskraft haben.48
6.3.3. Würdigung
Der unbestrittene Zeichenauftritt der Klägerin umfasst die Führung von
Fachmärkten für Leuchten, Leuchtmittel und Beleuchtungszubehör unter
der Bezeichnung "Lumimart" sowie den Betrieb der Domain "www.lumim-
art.ch". Damit benützt die Klägerin ein Kennzeichen, welches die Individu-
alisierung des klägerischen Marktauftrittes ermöglicht.
Ob der klägerische Marktauftritt unter dem Logo (bis Septem-
ber 2018) oder dem Logo (ab September 2018) erfolgt, ist vor-
liegend ohne Belang. Dieser Themenbereich wird anlässlich des Tatbe-
standselements der Gebrauchspriorität aufzunehmen sein (E. 6.6.3.4 hier-
nach). Da die Klägerin mit den prozessgegenständlichen Zeichen auf dem
Markt auftritt, ist es vorliegend entgegen der Beklagten nicht massgebend,
ob die Klägerin "Lumimart" als Teil von "E." vermarktet oder nicht (vgl. N. 42
der Noveneingabe vom 25. März 2019; N. 72 der Noveneingabe vom
23. April 2019).
48 SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER, 2. Aufl. 2016, Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 51; BURI, Die Ver-
wechselbarkeit von Internet Domain Names, 2000, S. 137; TROLLER, Kollisionen zwischen Firmen, Handelsnamen und Marken, 1980, S. 168 f.
- 27 -
6.4. Schutzfähiger Marktauftritt der Klägerin
6.4.1. Übersicht
Ein schutzfähiger Marktauftritt setzt zum einen eine originäre oder deriva-
tive Kennzeichnungskraft und zum anderen eine schutzwürdige Marktposi-
tion der Klägerin voraus.49 Der Schutz des Zeichens "Lumimart" vor mögli-
chen Verwechslungen nach Art. 3 lit. d UWG setzt folglich voraus, dass
dem Zeichen Kennzeichnungskraft zukommt, sei es originär, indem das
Zeichen dank seiner Originalität von Anfang an auf einen bestimmten
Marktteilnehmer hinweist, sei es derivativ, indem das Zeichen als nicht ori-
ginelle Geschäftsbezeichnung diese individualisierende Eigenschaft als
Folge seiner Durchsetzung im Verkehr erlangt hat.50
6.4.2. Originäre Kennzeichnungskraft
6.4.2.1. Parteibehauptungen
6.4.2.1.1. Klägerin
Gemäss klägerischer Ausführungen verfügen die Zeichen "Lumimart" und
über originäre Kennzeichnungskraft (Klage N. 85 f.). Die durch-
schnittliche originäre Kennzeichnungskraft (Klage N. 93) begründet sie ins-
besondere mit den folgenden Argumenten:
(1) Das Zeichen sei als Marke eingetragen. Es sei gerichts-
notorisch, dass das IGE bei beschreibenden Marken eine strenge
Praxis verfolge und diese in der Regel beanstande. Dass das Zei-
chen "Lumimart" nicht als Wortmarke eingetragen sei, könne der
Klägerin nicht zum Nachteil gereichen. Es sei jedem Marktteilneh-
mer frei, die Marken seiner Wahl eintragen zu lassen (Replik
N. 388);
(2) Beim Begriff "Lumimart" handle es sich um eine Wort-Neuschöp-
fung, welche massgeblich vom Gewohnten und Erwarteten abwei-
che und somit Originalität aufweise. Weiter verfüge der Begriff über
eine Einprägsamkeit. So würden Konsumenten in Anbetracht des
Zeichens nicht ohne jeglichen Denkaufwand eine unmittelbare und
konkrete Verbindung zu unter dem Zeichen "Lumimart" angebote-
nen Waren oder deren Anbieter herstellen (Klage N. 93; Replik
N. 398);
(3) Beim Wortteil "lumi" handle es sich um einen unbestimmten Begriff.
Der durchschnittliche Schweizer Abnehmer könne sich unter dem
Wortbestandteil "lumi" nichts Konkretes oder gar etwas Leuchten-
des vorstellen (Klage N. 87-89; Replik N. 390, 392). Abgesehen da-
von, dass dem Schweizer Durchschnittspublikum keine Latein-
kenntnisse unterstellt werden können, werde die Angabe der Licht-
stärke in der Regel durch die Abkürzung "lm" angegeben. Selbst
wenn die Konsumenten wüssten, welcher Begriff sich hinter dieser
49 BGE 135 III 446 E. 6.2. 50 BGE 135 III 446 E. 6.2.
- 28 -
Abkürzung verberge, sei dem Schweizer Durchschnittspublikum
nicht klar, dass "Lumen" auf die Lichtstärke einer Glühbirne hin-
weise (Replik N. 391). Aus der von der Beklagten erwähnten Schut-
zunfähigkeit des Zeichens "luminous" würden sich zudem keine all-
gemeinen Implikationen zum beschreibenden Charakter des Be-
standteils "lumi" ergeben, zumal es sich beim Begriff "luminous" um
ein lexikalisch erfasstes, englisches Wort handle (Replik N. 393).
Selbst wenn in Anbetracht des Wortbestandteils "lumi" gewisse As-
soziationen geweckt würden, würde dies nicht ausreichen, um einen
beschreibenden Charakter zu bejahen (Replik N. 395);
(4) Sodann verfügten zahlreiche im Schweizer Markenregister einge-
tragene Drittmarken über einen Bestandteil "lumi", was gegen des-
sen beschreibenden Charakter spreche (Klage N. 92 m.V.a. KB 168
S. 2). Insbesondere die eingetragenen Marken "LumiSheet" und
"Luminsaqua" zeigten, dass aufgrund des kennzeichnungskräftigen
Bestandteils "lumi" und des kennzeichnungskräftigen Gesamtein-
drucks eine Eintragung erfolgt sei. Denn "Sheet" sie das englische
Wort für "Blatt" oder "Platte", währenddem der Begriff "aqua" ein-
deutig auf Wasser hinweise (Replik N. 401);
(5) Sodann handle es sich gemäss der Prüfungshilfe des IGE bei "lumi"
um einen unbestimmten Rechtsbegriff für sämtliche Nizzaklassen
(KB 172) (Replik N. 402);
(6) Die von der Beklagten geltend gemachte Verwässerung der origi-
nären Kennzeichnungskraft werde bestritten. Der absolute Grossteil
dieser Marken weise den Bestandteil "smart" oder den Namen "Mar-
tin" auf. Die wenigen Marken, welche tatsächlich den Bestandteil
"mart", ähnlich dem klägerischen Zeichen, enthalten würden, seien
in sonstiger Hinsicht komplett unähnlich. Schliesslich seien die auf-
geführten Marken grösstenteils nicht in Klasse 11 geschützt (Replik
N. 405 f.). Weiter habe die Beklagte einzig den Gebrauch der Marke
"Lumilux" glaubhaft gemacht (Replik N. 408);
(7) Des Weiteren verwende die Klägerin das Logo . Der
Bildbestandteil des Zeichens bestehe aus der Abbildung einer Glüh-
birne und ihrem Lichtkegel. Diese Abbildung sei für Leuchten als
beschreibend zu qualifizieren und habe daher kaum Einfluss auf die
Kennzeichnungskraft des Zeichens. Ein solcher wäre höchstens für
das Rechteck und die Farbe Blau zu bejahen. Da der Gesamtein-
druck in jedem Fall durch den Wortbestandteil geprägt werde, liege
ebenfalls eine durchschnittliche ursprüngliche Kennzeichnungskraft
vor (Klage N. 95; Replik N. 412). Folglich werde die Behauptung der
Beklagten, die Kennzeichnungskraft des Logos bestehe
aufgrund der graphischen Elemente, bestritten (Replik N. 414);
(8) Der Logowechsel habe den Marktauftritt der Klägerin unter dem Zei-
chen "Lumimart" nicht verändert. Ebenso seien die Logos vom
- 29 -
Wortbestandteil "Lumimart" geprägt. Schliesslich sähen sich das
alte und das neue Logo äusserst ähnlich (Replik N. 410). Beim
neuen Logo handle es sich um eine modernisierte Version des alten
Logos, welches vom Betrachter auch sofort so wahrgenommen
werde. Auch beim neuen Logo würden die graphischen Elemente
stark in den Hintergrund treten und der Gesamteindruck werde vom
Wortbestandteil geprägt (Replik N. 411).
Schliesslich komme dem Domainnamen "lumimart.ch" ebenfalls originäre
Kennzeichnungskraft zu, da er nicht beschreibend, sondern originell und
einprägsam sei (Klage N. 101; Replik N. 421).
6.4.2.1.2. Beklagte
Die Beklagte bestreitet die originäre Kennzeichnungskraft der Zeichen "Lu-
mimart" sowie der Logos und aus folgenden Grün-
den (Klageantwort N. 176 ff.):
(1) Die Eintragung als Marke lasse den Schluss eines unterscheidungs-
kräftigen Zeichens nicht zu (Klageantwort N. 177);
(2) Weder die Klägerin noch die A.-Gruppe Genossenschaft habe eine
Wortmarke "Lumimart" markenrechtlich schützen lassen, was da-
rauf hindeute, dass das Zeichen im Zusammenhang mit Beleuch-
tungen und Leuchten nicht schutzfähig sein dürfte (Klageantwort
N. 187);
(3) Insbesondere sei der Begriff "Lumimart" für Waren und Dienstleis-
tungen im Zusammenhang mit Beleuchtungen und Leuchten be-
schreibend. Er weise keinerlei Originalität auf und sei keineswegs
eine Wort-Neuschöpfung (Klageantwort N. 178). Das Zeichen sei
aus zwei gemeinfreien Bestandteilen zusammengesetzt und werde
in ihrer Kombination als Lichtmarkt, Leuchtmarkt und Lampenge-
schäft verstanden. Daher sei das Zeichen beschreibend, da es den
Herkunftsort bzw. Handelsort der Waren beschreibe (Klageantwort
N. 188);
(4) Der Begriff "Lumimart" bestehe aus den beiden Elementen "Lumi"
und "mart". Der Bestandteil "Lumi" werde als Hinweis auf Licht oder
etwas Leuchtendes verstanden, so insbesondere im Französi-
schen, Englischen, Italienischen und Deutschen. Der Begriff sei auf
das lateinische Wort "lumen" zurückzuführen. Dieses werde in der
heutigen Alltagssprache benützt und habe verschiedene Bedeutun-
gen wie die SI-Einheit des Lichtstroms. Dieser Bedeutung weise im
breiten Schweizer Publikum eine erhebliche Bekanntheit auf, zumal
die Verpackungen von Leuchtmitteln nicht nur die Leistungsstärke
in Watt angeben, sondern ebenfalls in Lumen. Sodann sei der Be-
griff in Fachkreisen allgemein bekannt (Klageantwort N. 179);
Ebenso verwende die Klägerin in dem in KB 131 eingereichten
Prospekt auch das Wort "Lumen" (Duplik N. 520).
- 30 -
(5) Der Begriff "mart" stelle eine ungenügende Mutilation des Begriffs
"market" dar, welcher ohne Weiteres zum englischen Grundwort-
schatz gehöre. In Übereinstimmung mit der Klägerin sei dies als
Hinweis auf Hinweis auf Markt zu verstehen (Klageantwort N. 185).
Daher sei der Zeichenbestandteil "mart" dem schweizerischen
Durchschnittsabnehmer bekannt und deshalb nicht schutzfähig
(Klageantwort N. 186);
(6) Soweit die Klägerin auf weitere eingetragene Marken mit den Be-
standteilen "Lumi" oder "mart" hinweise, verkenne sie, dass die
Markeneintragung grundsätzlich noch nichts über die Kennzeich-
nungskraft aussage. Vielmehr sei aus der Vielzahl der geschützten
Marken auf eine naheliegende und damit beschreibende Bezeich-
nung zu schliessen (Klageantwort N. 189);
(7) Eventualiter sei die Verwässerung des Zeichens "Lumimart" durch
Drittbenutzung anzuerkennen. Der weit verbreitete Gebrauch der
Zeichenbestandteile "Lumi" und "mart" durch Dritte würden zu einer
nachträglichen Verwässerung im Zusammenhang mit Beleuchtung
und Leuchten führen (Klageantwort N. 77 ff., 190);
(8) Das Logo werde von der Klägerin seit September 2018
nicht mehr benützt. Im Zusammenhang mit dem Logo
könne sie sich nicht mehr auf die Kennzeichnungskraft des Logos
berufen (Klageantwort N. 194). Sodann sei eventualiter
davon auszugehen, dass das Logo einzig beschrei-
bende graphische Elemente beinhalte (Klageantwort N. 196).
Werde subeventualiter von einer Kennzeichnungskraft des Logos
ausgegangen, sei diese einzig auf den Bildbestandteil
und die graphische Gestaltung zurückzuführen (Klageantwort
N. 197 f.);
(9) Das neue Logo verfüge sodann über keine Kennzeich-
nungskraft. Es handle sich um ein Kästchen in blau/grüner Farbe
mit dem Wortbestandteil "Lumimart" in einer banalen Schrift in
Kleinbuchstaben und einem gelben Punkt vor dem Wortbestandteil.
Solche banalen Gestaltungselemente könnten nicht genügen, um
einem beschreibenden Zeichen Unterscheidungskraft zu verleihen.
Zudem erinnere der gelbe Punkt an einen Lichtkegel, was ebenfalls
beschreibend sei (Klageantwort N. 195).
Mit der gleichen Begründung sei sodann dem Domainnamen "lumimart.ch"
die originäre Kennzeichnungskraft abzusprechen (Klageantwort N. 205).
- 31 -
6.4.2.2. Rechtliches
Originalität, Ungewöhnlichkeit oder Eigenart liegt vor, wenn dem Durch-
schnittsabnehmer ein Zeichen aufgrund seines Gesamteindrucks als ein-
prägsam erscheint bzw. charakteristische und individualisierende Wirkung
entfaltet, indem das Zeichen dem Verkehr Hinweise auf die betriebliche
Herkunft des Produkts gibt oder auf einen bestimmten Hersteller resp.
Marktteilnehmer hinweist.51
Nicht originell sind einfache Zeichen oder beschreibende Angaben. Aller-
dings kann deren Kombination selbst wieder fantasievoll bzw. originell und
damit aufgrund Kennzeichnungskraft in ihrer Gesamtheit dennoch schutz-
fähig sein, bspw. die Kombination eines Schriftzugs mit einer mangels ei-
genartiger Gestaltung nicht kennzeichnungskräftigen Grafik.52 Dabei ist,
wie bei der Prüfung der Verwechslungsgefahr (vgl. E. 6.5 hiernach), der
Gesamteindruck der zur Diskussion stehenden Zeichen wesentlich.53 Das
Herausgreifen einzelner Elemente, d.h. die Zerlegung und isolierte Be-
trachtung einzelner Zeichen und Elemente, verbietet sich.54 Dem Gericht
steht bei der Beurteilung der originären Kennzeichnungskraft grosses Er-
messen zu.55
Dass ein Kennzeichen Gedankenassoziationen weckt oder Anspielungen
enthält, die nur entfernt auf Merkmale der Ware hinweisen, ist nicht einem
Gemeingutzeichen gleichzusetzen. Der beschreibende Charakter des Zei-
chens muss vielmehr ohne besonderen Aufwand an Fantasie zu erkennen
sein. Dabei genügt, dass dies in einem Sprachgebiet der Schweiz zutrifft.
Dass eine Angabe neuartig, ungewohnt oder fremdsprachig ist, schliesst
ihren beschreibenden Charakter nicht aus. Entscheidend ist, ob das Zei-
chen nach dem Sprachgebrauch oder den Regeln der Sprachbildung von
den beteiligten Verkehrskreisen in der Schweiz als Aussage über be-
stimmte Merkmale oder Eigenschaften der Ware oder Dienstleistung auf-
gefasst wird.56
51 Siehe BGE 135 III 446 E. 6.3.1; HOR.2010.20 vom 19. Januar 2015 E. 9.3.2 (sic! 2015, S. 400 ff.);
SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 lit. d N. 13; BSK UWG-ARPAGAUS, 2013, Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 44 je m.w.N; DIKE UWG-HEINEMANN, 2018, Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 32.
52 BGE 135 III 446 E. 6.3.1; HOR.2010.20 vom 19. Januar 2015 E. 9.3.2 (sic! 2015, S. 400 ff.); SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 lit. d N. 19 je m.w.N.
53 Vgl. BGE 135 III 446 E. 6.2 und 6.3.2; BGer 4P.222/2006 vom 21. Dezember 2006 E. 3.4.2; HGer AG HSU.2008.15 vom 3. November 2008 E. 5.2.4 (sic! 2009, S. 419 ff.).
54 BGE 135 III 446 E. 6.2; SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 lit. d N. 59; , Der lauterkeitsrechtliche Schutz von Produktausstattungen, 2015, N. 76 je m.w.N.
55 SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 lit. d N. 14 m.w.N. 56 Vgl. BGer 4A.1/2005 vom 8. April 2005 E. 2 m.w.N.
- 32 -
6.4.2.3. Würdigung Wortzeichen
6.4.2.3.1. Allgemeines
Der Marktauftritt der Klägerin besteht im Verkauf von Lampen und Leucht-
mitteln von Dritt- oder Eigenmarken. Dabei wird insbesondere das Wortzei-
chen "Lumimart" verwendet.
Das Wortzeichen "Lumimart" ist lexikalisch nicht erfasst und stellt damit
eine Wortneuschöpfung dar. Diese Tatsache schliesst aber nicht aus, dass
die massgeblichen Verkehrskreise dem Zeichen eine bestimmte Bedeu-
tung zumessen.57 Weist nämlich ein Zeichen als Einheit keinen direkt er-
kennbaren Sinngehalt auf, wird der Abnehmer versuchen, sich aus den Be-
standteilen des Zeichens einen Sinn zu erschliessen, bevor er von einem
reinen Fantasiezeichen ausgeht.58 Während sich bei Verwendung des Lo-
gos die von der Beklagten geltend gemachte Aufteilung in die
Zeichenbestandteile "Lumi" und "mart" aufgrund der Farbgestaltung auf-
drängte, ist dies weder beim Wortzeichen "Lumimart" noch beim neuen
Logo derart offensichtlich. Da die massgeblichen Verkehrs-
kreise dem Zeichen "Lumimart" mangels lexikalischer Erfassung spontan
keinen erkennbaren Sinngehalt zusprechen können, werden diese aber die
beiden Bestandteile, selbst wenn sie das Wort "Lumimart" lediglich hören,
auseinanderhalten können.
In welcher Form die Klägerin bzw. die A.-Gruppe Genossenschaft das Zei-
chen "Lumimart" schützen lässt, ist für die Beurteilung der originären Kenn-
zeichnungskraft ohne Belang. Der entsprechende Einwand der Beklagten
ist daher nicht zu hören.
6.4.2.3.2. Zeichenbestandteil "lumi"
Der Bestandteil "lumi" ist lexikalisch nicht erfasst. "lumi" ist jedoch Bestand-
teil der folgenden lexikalisch erfassten Begriffe: "luminös", "illuminieren",
die "Illumination" (Deutsch); "lumineux", "illuminer", "l'illumination" (Franzö-
sisch); "luminoso", "illuminare", "l'illuminazione" (Italienisch); "luminous", "il-
luminate", "illumination" (Englisch). Die Begriffe werden mit "leuchtend",
"be- bzw. erleuchten" und "Be- bzw. Erleuchtung" übersetzt.59 Sodann wird
das Wort "Licht" mit "lumière" (Französisch) respektive "luminoso" (Italie-
nisch) übersetzt.60
57 Vgl. BSK MSchG-STÄDELI/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 2 N. 110. 58 Siehe auch BVGer B-6927/2015 vom 8. Dezember 2016 E. 6.3 m.w.N. 59 Siehe <https://de.langenscheidt.com/englisch-deutsch/>, <https://de.langenscheidt.com/franzoe-
sisch-deutsch/>, <https://de.langenscheidt.com/deutsch-italienisch/> und <http://www..de/rechtschreibung/Bedeutungswoerterbuch>, alle zuletzt abgerufen am 31. März 2020.
60 Siehe <https://de.langenscheidt.com/deutsch-italienisch/> und <https://de.langenscheidt.com/-deutsch/>, alle zuletzt abgerufen am 31. März 2020.
- 33 -
Im Übrigen weist der Zeichenbestandteil "lumi" eine Ähnlichkeit zum latei-
nischen Wort "Lumen" auf. Zwar ist davon auszugehen, dass ein nicht un-
bedeutender Teil der Durchschnittskonsumenten keine Lateinkenntnisse
aufweisen.61 Jedoch gilt es als gerichtsnotorisch i.S.v. Art. 151 ZPO, dass
die Lichtmenge einer Glühlampe in Watt, diejenige von modernen und im
Handel erhältlichen Leuchtmittel in "Lumen" gemessen wird (vgl. auch
KB 131). Da sich die meisten Abnehmer von Leuchten im Hinblick auf die
vorgesehene Verwendung mit deren Lichtstärke resp. Helligkeit auseinan-
dersetzen dürften und diese in "Lumen" resp. der Abkürzung "lm" angege-
ben wird, ist davon auszugehen, dass der Durchschnittsabnehmer den Be-
griff "Lumen" kennt und sofort eine Assoziation mit Licht resp. Helligkeit
herstellt.
Das Bundesverwaltungsgericht ist sodann der Ansicht, das englische Wort
"luminous" werde vom durchschnittlichen Abnehmer auch deshalb i.S.v.
"leuchtend, klar, lichtvoll, brillant" verstanden, weil eine offensichtliche Ver-
wandtschaft mit dem französischen "lumineux" und dem italienischen "lu-
minoso" bestehe.62 Wohl abweichender Ansicht ist das IGE, das den Zei-
chenbestandteil "lumi" in sämtlichen Nizzaklassen als unbestimmten
Rechtsbegriff betrachtet, dem keine unmittelbare Bedeutung zukomme
(vgl. KB 172).
Auch wenn der Zeichenbestandteil "lumi" als solcher nicht lexikalisch er-
fasst ist, kann mit Blick auf dessen Sinngehalt nicht einzig auf diesen (iso-
lierten) Wortteil abgestellt werden. Der Wortteil "lumi" bildet gerade wesent-
licher Wortstamm von lexikalisch erfassten Begriffen, welche insbesondere
auf etwas (Be-)Leuchtendes resp. Licht hinweisen. Zwar sind die deut-
schen Begriffe "luminös", "illuminieren" oder die "Illumination" dem erwei-
terten Wortschatz zuzuordnen und es ist daher von einer geringen Verbrei-
tung in der Alltagssprache auszugehen. Jedoch sind die Begriffe "lumi-
neux" resp. "lumière" und "luminoso" resp. "luminoso" in der französischen
resp. italienischen Sprache geläufiger. Wie gezeigt besteht sodann eine
Ähnlichkeit zum Wort "Lumen", welches den Durchschnittskonsumenten
mit Bezug auf Leuchten und Leuchtmittel geläufig ist, da es als Hinweis auf
die Lichtmenge resp. Helligkeit einer Leuchte resp. des darin verbauten
Leuchtmittels verstanden wird. Daher ist davon auszugehen, dass der Zei-
chenbestandteil "lumi" von den Durchschnittsabnehmern als Hinweis auf
etwas (Be-)Leuchtendes verstanden wird. Auch wenn dieser Hinweis im
Vergleich zum Zeichenbestandteil "mart" nicht gleichermassen auf der
Hand liegt, erfordert die Assoziation zu etwas (Be-)Leuchtendem einen ge-
ringen und damit keinen übermässigen Gedankenaufwand.
61 Vgl. auch BGE 129 III 225 E. 5.1; 120 II 144 E 3b.bb; BGer 4A_528/2013 vom 21. März 2014
E. 5.1 (nicht publiziert in BGE 140 III 109); BVGer B-2791/2016 vom 16. April 2018 E. 5.5.1; /2014 vom 4. April 2017 E. 4.3.
62 BVGer B-3541/2011 vom 17. Februar 2012 E. 5.
- 34 -
6.4.2.3.3. Zeichenbestandteil "mart"
Der Zeichenbestandteil "mart" ist im Englischen lexikalisch erfasst und wird
mit "Markt" übersetzt.63 Gebräuchlicher dürften aber die Worte "market" o-
der "outlet" sein.64 Mit Bezug auf die deutschsprachigen Konsumenten ist
davon auszugehen, dass sie den Zeichenbestandteil "mart" spontan in die-
sem Sinne verstehen, weil er grosse Ähnlichkeiten mit dem entsprechen-
den Begriff im Schrift- ("Markt") wie auch im Schweizerdeutschen ("Märt")
aufweist. Die französische und die italienische Entsprechung ("marché"
bzw. "mercato")65 weisen hingegen weniger Ähnlichkeit auf. Trotzdem ist
davon auszugehen, dass das französisch- und italienischsprachige Publi-
kum den Zeichenbestandteil "mart" entsprechend versteht. Denn das ähn-
lich klingende englische Synonym "market" ist zum Grundwortschatz des
Englischen zu zählen66 und deshalb auch einem erheblichen Teil der itali-
enisch- und französischsprachigen Konsumenten bekannt, sodass diese
ohne erheblichen Gedankenaufwand die Analogie bilden können.
6.4.2.3.4. Massgebender Gesamteindruck
Das Wortzeichen "Lumimart" weist eine gewisse Originalität auf, zumal es
einen lexikalisch nicht erfassten Wortteil mit einem fremdsprachigen lexi-
kalisch erfassten Wortteil zu einer Wortneuschöpfung zusammenfügt, wel-
che ebenfalls nicht lexikalisch erfasst ist. Zudem ist dem Wortzeichen eine
gewisse Einprägsamkeit zuzuerkennen, da es von den lexikalisch erfass-
ten und bekannten Wörtern in sämtlichen Landessprachen abweicht und
über einen nachwirkenden Wortklang verfügt.
Wie zuvor aufgezeigt, enthält das klägerische Zeichen demgegenüber eine
starke Assoziation zu den angebotenen Waren und Dienstleistungen. Ent-
sprechend lässt sich bei Wahrnehmung des Wortzeichens "Lumimart" un-
ter Berücksichtigung der kombinierten Sinngehalte der beiden Zeichenbe-
standteile "lumi" und "mart" ein Bezug zu einem Beleuchtungs- oder Lich-
termarkt herstellen. Diese Assoziation liegt zwar für den deutschsprachigen
Durchschnittsabnehmer nicht sofort auf der Hand, zumal die Wahrneh-
mung des Sinngehalts eine gewisse Fremdsprachenaffinität erfordert.
Demgegenüber ist davon auszugehen, dass italienisch- und französisch-
sprachige Durchschnittsabnehmer den Sinngehalt von "Lumimart" ohne
Weiteres erkennen. Insbesondere weckt "Lumimart" nicht einzig Gedan-
kenassoziationen, welche nur entfernt auf die angebotene Ware hinweisen.
Vielmehr hat der Durchschnittsabnehmer nur einen minimalen Gedanken-
aufwand zu tätigen, um den Sinngehalt zu eruieren. Der Sinngehalt Be-
leuchtungs- oder Lichtermarkt ist beschreibend für den klägerischen Markt-
63 Siehe <https://de.langenscheidt.com/englisch-deutsch/>, zuletzt abgerufen am 31. März 2020. 64 Siehe <https://de.langenscheidt.com/englisch-deutsch/>, zuletzt abgerufen am 31. März 2020. 65 Siehe <https://de.langenscheidt.com/franzoesisch-deutsch/> <https://de.langen-
scheidt.com/deutsch-italienisch/>, je zuletzt abgerufen am 31. März 2020. 66 Siehe <https://de.langenscheidt.com/deutsch-englisch/>, zuletzt abgerufen am 31. März 2020.
- 35 -
auftritt, da die Durchschnittsabnehmer aus dem Sinngehalt auf den Han-
delsort der angebotenen Waren und Dienstleistungen schliessen können.67
Die zuvor festgestellte Neuartigkeit und Fremdsprachigkeit steht schliess-
lich dem beschreibenden Charakter des klägerischen Wortzeichens nicht
entgegen.68
Soweit die Klägerin auf die Prüfungshilfe des IGE zum Wortteil "lumi"
(KB 172) verweist, verfängt der Einwand nicht. Denn die Sichtweise des
IGE ist für den Zivilrichter nicht bindend.69 Wie zuvor festgestellt, verstehen
die massgeblichen Verkehrskreise nach Auffassung des Gerichts den Zei-
chenbestandteil "lumi" als Hinweis auf etwas (Be-)Leuchtendes, womit
nicht mit Bezug auf sämtliche unter die Nizza Klassifizierung fallenden Wa-
ren von einem unbestimmten Rechtsbegriff ausgegangen werden kann.
Zusammengefasst verfügt das Wortzeichen "Lumimart" wegen seines be-
schreibenden Charakters über keine originäre Kennzeichnungskraft.
6.4.2.4. Würdigung Logo
Das Logo besteht aus dem Wortelement "Lumimart" sowie fi-
gurativen Elementen (typographische Gestaltung, farbliche Ausgestaltung
sowie Glühbirne mit Lichtkegel). Im verschwommenen Erinnerungsbild des
Abnehmers stehen das Wortelement sowie das figurative Element der
Glühbirne mit Lichtkegel im Vordergrund. Daher lässt sich nicht sagen, der
Zeichenbestandteil dominiere so stark, dass den figurativen Elementen gar
keine Bedeutung mehr zukäme. Allein die farbliche Ausgestaltung des Wor-
tes "Lumimart" sowie die Hinterlegung eines blauen Parallelogramms stel-
len jedoch keine prägenden Zeichenelemente dar. Hinzu kommt aber das
weitere figurative Element einer Glühbirne mit gelbem Lichtkegel, welches
das Erinnerungsbild des Durchschnittskonsumenten zu beeinflussen ver-
mag. Dieses erweist sich in Bezug auf den klägerischen Marktauftritt (Fach-
markt für Beleuchtungsgegenstände) wie das Wortzeichen als beschrei-
bend. Die Abnehmer können daraus ohne besonderen Gedankenaufwand
auf die von der Klägerin unter dem Zeichen "Lumimart" vertriebenen Pro-
dukte schliessen.70 Gleiches würde gelten, sofern der Beklagten gefolgt
wird und diesbezüglich eine stilisierte Abbildung einer Leuchte im Quer-
schnitt angenommen würde (Duplik N. 548).
Durch die Kombination der beiden beschreibenden Elemente (Wortbe-
standteil sowie figuratives Element der Glühbirne mit Lichtkegel) erlangt
67 Vgl. SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 lit. d N. 17; BGer 4A_618/2016 vom
20. Januar 2017 E. 5.2; BVGer B-4710/2014 vom 15. März 2016 E. 4.5. 68 BGer 4A.1/2005 vom 8. April 2005 E. 2. 69 Bei der Prüfungshilfe handelt es sich um eine Verwaltungsverordnung, vgl. BVGer B-5294/2016
vom 31. Oktober 2018 E. 6.1.2. 70 Vgl. SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 lit. d N. 17; BGer 4A_618/2016 vom
20. Januar 2017 E. 5.2; BVGer B-4710/2014 vom 15. März 2016 E. 4.5.
- 36 -
das klägerische Logo eine schwache originäre Kennzeich-
nungskraft.
6.4.2.5. Würdigung Logo
Das Logo besteht aus dem Wortelement "lumimart" sowie figu-
rativen Elementen (typographische Gestaltung, farbliche Ausgestaltung so-
wie einem gelben Punkt). Das neue Logo ist im Vergleich zum alten Logo
als schlicht zu bewerten, da keine figurativen Elemente in den Vordergrund
treten. Im verschwommenen Erinnerungsbild des Abnehmers steht das
Wortelement klar im Vordergrund. Zwar wurden die Grundfarben (Blau,
Gelb und Weiss) beibehalten. Nicht mehr enthalten sind aber die farbliche
Gestaltung des Wortelements, die Grundform eines schrägen Parallelo-
gramms sowie die Glühbirne mit Lichtkegel. Die nun verwendete Schriftart
des Wortelements sowie dessen Hinterlegung durch ein blaues Rechteck
stellen keine prägenden Zeichenelemente dar. Aufgrund der schlichen Aus-
gestaltung des Logos dürfte demgegenüber der vorgestellte kreisförmige
gelbe Punkt im verschwommenen Erinnerungsbild des Konsumenten haf-
ten bleiben. Ob der gelben Kreisfläche die Bedeutung einer stilisierten
Glühbirne oder eines Lichtkegels zugestanden wird (Replik N. 317; Kla-
geantwort N. 195), ist zur Bestimmung der originären Kennzeichnungskraft
ohne Belang, da sich beide Interpretationen als beschreibend erweisen.
Die Abnehmer können daraus ohne besonderen Gedankenaufwand auf die
von der Klägerin unter dem Zeichen "Lumimart" vertriebenen Produkte
schliessen. Im Ergebnis erlangt das Logo infolge der Kombina-
tion der dargestellten beschreibenden Elemente eine schwache originäre
Kennzeichnungskraft.
6.4.2.6. Würdigung Domainname "lumimart.ch"
Der Domainname "lumimart.ch" besteht aus der Top-Level-Domain ".ch"
sowie der Second-Level-Domain "lumimart". Weil Internetbenutzer aus Er-
fahrung wissen, dass Domainnamen die Sub-Domain "www" sowie eine
gängige (z.B. länderspezifische) Top-Level-Domain (".ch", ".com", ".de"
etc.) aufweisen, beurteilt sich die Kennzeichnungskraft von Domainnamen
hauptsächlich nach der Second-Level-Domain.71 Da Letztere mit dem
Wortzeichen "Lumimart" übereinstimmt, kann auf die diesbezüglichen Aus-
führungen verwiesen werden. Auch der Domainname "lumimart.ch" ist
nicht originär kennzeichnungskräftig.
71 Vgl. BSK UWG-ARPAGAUS (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 182, 187; BURI, SIWR III/2, 2. Aufl. 2005,
S. 358.
- 37 -
6.4.2.7. Zwischenfazit originäre Kennzeichnungskraft
Das Logo sowie das Logo verfügen über eine
schwache originäre Kennzeichnungskraft. Demgegenüber sind das Wort-
zeichen "Lumimart" sowie der Domainname "lumimart.ch" nicht originär
kennzeichnungskräftig.
6.4.3. Derivative Kennzeichnungskraft
Zu prüfen ist nachfolgend, ob die Zeichen über eine derivative Kennzeich-
nungskraft verfügen. Sollte dies zutreffen, folgte daraus einerseits der lau-
terkeitsrechtliche Schutz des Wortzeichens "Lumimart" und des Domaina-
mens "lumimart.ch". Andererseits würde der originär enge Schutzbereich
der Logos und ausgedehnt.
6.4.3.1. Parteibehauptungen
6.4.3.1.1. Klägerin
Nach klägerischer Darstellung verfügt das Wortzeichen "Lumimart" über
derivative Kennzeichnungskraft (Klage N. 96). Zur Begründung führt die
Klägerin insbesondere das Folgende aus:
(1) Die Studie der J. AG habe für die Bezeichnung "Lumimart" in der
Deutschschweiz eine Bekanntheit von 80 % ergeben (Klage N. 98).
Den Befragten seien einzig Wortzeichen gezeigt worden, womit sich
anhand der Studie sehr wohl etwas zur Bekanntheit des Wortzei-
chens "Lumimart" ableiten lasse (Replik N. 419). Es werde bestrit-
ten, dass aus der Studie keine Bekanntheit für die angebotenen Wa-
ren abgeleitet werden könne. Ohnehin sei dies lauterkeitsrechtlich
irrelevant, da der Marktauftritt der Klägerin als Ganzes massgebend
sei (Replik N. 420);
(2) Die jahrelange Verwendung der Zeichen "Lumimart" und
als Bezeichnung für Standorte der Beleuchtungsge-
schäfte, für eine Geschäftssparte der Klägerin, auf der Website der
Klägerin, im Rahmen der intensiv betriebenen Werbung in Katalo-
gen, Prospekten und im Internet sowie nicht zuletzt durch die Ver-
wendung der eingetragenen Marke begründe die derivative Kenn-
zeichnungskraft. Insbesondere habe die Klägerin eine seit 1998 an-
dauernde und intensive Werbung unter Verwendung der klägeri-
schen Zeichen nachgewiesen (Klage N. 99 i.V.m. N. 25). Daher
würden die massgeblichen Verkehrskreise diese Zeichen als Hin-
weis auf den Betreiber der Fachmärkte für Lampen und Leuchten
und damit auf die Geschäftssparte "Lumimart" ansehen. Es spiele
dabei keine Rolle, welche juristische Person dieses Geschäft tat-
sächlich betreibe (Replik N. 417).
6.4.3.1.2. Beklagte
Die Beklagte bestreitet die derivative Kennzeichnungskraft insbesondere
mit folgenden Argumenten:
- 38 -
(1) Die Klägerin habe nicht nachgewiesen, dass sie die Zeichen "Lu-
mimart" und jahrelang intensiv benützt habe (Klageant-
wort N. 201);
(2) Der Hinweis auf das Resultat der demoskopischen Umfrage
(KB 151) gehe fehl, da sich die Studie einzig auf die Bekanntheit der
Ladengeschäfte der Klägerin beziehe, nicht aber auf die Waren, für
die das von der Klägerin geltend gemachte Zeichen an-
geblich benützt werde. Sodann sei nur das alte Logo bei der Um-
frage verwendet worden (Klageantwort N. 202).
6.4.3.2. Rechtliches
Nicht originär kennzeichnungskräftige Zeichen können die Kennzeich-
nungskraft durch Verkehrsdurchsetzung erlangen. Letztere liegt vor, wenn
ein erheblicher Teil der massgeblichen Verkehrskreise das Kennzeichen
als Hinweis auf die Herkunft eines nicht notwendigerweise namentlichen
bekannten Unternehmens versteht. Der dazu notwendige Bekanntheits-
grad beträgt zwei Drittel, wobei teilweise bereits Werte ab 50 % als ausrei-
chend erachten werden.72 Der Nachweis der Verkehrsdurchsetzung kann
durch Indizien, z.B. Gebrauchsbelege und Privatgutachten oder demosko-
pische Gutachten erbracht werden. Eine lokale oder regionale Verkehrs-
durchsetzung ist ausreichend, wobei sich diesfalls der lauterkeitsrechtliche
Schutz auf das betreffende Territorium beschränkt.73
Übernimmt ein Zeichen absolut freihaltebedürftige Zeichen wie banalste
Elemente und Ausdrücke des allgemeinen Sprachgebrauchs, auf deren
Verwendung die Mitkonkurrenten mangels Alternativen zwingend angewie-
sen sind, ist eine Verkehrsdurchsetzung ausgeschlossen.74
6.4.3.3. Prüfungsaufbau
Die Verkehrsdurchsetzung eines Zeichens ist eine Rechtsfrage.75 Ob die
dieser zugrunde liegenden Tatsachen, die tatsächlichen Voraussetzungen
der Durchsetzung, gegeben sind, ist eine Tatfrage. Tatsachen sind von der
Partei, die sich darauf beruft, zu beweisen (Art. 8 ZGB).76
72 So insb. DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 24, 35; WYSS, Die Verkehrsdurch-
setzung im schweizerischen Markenrecht, 2013, S. 89 ff.; HGer AG, sic! 2015 S. 401 E. 9.4.6.6. 73 Vgl. zur derivativen Kennzeichnungskraft: DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d
N. 34 ff.; SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 lit. d N. 15; BSK UWG- (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 46.
74 SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 lit. d N. 15 m.w.N.; BSK UWG-ARPAGAUS (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 53 m.w.N.
75 BGer 4A_371/2010 vom 29. Oktober 2010 E. 5.2.3; BGE 130 III 328 E. 3; 126 III 315 E. 4b; vgl. auch BGer 4A_370/2008 vom 1. Dezember 2008 E. 6.1.
76 BGE 130 III 478 E. 3.3; WYSS (Fn. 72), S. 176.
- 39 -
Das von der Klägerin verwendete Zeichen, die beiden Logos sowie der Do-
mainname sind nicht unter den Begriff der absolut freihaltebedürftigen Zei-
chen zu subsumieren. Folglich ist eine derivative Kennzeichnungskraft der
erwähnten Zeichen grundsätzlich möglich.
Als Nachweis der Verkehrsdurchsetzung offeriert die Klägerin sowohl die
Ergebnisse einer Marktbefragung als auch die über die Jahre getätigten
Werbeanstrengungen in Bezug auf das Zeichen "Lumimart", die Logos
und sowie den Domainnamen "lumimart.ch". Folg-
lich ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob sich die derivative Kennzeich-
nungskraft aufgrund der eingereichten Marktbefragung nachweisen lässt.
Ist dies zu verneinen, sind in einem zweiten Schritt die weiteren Argumente
der Klägerin zu würdigen.
6.4.3.4. Würdigung Marktbefragung
6.4.3.4.1. Beweiswert von demoskopischen Umfragen
Bei der von der Klägerin eingereichten Marktbefragung (KB 151) sowie der
damit zusammenhängenden Sekundärauswertung (KB 152) handelt es
sich um Privatgutachten. Diese sind als blosse Bestandteile der Parteivor-
bringen anzusehen.77 Jedoch sind Parteibehauptungen, denen ein Privat-
gutachten zugrunde liegt, meistens besonders substantiiert. Entsprechend
genügt eine pauschale Bestreitung nicht; die Gegenpartei ist vielmehr ge-
halten zu substantiieren, welche einzelnen Tatsachen sie konkret bestrei-
tet.78 Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, dass ein Privatgutachten zu-
sammen mit durch weitere Beweismittel nachgewiesenen Indizien den Be-
weis einer Tatsache zu erbringen vermag.79
Ob die vom Handelsgericht im Keytrader/Keytrade Fall aufgestellte Recht-
sprechung auch nach BGE 141 III 433 Bestand hat, kann vorliegend offen
bleiben.80 Wie nachfolgend dargelegt wird, ist nicht bereits aufgrund der
Marktbefragung (KB 151) sowie der Sekundärauswertung (KB 152) eine
Verkehrsdurchsetzung der "Lumimart" Zeichen anzunehmen.
6.4.3.4.2. Anforderungen an eine demoskopische Umfrage
Für den Nachweis der Verkehrsdurchsetzung wird in der Literatur ein de-
moskopisches Testfragemodell mit dreistufigem Aufbau empfohlen. Diese
Testfragen ermitteln zunächst die reine Bekanntheit des Zeichens in Ab-
hängigkeit von den Waren oder Dienstleistungen ("Bekanntheitsgrad"). An-
77 MÜLLER, in: Brunner/Gasser/Schwander (Hrsg.), Schweizerische Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2016,
Art. 183 N. 28; vgl. auch BGE 141 III 433 E. 2.5.2 f. und E. 2.6 je m.w.N. 78 BGE 141 III 433 E. 2.6. 79 Siehe HARTMANN, Arztzeugnisse und medizinische Gutachten im Zivilprozess, AJP 2018,
S. 1348 ff. 80 HGer AG, sic! 2015, S. 400, E. 9.4.4; für eine Weitergeltung der Rechtsprechung insb. SHK
MSchG-KAISER/RÜETSCHI, 2. Aufl. 2017, Beweisrecht, N. 59.
- 40 -
schliessend wird die Wahrnehmung als Herstellerhinweis erfragt ("Kenn-
zeichnungsgrad"), indem der Befragte angeben muss, ob das Zeichen sei-
ner Meinung nach nur aus einem oder aus mehreren Unternehmen stammt.
Schliesslich soll noch eine konkrete, namentliche Zuordnung zu einem Un-
ternehmen glaubhaft gemacht werden ("Zuordnungsfrage").81
Die Beweiskraft einer Umfrage, also die Übereinstimmung des Ergebnisses
der Studie mit den tatsächlichen Gegebenheiten im Verkehr, hängt in erster
Linie von der Fragestellung ab.82 Bei der Erstellung der Testfragen ist zu
beachten, dass dem Befragten nicht aufgrund der Fragestellung eine be-
stimmte Antwort nahe gelegt wird (keine Suggestivfragen). Antworten auf
solche Fragen bilden nicht das tatsächliche Meinungsbild der Befragten
ab.83 Die Art der Frageformulierung setzt in jedem Falle Perspektiven, unter
denen der Befragte antwortet; deshalb muss weitestgehende Neutralität in
der Formulierung gewährleistet sein.84
6.4.3.4.3. Würdigung der klägerischen Marktbefragung
Die von der Klägerin eingereichte Marktbefragung (KB 151) sowie die damit
zusammenhängende Sekundärauswertung (KB 152) vermögen die an eine
demoskopische Umfrage gestellten materiellen Anforderungen nicht zu er-
füllen. Die eingereichte Marktbefragung dient dem Nachweis der Bekannt-
heit des Zeichens "Lumimart", was nicht mit dessen Verkehrsdurchsetzung
zu verwechseln ist (vgl. auch KB 151 S. 3, wo von Image- und Kundenzu-
friedenheitsstudie die Rede ist).85 Der Marktbefragung mangelt es insbe-
sondere an einem tauglichen Fragenkatalog.
Der Fragenkatalog der Marktbefragung umfasst insgesamt fünf Fragen
(KB 152 S. 5 f.). Zwei Fragen zielen auf das Einkaufsverhalten der Teilneh-
mer ab (Frage "F2a" und "F2b"), eine auf die Sympathie der aufgelisteten
Anbieter (Frage "F3"). Die drei Fragen sind daher zur Beurteilung der lau-
terkeitsrechtlichen Verkehrsdurchsetzung von vornherein ohne Belang. Die
verbleibenden Fragen lauten wie folgt (KB 152 S. 13):
81 Zum Ganzen siehe WYSS (Fn. 72), S. 206 ff.; SHK MSchG-KAISER/RÜETSCHI (Fn. 80), Beweisrecht
N. 50 ff.; HGer AG, sic! 2015, S. 400, E. 9.4.4. Vorliegend erübrigt sich die Verkehrskreisfrage, da das allgemeine Publikum den massgeblichen Verkehrskreis bildet.
82 MARBACH, SIWR III/1, 2. Aufl. 2009, N. 463. 83 NIEDERMANN/SCHNEIDER Der Beitrag der Demoskopie zur Entscheidfindung im Schweizerischen
Markenrecht, sic! 2002, S. 822. 84 NIEDERMANN/SCHNEIDER (Fn. 83), S. 831. 85 Siehe zu den unterschiedlichen Fragemodellen betreffend Verkehrsdurchsetzung und Bekanntheit:
SHK MSchG-KAISER/RÜETSCHI (Fn. 80), Beweisrecht N. 59; vgl. auch WYSS (Fn. 72), S. 35.
- 41 -
F1a "Welche Geschäfte, die Lampen bzw. Beleuchtungen anbieten kennen Sie, wenn auch nur dem Namen nach"
F1c "Sie sehen nun eine Liste mit Geschäften, die Lampen bzw. anbieten. Bitte kreuzen Sie alle Geschäfte an, welche Sie kennen, wenn auch nur dem Namen nach. Bitte kreuzen Sie auch diejenigen an, welche Sie vorher bereits genannt haben"
Anschliessend an die Frage folgt eine Liste von 15 Geschäftsnamen.
Keine der gestellten Fragen fragt, ob dem Wortzeichen "Lumimart" ein Her-
stellerhinweis zukommt oder es demgegenüber als reine Sachangabe
wahrgenommen wird. Die Kennzeichnungsfrage stellt aber gerade den
Kern der demoskopischen Umfrage dar.86 Folglich vermag die Klägerin mit
der von ihr eingereichten Marktbefragung alleine nicht den direkten Nach-
weis des der lauterkeitsrechtlichen Verkehrsdurchsetzung zugrundeliegen-
den Sachverhalts zu erbringen. Daher ist nachfolgend zu prüfen, ob durch
weitere Belege (insbesondere solche, die den intensiven Gebrauch des
Zeichens nachweisen) auf eine derivative Kennzeichnungskraft zu schlies-
sen ist.87
6.4.3.5. Würdigung weiterer Umstände
6.4.3.5.1. Verwendung als Geschäftsbezeichnung
a. Jahre 1992 und 1998
Die Klägerin führt aus, das Zeichen "Lumimart" werde seit 1992 als Ge-
schäftsbezeichnung für Fachmärkte in der ganzen Schweiz verwendet
(Klage N. 17, 99). Im Jahr 1992 seien die Standorte Spreitenbach, Düben-
dorf, Ittigen, Kriens, Pratteln, Romanel und St. Gallen eröffnet worden
(Replik N. 62). Die Eröffnung der erwähnten Filialen (bestritten in Klageant-
wort N. 30; Duplik N. 105) ist durch den in KAB 22/1 S. 1 enthaltenen Aus-
druck der klägerischen Website nachgewiesen.88 Dabei handelt es sich ent-
gegen den Einwendungen der Beklagten (Duplik N. 105) nicht um eine Par-
teibehauptung, zumal der massgebende Webseiteninhalt nicht mit Blick auf
die vorliegende Streitigkeit erstellt wurde. Folglich vermag es der Klägerin
nicht zum Nachteil zu gereichen, dass sie eine Behauptung der genauen
Eröffnungstermine der entsprechenden Filialen unterlässt.
Neben der Eröffnung der Filialen bestreitet die Beklagte ebenfalls einen
Marktauftritt unter den Zeichen "Lumimart" oder im Jahr 1992
(Klageantwort N. 38; Duplik N. 136). Eine entsprechende Benutzung ergibt
86 Siehe WYSS (Fn. 72), S. 209; SHK MSchG-KAISER/RÜETSCHI (Fn. 80), Beweisrecht N. 53. 87 Zur Subsidiarität siehe WYSS (Fn. 72), S. 181 m.w.N. 88 Der Ausdruck einer Website stellt eine Urkunde i.S.v. Art. 177 ZPO dar, vgl. VETTER/PEYER, Be-
kannte Tatsachen – unter besonderer Berücksichtigung des Internets, in: Gschwend et al. (Hrsg), Festgabe Schweizerischer Juristentag 2015, S. 772.
- 42 -
sich entgegen der Klägerin weder aus KB 13 (Klage N. 17, 99), KB 23
(Klage N. 22) noch aus KAB 22/1 (Replik N. 62). Ebenso vermag die Mar-
kenanmeldung im Jahr 1996 (Replik N. 80; KB 18) den Nachweis der Be-
nützung des Logos für die erwähnten Filialen nicht zu erbrin-
gen. Denn die Markeneintragung ist nicht mit dem Gebrauch des eingetra-
genen Zeichens gleichzusetzen.89 Folglich hat die Klägerin die behauptete
Verwendung der Zeichen Lumimart" oder im Jahr 1992 als Ge-
schäftsbezeichnung nicht nachgewiesen.
Jedoch ergibt sich aus KAB 22/1 S. 1 ein einheitlicher Marktauftritt der
dannzumal betriebenen Filialen mit dem Zeichen "Lumimart" ab dem Jahr
1998.
b. Aktuell
Die Klägerin führt aus, sie führe aktuell 34 Fachmärkte unter der Bezeich-
nung "Lumimart" sowie dem Logo (Replik N. 71 f.). Bei den in
KB 21 mit "Lumi" gekennzeichneten Standorten handle es sich um allein-
stehende Fachmärkte, währendem die mit "TT" gekennzeichneten Stand-
orte Filialen in einem E. Markt bilden würden (Replik N. 73). Die Beklagte
bestreitet den geltend gemachten Filialbestand und führt aus, bei den kom-
binierten Filialen E./Lumimart dominiere das Zeichen E..
Anhand von KB 21 hat die Klägerin nachgewiesen, dass sie am 5. Februar
2018 unter den Zeichen "Lumimart" und zumindest 32 Filialen
in Betrieb waren. Sodann ist unstrittig, dass der Marktauftritt der Klägerin
für die Lumimart Geschäftssparte seit September 2018 nicht mehr unter
dem Logo , sondern dem Logo erfolgt. Mangels ge-
genteiliger Behauptungen ist für das Gericht erstellt, dass die Klägerin auch
im Urteilszeitpunkt Fachmärkte für Leuchten, Leuchtmittel und Beleuch-
tungszubehör betreibt. Der entsprechende Marktauftritt erfolgt unter dem
Zeichen "Lumimart" resp. und enthält sowohl eigenständige Fi-
lialen als auch in E. Filialen integrierte Standorte. Diese Unterscheidung
sowie die genaue Anzahl der betriebenen Fachmärkte ist für die Beurtei-
lung der derivativen Kennzeichnungskraft nicht ausschlaggebend. Mass-
gebend ist einzig, dass die Klägerin nachgewiesen hat, dass sie das Zei-
chen "Lumimart" seit 1998 durchgehend als Geschäftsbezeichnung für
Leuchtenfachmärkte in der Schweiz benützt und per Februar 2018 einen
Filialbestand von 32 Filialen aufgewiesen hat.
Ob es sich bei den Geschäftsbetrieben der Klägerin um Fachgeschäfte o-
der Fachmärkte handelt, ist nicht von Belang. Einerseits sind die beiden
89 Vgl. auch BRAUCHBAR, Die Verwirkung im Kennzeichenrecht; unter Berücksichtigung der Regelung
in der Europäischen Union, 2001, S. 92; BSK MSchG-FRICK (Fn. 5), Vor Art. 51a-60 N. 66; (Fn. 82), N. 1583.
- 43 -
Begriffe nicht exakt und die darunter zu subsumierenden Vertriebsformen
lassen sich auch nicht klar voneinander trennen, was der bemühte Abgren-
zungsversuch der Beklagten deutlich zeigt (Duplik N. 93). Andererseits ist
alleine die unstrittige Tatsache massgebend, dass die Klägerin unter den
prozessgegenständlichen Zeichen im Fachhandel für Lampen und Leucht-
mittel auftritt.
c. Zwischenfazit
Die Verwendung als Geschäftsbezeichnung von Fachmärkten für Lampen
bzw. Leuchten und Leuchtmittel seit rund 20 Jahren, der Betrieb von über
30 Filialen sowie der Umstand, dass es sich bei "Lumimart" um die einzige
Kette für Leuchtenfachmärkte handelt (vgl. Replik N. 52; Duplik N. 95 f.),
stellen insgesamt ein starkes Indiz für die Verkehrsdurchsetzung des Zei-
chens "Lumimart" dar.
6.4.3.5.2. Verwendung als Domainname
Die Klägerin behauptet weiter, sie habe im Jahr 1997 den Domainnamen
"lumimart.ch" registriert (KB 22). Seit dem Jahr 2000 existiere sodann die
Website lumimart.ch (KB 24). Weiter würden die eingereichten Werbeun-
terlagen ab Juli des Jahres 2000 (KB 37) auf die Website verweisen (Klage
N. 24, 102). Die Beklagte bestreitet eine Benützung seit dem Jahr 1997,
zumal die Klägerin auf ihrer Website selbst ausführe, die Website lumim-
art.ch sei im Jahr 2001 lanciert worden (Klageantwort N. 40).
Die Registrierung einer Domain ist nicht der nach Aussen wirksamen Nut-
zung dieser Domain gleichzustellen. Notwendig ist vielmehr, dass die Do-
main für Internetbenützer erreichbar ist, was auch einen unter der eingege-
benen Domain aufrufbaren Inhalt erfordert.90 Daher kann die Klägerin aus
KB 22 keine Rechte ableiten. Dagegen ist aufgrund KB 24 S. 4 nachgewie-
sen, dass die Domain "lumimart.ch" am 9. November 2000 erreichbar war
und somit das Zeichen "Lumimart" als Domainname verwendet wurde.
Diese Erkenntnis wird durch KAB 22/1 S. 1, wonach die Lancierung des
Internetsauftritts mit einfachem Online-Shop im Jahr 2001 erfolgt sei, nicht
umgestossen. Die in KAB 22/1 aufgeführte Geschichte von Lumimart gibt
im Gegensetz zu KB 24 nicht den in den Jahren 2000 resp. 2001 abrufba-
ren Inhalt der Domain "lumimart.ch" wieder. Daher ist trotz den von der Be-
klagten aufgezeigten Ungereimtheiten in Bezug auf die erstmalige Verwen-
dung des Domainnamens "lumimart.ch" nicht auf KAB 22/1 abzustellen.
Hingegen ist nicht nachgewiesen, dass in den eingereichten Prospekten
(KB 37 - 148) jeweils seit Juli 2000 auf die Domain "lumimart.ch" hingewie-
90 Vgl. auch SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 62; BURI, Ver-
wechselbarkeit (Fn. 48), S. 142; JOLLER, in: Bettinger (Hrsg.), Handbuch des Domainrechts, 2. Aufl. 2017, N. CH 88, 163, 185; a.A. DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 141.
- 44 -
sen wurde. Die entsprechende Behauptung wird von der Beklagten bestrit-
ten (Klageantwort N. 40), womit der Klägerin die Substantiierung ihrer Be-
hauptung obliegt. Diesbezüglich führt die Klägerin einzig aus, es werde in
den genannten Beilagen jeweils mindestens einmal auf den Domainnamen
"lumimart.ch" verwiesen (Replik N. 423). Die Beklagte rügt den entspre-
chenden Tatsachenvortrag zu Recht als unsubstantiiert, zumal es die Klä-
gerin unterlässt, für die jeweiligen Beilagen den genauen Ort des Verwei-
ses zu behaupten. Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, über 100 mehrseitige
Prospekte nach dem Hinweis über den Domainnamen zu durchsuchen.91
Als Zwischenfazit ist insgesamt festzuhalten, dass die Abrufbarkeit der Do-
main "lumimart.ch" seit November 2000 und damit seit rund 20 Jahren
nachgewiesen ist.
6.4.3.5.3. Werbung seit 1998
Neben der Verwendung der klägerischen Zeichen als Geschäftsbezeich-
nung und Domainname macht die Klägerin geltend, die klägerischen Zei-
chen hätten aufgrund ihrer Bekanntheit sowie der jahrelangen intensiven
Verwendung und Werbeanstrengungen in den letzten 20 Jahren, d.h. seit
1998, Kennzeichnungskraft erlangt (Klage N. 25, 96, 99). Die Beklagte be-
streitet die geltend gemachten intensiven Werbeanstrengungen. Insbeson-
dere sei nicht ersichtlich, ob die eingereichten Werbeunterlagen überhaupt
in kommerziellem Umfang abgegeben worden seien (Klageantwort N. 41).
a. Printwerbung
Die Klägerin hat zur Behauptung der intensiven Bewerbung der Zeichen
"Lumimart" und Werbeunterlagen der Jahre 1998 bis 2018 ein-
gereicht (KB 25 - 148). Da die Beklagte bestreitet, dass die eingereichten
Prospekte je in kommerziellem Umfang an Dritte abgegeben wurden (Kla-
geantwort N. 41), obliegt es der Klägerin, die Verbreitung der eingereichten
Werbeunterlagen zu behaupten, zu substanziieren und nachzuweisen.92
Die Klägerin führt diesbezüglich aus, angesichts der zahlreichen über 20
Jahre mehrmals im Jahr abgegebenen aufwendig gestalteten Prospekte
könne die Beklagte nicht ernsthaft geltend machen, die Prospekte seien
nicht im Umlauf gewesen. Es sei auf den meisten Prospekten auf der letz-
ten Seite ersichtlich, in welchem Monat welchen Jahres sie abgegeben
worden seien (bspw. KB 30: letzte Seite unten links "KAMars99"). Zudem
seien die Prospekte oftmals der A. Zeitung beigelegt worden, welche in der
Periode von April 2017 bis März 2018 eine Auflage von über 1.8 Mio. ver-
91 Vgl. die jüngste bundesgerichtliche Rechtsprechung in BGer 4A_291/2018 vom 10. Januar 2019
E. 4.4.2; 4A_443/2017 vom 30. April 2018 E. 2.2.2; 4A_370/2016 vom 13. Dezember 2016 E. 3.3 m.w.N.; BK ZPO II-KILLIAS, 2012, Art. 221 N. 29.
92 Siehe auch WYSS (Fn. 72), S. 200.
- 45 -
breiteter Exemplare erreicht habe. Ausserdem sei der aktuelle Prospekt je-
weils auf der Webseite "www.lumimart.ch" erhältlich, was aus dem einge-
fügten Screenshot ersichtlich sei. Schliesslich würden Rechnungen der
letzten Jahre eingereicht, die belegen würden, dass die Prospekte sehr
wohl in verschiedensten Zeitungen beigelegt wurden und zugleich zahlrei-
che Inserate geschaltete worden seien. Sodann ergebe sich aus KB 187
und KB 188, dass die Prospekte auch in private Briefkästen abgegeben
worden seien (Replik N. 96 f.).
Die Behauptung der Klägerin, auf der letzten Seite der Prospekte sei je-
weils ersichtlich, in welchem Zeitpunkt diese abgegeben worden seien, er-
weist sich in Bezug auf die Prüfung der Verkehrsdurchsetzung als unzu-
reichend. Die entsprechende Angabe sagt noch nichts darüber aus, ob ein
Prospekt auch tatsächlich den massgeblichen Verkehrskreisen abgegeben
wurde. Der Informationsgehalt einer derartigen Angabe beschränkt sich
vielmehr auf die Datierung des Prospekts.93 Ebenfalls ungenügend ist die
Behauptung, der jeweils aktuelle Prospekt sei auf der Webseite "www.lu-
mimart.ch" abrufbar. Zwar ist die Domain "lumimart.ch" nachweislich seit
November 2000 abrufbar. Indes ist dem Gericht nicht bekannt, in welchem
Umfang die Webseite frequentiert wird.
Die A. Zeitung wies in der Periode von April 2017 bis März 2018 nachge-
wiesenermassen eine Auflage von über 1.8 Mio. Exemplaren auf (Replik
N. 96 m.V.a. KB 186 S. 32). Es ist überdies gerichtsnotorisch (Art. 151
ZPO), dass es sich bei der A. Zeitung um ein Medium des A. Konzerns
handelt, der den neben der Migros schweizweit bekanntesten Detailhändler
betreibt. Es entspricht daher der allgemein bekannten Erfahrung, dass ein
Grossteil der Schweizer Haushalte sowohl die Wochenzeitschrift der Mig-
ros als auch diejenige von A. erhält. Bestandteil der A. Zeitung bilden häufig
Reklamen des A. Supermarkts, verbundener Konzerngesellschaften oder
von Konzerngeschäftssparten. Geworben wird entweder in Form eines In-
serats oder mit Hilfe einer Prospektbeilage. Eine Werbung für den Markt-
auftritt von "Lumimart" in der A. Zeitung in den Jahren 2012 bis 2018 hat
die Klägerin überdies anhand der in KB 189 f. eingereichten Rechnungen
nachgewiesen (Replik N. 97). Entgegen der Beklagten ist es diesbezüglich
nicht notwendig, dass die Klägerin aufzeigt, mit welchen konkreten Pros-
pekten geworben wurde (Duplik N. 158).
Die Behauptungen der Klägerin, es seien zahlreiche Inserate geschaltet
worden und die Prospekte seien Zeitungen beigelegt sowie in private Brief-
kästen verteilt worden (m.V.a. KB 187, 188, 191), wird von der Beklagten
als unsubstantiiert bestritten (Duplik N. 159). In der Tat substantiiert die
93 Vgl. zur Relevanz der Datierung von Indizien: WYSS (Fn. 72), S. 201; BVGer B-3269/2009 vom
25. März 2011 E. 7.4.2.
- 46 -
Klägerin nicht, welche der in KB 25 - 148 eingereichten Prospekte tatsäch-
lich verteilt wurden, zumal aufgrund der Sammelbeilagen (KB 187, 188,
191) keine eindeutige Verbindung zu den ins Recht eingereichten Prospek-
ten hergestellt werden kann. Immerhin ist aufgrund der Sammelbeilagen
das Folgende erstellt: In den Jahren 2009 - 2011 wurden "Lumimart" Pros-
pekte von Dritten an die inländische Bevölkerung verteilt sowie Inserate für
den Marktauftritt von "Lumimart" geschaltet (KB 188). In den Jahren 2012
und 2013 wurden ebenfalls "Lumimart" Prospekte verteilt (KB 187 S. 4 ff.).
Schliesslich wurde für "Lumimart" in den Jahren 2012, 2013 und 2015-2017
in inländischen Zeitungen geworben (KB 191). Nicht gefolgt werden kann
dem Einwand der Beklagten, da die Klägerin die Zahlung der Rechnungen
nicht nachgewiesen habe, sei nicht erstellt, dass die Leistungen tatsächlich
erbracht worden seien (Duplik N. 159). Die in KB 187, 188 und 191 einge-
reichten Rechnungen wurden jeweils nach der Erfüllung durch die Leis-
tungserbringer erstellt, sodass zwischen der Bezahlung der in Rechnung
gestellten Summe und der Leistungserbringung kein Zusammenhang be-
steht. Überdies sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, wonach die Rech-
nungssteller die in Rechnung gestellten Rechnungen nicht erbracht haben
sollen.
Als Zwischenfazit ist daher festzuhalten, dass die Klägerin Werbeanstren-
gungen für das Zeichen "Lumimart" sowie das Logo in Print-
medien während den Jahren 2009-2018 nachgewiesen hat.
b. Radiospots
Die Klägerin macht weiter geltend, sie habe in den Jahren 2012 - 2016
ebenfalls intensiv Radiospots mit Werbung für Lumimart bei zahlreichen
deutsch- und französischsprachigen Radiosendern ausgestrahlt (Replik
N. 104 f.). Die Beklagte bemängelt, es sei nicht ersichtlich, welcher Radio-
spot wann auf welchem Radiosender ausgestrahlt worden sei. Weiter
werde bestritten, dass die eingereichten Rechnungen etwas mit Lumimart
zu tun haben sollen und die behaupteten Leistungen tatsächlich erbracht
worden seien (Duplik N. 167).
Bei KB 193 handelt es sich um eine Sammelbeilage von Rechnungen und
Auftragsbestätigungen im Zusammenhang mit Radiospots. Aus den einge-
reichten Rechnungen geht zur Überzeugung des Gerichts hervor, dass für
den Marktauftritt von "Lumimart" in den Jahren 2012, 2014-2016 im Radio
geworben wurde. Die von der Beklagten vorgebrachten Mängel am kläge-
rischen Sachvortrag sowie den eingereichten Beweismitteln sind nicht
schützenswert. Zum Nachweis der behaupteten Radiowerbung ist es nicht
notwendig, dass die Klägerin vorträgt, welcher Radiospot auf welchem Ra-
diosender zu welchen Uhrzeiten ausgestrahlt wurde. Diese Informationen
gehen mit hinreichender Deutlichkeit aus den eingereichten Beilagen her-
vor (2012: Rechnung N. 3147 mit Betreff "SO Verkauf LM Dübendorf
28.10.2012", 2014: Rechnung Nr. 4644 mit Betreff "Wiedereröffnung LM
- 47 -
Heimberg", 2015: Rechnung Nr. 5670 mit Betreff "Wiedereröffnung Lumim-
art Kriens", 2016: Rechnung Nr. 5958 mit Betreff "20% auf Lichtsortiment").
Schliesslich wurden die ins Recht gelegten Rechnungen jeweils nach der
Ausstrahlung der Radiospots erstellt. Daher ist der Einwand der Beklagten,
die Klägerin habe die Bezahlung der Rechnungen nicht nachgewiesen, so-
dass die Leistungserbringung bestritten werde, nicht schützenswert. Wei-
tere Beweisabnahmen zu den Radiospots erübrigen sich daher.
c. SBB Lokomotive
Soweit die Klägerin auf die Werbelokomotive der SBB im Jahr 2002 ver-
weist (Klage N. 27), vermag sie damit von vornherein nicht Tatsachen
nachzuweisen, welche auf eine aktuelle Verkehrsdurchsetzung schliessen
lassen.94 Denn die Werbelokomotive, welche das Logo trug
(Klage N. 27; KB 150 S. 2) war vor rund 17 Jahren unterwegs. Immerhin
stellt die Lokomotive ein weiteres Indiz für die Werbeanstrengungen des
"Lumimart" Marktauftritts dar.
6.4.3.5.4. Gesamtwürdigung
Aufgrund der vorhergehenden Erwägungen ist der Frage der Verkehrs-
durchsetzung der folgende Sachverhalt zu Grunde zu legen:
Seit dem Jahr 1998 werden Fachmärkte für Leuchten, Lampen und Be-
leuchtungszubehör unter dem Zeichen "Lumimart" geführt. Bis September
2018 erfolgte der Marktauftritt zusätzlich mit dem Logo , seit
September 2018 mit dem Logo . Aktuell betreibt die Klägerin
über 30 Lampenfachmärkte, wobei diese teilweise in E.-Filialen integriert
sind. Ausserdem wird seit dem Jahr 2000 eine unter der Domain "www.lu-
mimart.ch" abrufbare Website betrieben. Daneben ist erstellt, dass der
Marktauftritt unter dem Zeichen "Lumimart" und dem Logo seit
zumindest 2009 beworben wird.
Das Gericht ist anlässlich der Prüfung der Verkehrsdurchsetzung nicht an
die Resultate einer demoskopischen Umfrage gebunden, sondern es hat
sämtliche im Einzelfalls einschlägigen Indizien zu würdigen.95 Vorliegend
stützt die Klägerin die von ihr behaupteten Verkehrsdurchsetzung neben
der eingereichten demoskopischen Umfrage auf eine intensive Bewerbung
der "Lumimart" Fachmärkte. Indes haben die bisherigen Ausführungen ge-
zeigt, dass die von der Klägerin vorgetragen Indizien jeweils für sich alleine
nicht zu einem Sachverhalt führen, aufgrund dessen das Gericht die Ver-
kehrsdurchsetzung der "Lumimart" Zeichen bejahen müsste. Daher ist
94 Vgl. WYSS (Fn. 72), S. 201; BVGer B-4519/2011 vom 31. Oktober 2012 E. 7.3; B-3536/2011 vom
14. Juli 2012 E. 6.5. 95 WYSS (Fn. 72), S. 227.
- 48 -
nachfolgend zu prüfen, ob eine Gesamtwürdigung den Schluss einer Ver-
kehrsdurchsetzung zulässt.96
Seit dem Jahr 1998 und damit seit über 20 Jahren werden unter dem Zei-
chen "Lumimart" Fachmärkte für Leuchten und Zubehör betrieben. Der
Marktauftritt unter dem Zeichen "Lumimart" ist insofern einzigartig, als dass
es sich um die einzige Fachmarktkette für Leuchten und Zubehör mit stati-
onären Läden in der Schweiz handelt (vgl. Replik N. 52; Duplik N. 95 f.).
Während die Fachmarktkette zu Beginn 7 Filialen aufwies (E. 6.4.3.5.1
hiervor), umfasst das aktuellste aktenkundige Filialnetz über 30 Filialen in
der deutschsprachigen und der französischsprachigen Schweiz. Es liegt
daher ein langjähriger Gebrauch des Zeichens "Lumimart" und des Logos
vor. Aufgrund des langjährigen Bestands und der Expansion zu
einem dichten Filialnetz ist erstellt, dass unter den "Lumimart" Zeichen eine
bedeutende Marktposition aufgebaut wurde.
Diese Marktposition wurde zudem von langjährigen Werbeanstrengungen
in Print und Radio begleitet. Insbesondere die langjährige und regelmäs-
sige Werbung in der A. Zeitung stellt ein starkes Indiz für eine Verkehrs-
durchsetzung des Zeichens "Lumimart" und des Logos dar.
Dadurch erscheint schliesslich als höchst unwahrscheinlich und wird durch
nichts indiziert, dass die von der Klägerin eingereichten Prospekte der
Jahre 1998 bis 2008 nicht verwendet wurden. Vielmehr ist davon auszuge-
hen, dass damit die unter dem Zeichen "Lumimart" und den Logos
resp. betriebenen Fachmärkte beworben wurden.
Gleiches gilt schliesslich für die Werbung mit der Lokomotive und im Radio.
Anlässlich der Gesamtwürdigung ist daher von einer Verkehrsdurchset-
zung des Zeichens "Lumimart" und des Logos auszugehen. Da
die Domain "lumimart.ch" sowie das Logo vom Wortbestandteil
"Lumimart" geprägt werden, ist auch insoweit von einer Verkehrsdurchset-
zung in der deutschsprachigen sowie der französischsprachigen Schweiz
auszugehen. Hinsichtlich der italienischsprachigen Schweiz hat die Kläge-
rin keine Tatsachen behauptet, die auf eine Verkehrsdurchsetzung schlies-
sen lassen. Insb. besteht im entsprechenden Landesteil keine Filiale (vgl.
KB 21).
Dieser Schluss wird schliesslich durch die von der Klägerin eingereichte
Marktbefragung (E. 6.4.3.4 hiervor) nicht umgestossen. Die Beklagte be-
streitet zwar die Beweistauglichkeit der Marktbefragung, da insb. die Stich-
probe von 500 Personen zu klein sei (Klageantwort N. 47), keine Personen
in der italienischsprachigen Schweiz teilgenommen hätten (Klageantwort
N. 47), die spontane Bekanntheit nur durchschnittlich sei (Klageantwort
96 WYSS (Fn. 72), S. 242.
- 49 -
N. 46), eine Bekanntheit von 45.6 % zu tief sei (Duplik N. 172), die spon-
tane Bekanntheit von 63 % im Jahr 2010 auf 52 % im Jahr 2016 gesunken
sei (Duplik N. 563). Die Marktbefragung würde jedoch nur dann gegen eine
Verkehrsdurchsetzung der "Lumimart" Zeichen sprechen, wenn bei einem
korrekten Studiendesign ein zu tiefer Kennzeichnungsgrad ermittelt worden
wäre.97 Derartige Umstände lassen sich den Akten indes nicht entnehmen.
Einerseits ist umstritten, ob ein korrektes Studiendesign verwendet wurde.
Andererseits liegt keine tiefe Bekanntheit des Zeichens "Lumimart" vor, zu-
mal die spontane Bekanntheit (vgl. Frage F1a) mit einer Wahrscheinlichkeit
von 95 % zwischen 47.5 % und 56.3 % liegt (Replik N. 127; insoweit nicht
bestritten in Duplik N. 180).
Insgesamt erscheint die Verkehrsdurchsetzung der fraglichen "Lumimart"-
Zeichen als erstellt; so ist belegt, dass in der Schweiz bereits seit rund
20 Jahren "Lumimart"-Fachgeschäfte betrieben werden und das heutige Fi-
lialnetz über 30 Filialen in der deutschsprachigen und französischsprachi-
gen Schweiz umfasst. Dies alleine sind starke Indizien. Dazu kommt, dass
die Klägerin verschiedene Werbeaufwendungen nachgewiesen hat (Radi-
owerbung, Printwerbung, Werbung auf SBB-Lokomotive), welche insge-
samt ebenfalls für das Vorliegen einer Durchsetzung des Zeichens im Ver-
kehr sprechen. Schliesslich deutet auch die demoskopische Umfrage, die
für sich alleine zum Nachweis der Verkehrsdurchsetzung zwar unzu-
reichend ist und welche eine erhöhte Bekanntheit belegt, auf eine durch die
Bekanntheit erlangte Durchsetzung hin.
Folglich begründet die Verkehrsdurchsetzung eine derivative Kennzeich-
nungskraft des Zeichens "Lumimart" und der Domain "lumimart.ch" sowie
einen zumindest leicht erweiterten Schutzbereich der originär schwach
kennzeichnungskräftigen Logos und .
6.4.3.6. Zwischenfazit
Zusammenfassend ist erstellt, dass sich die "Lumimart"-Zeichen in der
deutschsprachigen und der französischsprachigen Schweiz im Verkehr
durchgesetzt haben.
6.4.4. Nachträgliche Verwässerung
6.4.4.1.
In ihrem Eventualstandpunkt macht die Beklagte geltend, der weit verbrei-
tete Gebrauch der Zeichenbestandteile "Lumi" und "mart" durch Dritte führe
zu einer nachträglichen Verwässerung des Wortzeichens "Lumimart" (Kla-
geantwort N. 190 ff.).
97 Ähnlich WYSS (Fn. 72), S. 242.
- 50 -
6.4.4.2. Wortbestandteil "lumi"
Wie gezeigt ist der Wortbestandteil "lumi" im Zusammenhang mit dem Ver-
trieb von Leuchten, Leuchtmitteln und Beleuchtungszubehör beschreibend
(vgl. E. 6.4.2.3.2). Mangels Kennzeichnungskraft des Wortbestandteils
"lumi" besteht kein Raum für die eventualiter geltend gemachte Verwässe-
rung.
6.4.4.3. Wortbestandteil "mart"
Im Markenrecht ist anerkannt, dass der Gebrauch von zumindest ähnlichen
Drittzeichen für gleiche oder ähnliche Waren und Dienstleistungen die
Kennzeichnungskraft eines Zeichens schwächen kann.98 Ob die nachträg-
liche Verwässerung auch lauterkeitsrechtlich zu berücksichtigen ist, wird
von Lehre und Rechtsprechung soweit ersichtlich nicht thematisiert. Jedoch
dürfte ein konkurrenzierender inländischer Marktauftritt mit einem zumin-
dest ähnlichen Drittzeichen die Kennzeichnungskraft eines Zeichens
schwächen. Für sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen ist die Beklagte
beweisbelastet (Art. 8 ZGB).
Die Eintragung einer Vielzahl von ähnlichen Zeichen kann die Vermutung
des tatsächlichen Gebrauchs der eingetragenen Zeichen begründen.99
Diese natürliche Vermutung entbindet die Beklagte jedoch nicht davon, die
Zeichenähnlichkeiten der eingetragenen Zeichen zumindest schlüssig zu
behaupten. Vorliegend behauptet die Beklagte pauschal, es gebe in der
Schweiz rund 1'715 Marken mit dem Bestandteil "mart", davon seien 130
für Waren in der Klasse 11 geschützt (Klageantwort N. 77). Mit dem Ver-
weis auf KAB 5 - 21/2 hat die Beklagte jedoch nicht einmal schlüssig be-
hauptet, welche der eingetragenen Zeichen dem klägerischen Zeichen "Lu-
mimart" zumindest ähnlich sein sollen. Es ist nicht Aufgabe des Gerichts,
die in der Beilage aufgeführten Zeichen auf eine Zeichenähnlichkeit hin zu
untersuchen, zumal sich die Zeichenähnlichkeit nicht bereits aus dem Zei-
chenbestandteil "mart" ergibt, sondern sich stets anhand des Gesamtein-
drucks bemisst.100 Folglich ist die Beklagte mit ihren Einwendungen unter
dem Titel "nachträgliche Verwässerung" nicht zu hören.
6.4.5. Schutzwürdige Marktposition
6.4.5.1. Parteibehauptungen
Die Klägerin führt aus, sie habe ihre Marktposition rechtmässig erlangt. Sie
verfüge über sämtliche möglichen Rechte an den von ihr verwendeten Zei-
chen und benütze diese durchgehend seit über 20 Jahren und auch gegen-
wärtig in der Schweiz (Klage N. 103; Replik N. 430; KB 178).
98 BSK MSchG-STÄDELI/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 N. 53 m.w.N. 99 Siehe SHK MSCHG-JOLLER (Fn. 121), Art. 3 N 113 f. m.w.N. 100 Vgl. BGer 4A_443/2017 vom 30. April 2018 E. 2.2.1 m.w.N.; 4A_281/2017 vom 22. Januar 2018
E. 5.3.
- 51 -
Die Beklagte bestreitet eine schutzwürdige Marktposition der Klägerin. Sie,
die Beklagte, verfüge über die älteren Markenrechte am Zeichen "Lumin-
arte". Eventualiter verletze die Klägerin die Markenrechte der Beklagten
(Klageantwort N. 207). Sodann werde bestritten, dass die Klägerin über
sämtliche möglichen Rechte an den von ihr verwendeten Zeichen verfüge.
Sie sei weder Inhaberin der Marke 29-434099 noch habe sie eine Lizenz
der A.-Gruppe Genossenschaft behauptet oder substanziiert. Schliesslich
benütze die Klägerin das Zeichen "Lumimart" erst seit 2013. Sodann sei
das Logo durch das Logo ersetzt worden, womit
diesbezüglich mangels Gebrauch ohnehin keine schutzwürdige Marktposi-
tion vorliege (Klageantwort N. 208).
6.4.5.2. Rechtliches
Durch Art. 3 Abs. 1 lit. d UWG soll unter anderem verhindert werden, dass
die Wertschätzung, die das Angebot eines Mitbewerbers bei den Konsu-
menten geniesst, auf unlautere Weise für die Vermarktung eigener Waren
ausgenutzt wird. Dieser Schutz gegen Ausnutzung setzt jedoch grundsätz-
lich voraus, dass überhaupt eine schutzwürdige Marktposition gegeben
ist.101 Schliesslich steht ein seit längerer Zeit nicht mehr vorgenommener
Gebrauch des für den Marktauftritt relevanten Kennzeichens der Berufung
auf eine schutzwürdige Marktposition entgegen.102
6.4.5.3. Würdigung
Entgegen der Sichtweise der Beklagten (N. 34 und 39 der Noveneingabe
vom 25. März 2019) ist für das Tatbestandselement der schutzwürdigen
Marktposition nicht zwischen dem stationären Handel und dem Onlinehan-
del zu unterscheiden. Der Markt für Lampen und Leuchtmittel lässt sich
nicht in den Onlinehandel einerseits und den stationären Handel anderer-
seits aufteilen. Es handelt sich dabei bloss um eigenständige Absatzka-
näle, die jedem Marktteilnehmer offenstehen. Daher ist das Tatbestandse-
lement der schutzwürdigen Marktposition nicht für die beiden Absatzkanäle
je einzeln zu prüfen.
Aus dem Swissregauszug (KB 18) geht hervor, dass die Wort-/Bildmarke
Nr. 2P-434099 am 10. Dezember 1996 eingetragen wurde (S. 1). Inhaberin
der Marke war bis am 13. November 2003 die N. SA (S. 3). Mit Vertrag vom
8. September 2002 zwischen der O. S.A. und der A. wurde Letztere Eigen-
tümerin sämtlicher Inhaberaktien der N. S.A., Betreiberin der damaligen Lu-
mimart-Filialen (KB 13). Soweit die Beklagte den Vertrag vom 8. Septem-
ber 2002 aufgrund der Schwärzungen jegliche Beweiswirkungen abspre-
chen will, ist ihr nicht zu folgen (Duplik N. 43). Urkunden sind grundsätzlich
101 BGE 125 III 193 E. 2b. 102 Vgl. SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 46), Art. 3 lit. d N. 23 f.; BSK UWG-ARPAGAUS
(Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 61; DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 62.
- 52 -
vollständig einzureichen, wobei für den Prozess unerhebliche Teile un-
kenntlich gemacht werden können. Im Streitfall entscheidet das Gericht.103
Der Vertrag vom 8. September 2002 (KB 13) dient als Beweismittel zur klä-
gerischen Behauptung, dass das Zeichen "Lumimart" von der N. S.A ge-
braucht wurde und A. sämtliche Aktien und damit die Rechte am Zeichen
"Lumimart" im Jahr 2002 übernahm (Klage N. 17). Daher vermögen die
Schwärzung der Passagen im Zusammenhang mit dem Kaufpreis, der Zu-
sammensetzung der Aktien sowie der Korrespondenzadressen (KB 13:
Präambel, Ziff. 1.1, 1.3, 2.1, 2.2, 2.3, 3, 4.4, 4.8 und 6.6) die Beweistaug-
lichkeit des Vertrags nicht zu beeinträchtigen. Gleiches gilt für die Schwär-
zungen unter Ziff. 5 "Closing". Denn es ist für das Gericht aufgrund der Prä-
ambel sowie Ziff. 1.1, 3 des Vertrages erstellt, dass der Marktauftritt unter
dem Zeichen "Lumimart" im Jahr 2000 durch die N. S.A betrieben wurde
und A. sämtliche Aktien der N. S.A erworben hat. Daher erübrigt sich die
von der Beklagten beantragte Edition des vollständigen Aktienkaufvertra-
ges vom 8. September 2002 (vgl. Duplik N. 43).
Mit Vertrag vom 8. Mai 2003 fusionierten die N. S.A. sowie die P. AG
(KB 14). Im Geschäftsjahr 2004 wurde der betriebliche Teil der P. AG an
die A.-Gruppe Genossenschaft (damals unter A. Genossenschaft firmie-
rend) übertragen (KB 15 S. 97). Entgegen den Ausführungen der Beklag-
ten handelt es sich bei KB 15 nicht um eine Parteibehauptung. Der Ge-
schäftsbericht der A.-Gruppe wurde nicht mit Blick auf den vorliegenden
Prozess erstellt und stellt daher eine Urkunde i.S.v. Art. 177 ZPO dar. Auf-
grund des Prüfberichts der Q. AG vom 10. März 2005 (KB 15 S. 109) sieht
das Gericht keine Anhaltspunkte, um an der Beweiskraft des Geschäftsbe-
richt A.-Gruppe zu zweifeln. Insbesondere lassen auch die Ausführungen
der Beklagten im Zusammenhang mit Fusion der R. AG sowie S. AG (Dup-
lik N. 113; KAB 33/1 f.) keine Zweifel an der Übertragung des betrieblichen
Teils und damit der Lumimart Fachmärkte an die A.-Gruppe Genossen-
schaft (damals unter A. Genossenschaft firmierend) aufkommen. Überdies
ist das beklagtische Editionsbegehren zu unbestimmt, da aufgrund der ge-
nerellen Umschreibung "Unterlagen zur Übernahme des Geschäftsbetriebs
Einzelhandel der damaligen P. AG bzw. S. AG durch die Klägerin" nicht
feststeht, welche Urkunden zu edieren sind.104 Seit dem 9. August 2006 ist
die A.-Gruppe Genossenschaft Inhaberin der Marke Nr. 2P-434099
(KB 18 S. 3 f.). Im Frühjahr 2013 wurde der Detailhandelsbe-
trieb unter dem Zeichen "Lumimart" auf die Klägerin übertragen (vgl.
KB 17). Schliesslich wurde der Klägerin im Frühjahr 2013 mittels Lizenz-
vertrag (vgl. Ziff. 13 des Aktenzusammenzugs) das Recht zum Gebrauch
103 BK ZPO-RÜETSCHI, 2012, Art. 180 N. 2; BSK ZPO-DOLGE, 2017, Art. 180 N. 14; WEIBEL, in: Sutter-
Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Hrsg.), 3. Aufl. 2016, Art. 180 N. 11. 104 Siehe HGer ZH, HG150112-0 vom 8. Februar 2016 E. 5.12.3; BSK ZPO-SCHMID, 2017, Art. 160
N. 23; vgl. auch LIVSCHITZ/SCHMID, Sie wollen klagen – Ihr Gegner hat die Beweise – und ihre Abwehr: Neuerungen im Kontext der eidgenössischen aus Sicht der Praxis, AJP 2011, S. 740.
- 53 -
der Marke Nr. 2P-434099 eingeräumt (Replik N. 35, 430, 555; KB 200). Mit
ihren Ausführungen in der Noveneingabe vom 23. April 2019 hat die Be-
klagte sodann nicht aufgezeigt, dass der Lizenzvertrag mit Bezug auf die
Marke keine Wirkungen entfalten würde. Entsprechend war die
Klägerin befugt, den von ihr betriebenen Marktauftritt mit dem Zeichen "Lu-
mimart" zu kennzeichnen. Daher haben die Klägerin resp. ihre Rechtsvor-
gängerinnen den Marktauftritt unter dem Zeichen "Lumimart" rechtmässig
erwirtschaftet und es liegt eine schutzwürdige Marktposition vor.
Was die Beklagte demgegenüber mit teilweise nicht nachvollziehbaren Be-
hauptungen vorbringt, vermag nicht zu überzeugen. Wie gezeigt, verfügt
die Klägerin über die notwendigen Rechte, damit sie seit Frühjahr 2013 un-
ter dem Zeichen "Lumimart" am Markt teilnehmen kann. Ebenso bestehen
keine Anhaltspunkte, welche auf einen unrechtmässigen Zeichengebrauch
der Rechtsvorgängerinnen der Klägerin schliessen liessen.
Schliesslich kommt dem Lizenzvertrag (vgl. Ziff. 13 des Aktenzusammen-
zugs) entgegen den Ausführungen der Beklagten (N. 6 ff. der Novenein-
gabe vom 23. April 2019) Entscheidrelevanz zu. Wie noch zu zeigen sein
wird (E. 6.6.3 hiernach), unterscheidet sich der von den Konsumenten
wahrgenommene Marktauftritt unter dem Logo nicht massge-
bend vom früheren Marktauftritt mit dem Logo . Entsprechend
ist im Rahmen des Tatbestandselements der schutzwürdigen Marktposition
ebenfalls auf den Marktaufritt vor September 2018 einzugehen.
6.4.6. Zwischenfazit
Die beiden Logos und verfügen über eine schwa-
che originäre Kennzeichnungskraft. Der damit einhergehende enge
Schutzbereich wird indes aufgrund der Verkehrsdurchsetzung der Zeichen
erweitert. Demgegenüber kommt dem Wortzeichen "Lumimart" und dem
Domainnamen "lumimart.ch" einzig derivative Kennzeichnungskraft zu.
6.5. Verwechslungsgefahr
6.5.1. Parteibehauptungen
6.5.1.1. Klägerin
Die Klägerin behauptet eine Verwechslungsgefahr zwischen sämtlichen
von der Klägerin und der Beklagten benützten Zeichen. Die Umfrage des
T. zeige, dass es bereits zu Verwechslungen gekommen sei (KB 170 S. 4).
Zur Ähnlichkeit der Wortzeichen "Lumimart" und "Luminarte" führt die Klä-
gerin insbesondere das Folgende aus:
(1) Die beiden Wortzeichen würden in den Buchstaben 1 - 4 sowie 6 - 8
übereinstimmen (Klage N. 119). Sie seien sodann praktisch gleich lang
und hätten den gleichen Zeichenanfang ("Lumi") und ein ähnliches Zei-
chenende. Die ersten beiden Silben "lu" und "mi" seien identisch, die
dritte ähnlich ("mar" und "nar") (Replik N. 455). Dies führe in Schriftbild
- 54 -
und Wortklang zu einer hohen Ähnlichkeit. Des Weiteren stimme die
Vokalabfolge der Zeichen bis auf den Buchstaben E am Ende von "Lu-
minarte" überein, was wiederum für einen ähnlichen Wortklang spre-
che. Dasselbe gelte in Bezug auf die ähnliche Konsonantenabfolge
"LMMRT" und "LMNRT" (Klage N. 120);
(2) Die Zeichen würden sich vorab im fünften Buchstaben unterscheiden,
wobei die Buchstaben M und N sich in Aussprache und Klang stark
ähneln würden. Diese seien als eher tief, summend und weich zu be-
zeichnen (Replik N. 458). Weiter bestehe ein Unterschied im Endbuch-
staben E. Dieser sei allerdings vernachlässigbar, da er bei der Ausspra-
che unbetont bleibe (Klage N. 121);
(3) Bei beiden Zeichen handle es sich um lange Worte, bei welchen die
Gefahr besonders gross sei, dass dem Publikum marginale Unter-
schiede in Schriftbild und Wortklang entgehen könnten (Klage N. 122);
(4) Hinsichtlich des Sinngehalts werde bestritten, dass der Schweizer Ab-
nehmer das beklagtische Zeichen als "Lichtkunst" oder "Leuchtkunst"
verstehen würden. Wenn überhaupt würde nur der italienischsprachige
Teil der Schweiz dem beklagtischen Zeichen einen Sinngehalt zuord-
nen. Es handle sich beim Wortzeichen "Luminarte" um eine Wortneu-
schöpfung, so dass dessen Sinngehalt von einem Grossteil des Publi-
kums nicht oder nur mit erheblichem Denkaufwand erkannt werde. Dies
ergebe sich auch aus dem Gutachten des T. (KB 170 S. 8 f.). Daher
könne die in den anderen Elementen bestehende Zeichenähnlichkeit
nicht durch den Sinngehalt kompensiert werden (Klage N. 123-126).
Insbesondere sei der Wortteil "lumi" nicht gemeinfrei (Replik N. 452).
Daher sei keinem der beiden Zeichen ein eindeutiger Sinngehalt zuzu-
messen (Replik N. 181);
(5) Schliesslich hätten bei Gutachten des T. 45 % aller Befragten die Wort-
zeichen in ihrer Ausgestaltung als Logo verwechselt. Dies spreche ge-
gen eine kennzeichnungskräftige Ausgestaltung der beiden Logos so-
wie für eine noch höhere Verwechslungsgefahr bei reinen Wortzeichen
(Klage N. 128).
Zur Ähnlichkeit der Logos und führt die Klägerin
aus, in beiden Logos sei die graphische Gestaltung kennzeichnungs-
schwach und beeinflusse den jeweiligen Gesamteindruck der Logos nicht.
Der Zusatz "die Lichtmacher" beim beklagtischen Logo sei rein beschrei-
bend und daher nicht kennzeichnungskräftig. Ebenso sei der Buchstabe A
nur geringfügig abgeändert und füge sich immer noch unauffällig ins
Schriftbild ein (Replik N. 473). Keines der beiden Logos enthalte neben
dem Schriftzug auffällige Merkmale, welche dem Betrachter in Erinnerung
bleiben würden (Replik N. 471). Es sei daher davon auszugehen, dass die
sich gegenüberstehenden Wortelemente "Lumimart" und "Luminarte" den
Gesamteindruck der beiden Logos entscheidend beeinflussten (Klage
N. 131). Selbst wenn gewisse graphische Merkmale berücksichtigt würden,
- 55 -
bestehe im Erinnerungsbild der massgeblichen Verkehrskreise zwischen
den beiden Logos Ähnlichkeit: Die Verschiedenheit der Blautöne bleibe
nicht in Erinnerung. Das beklagtische Zeichen erinnere aufgrund der
Grossschreibung und der Schrägstellung der Schrift an ein blaues Recht-
eck. Daher sei der beklagtische Einwand der unterschiedlichen Grösse un-
beachtlich (Replik N. 474).
Der Logowechsel der Klägerin führe zu keinem anderen Ergebnis, da das
neue Logo dem alten sehr ähnlich sehe. Es enthalte insbesondere das-
selbe Wortzeichen, das blaue Rechteck, die stilisierte Glühbirne und sei
ebenfalls in den Farben Blau, Gelb und Weiss gehalten. Aufgrund der ein-
fachen graphischen Ausgestaltung sei es schliesslich hauptsächlich vom
Wortbestandteil "Lumimart" geprägt (Replik N. 469).
Würden die Wortzeichen mit den Logos der Parteien verglichen, bestimme
sich der Gesamteindruck wiederum aufgrund der prägenden Wortelemente
"Lumimart" und "Luminarte" (Klage N. 133 f.).
Hinsichtlich des Marktauftritts macht die Klägerin geltend, die Parteien bö-
ten Leuchten und Zubehör an. Daher umfassten die Angebote der Parteien
nahezu identische Waren. Überdies seien sich Parteien geografisch nahe.
Die Gesellschaftssitze lägen nur etwa 70 km entfernt und die Parteien be-
wegten sich geografisch im gleichen Markt. Schliesslich lägen überschnei-
dende Kundenkreise vor. Beide Parteien würden dieselben Verkaufskanäle
verwenden und ihre Waren in einer ähnlichen Art und Weise präsentieren
(Klage N. 137 - 144).
Entgegen den beklagtischen Ausführungen wisse der durchschnittliche
Käufer gerade nicht im Voraus, welche konkrete Lampe er suche resp. kau-
fen möchte. Viel eher werde er sich zunächst einen Überblick über die Aus-
wahl verschaffen wollen. Bei einer derartigen Suche werde der Abnehmer
auf die Werbung der Parteien stossen, wobei eine Verwechslungsgefahr
insbesondere aufgrund der starken Zeichenähnlichkeit unausweichlich sei
(Replik N. 483).
6.5.1.2. Beklagte
Die Beklagte bestreitet die Verwechslungsgefahr (Klageantwort N. 213).
Insbesondere habe die Klägerin noch keine Verwechslung nachgewiesen,
obwohl die beiden Zeichen in der Schweiz seit 2003 nebeneinander ver-
wendet würden (vgl. Duplik N. 207). Sodann sei es sehr unwahrscheinlich,
dass ein Konsument das Logo mit dem Zeichen der Beklagten
verwechsle (Klagantwort N. 210). Die Beklagte führt insbesondere das Fol-
gende aus:
- 56 -
(1) Die Übereinstimmung der Zeichen "Lumimart" und "Luminarte" im ge-
meinfreien Bestandteil "lumi" habe keinerlei Bedeutung bei der Beurtei-
lung der Verwechselbarkeit (Klageantwort N. 218);
(2) Eine Ähnlichkeit im Schriftbild liege nicht vor. Die Zeichen verfügten
über eine unterschiedliche Länge (acht bzw. neun Buchstaben), was
durch den zusätzlichen (breiten) Buchstaben M beim klägerischen Zei-
chen noch akzentuiert werde. Daher ähnelten sich die Buchstaben M
und N weder im Schriftbild noch im Wortklang. Weiter bestehe das be-
klagtische Zeichen aus vier Silben, das klägerische Zeichen demge-
genüber aus drei. Von diesen Silben stimme nur die Erste ("Lu") über-
ein. Das unterschiedliche Ende der beiden Zeichen bewirke optisch zu-
dem einen deutlich unterscheidbaren Gesamteindruck. Schliesslich
würden auch keine langen Zeichen vorliegen. Massgebend sei nur der-
jenige Wortteil, welcher nicht gemeinfrei sei, d.h. vorliegend "mart" und
"narte". Somit stünden sich ein einsilbiges und ein zweisilbiges Wort
gegenüber (Klageantwort N. 222);
(3) Eine Ähnlichkeit bezüglich Wortlaut liege ebenfalls nicht vor. Die Zei-
chen würden nicht dieselbe Vokalfolge aufweisen, da das Zeichen der
Beklagten ein zusätzliches E aufweise. Somit liege eine Abweichung
von mindestens 25 % vor. Zusammen mit der unterschiedlichen Silben-
anzahl liege ein unterscheidbarer Wortklang vor. Des Weiteren würden
sich die beiden Zeichen in der Betonung unterscheiden. Beim klägeri-
schen Zeichen liege diese auf der ersten Silbe "Lu", beim Zeichen der
Beklagten auf der zweitletzten Silbe "ar" (Klageantwort N. 223). Sodann
würden die Buchstaben M und N an völlig unterschiedlichen Orten im
Mund gebildet und würden daher einen unterschiedlichen Klang auf-
weisen. Zudem werde der Buchstabe E im beklagtischen Zeichen aus-
gesprochen (Klageantwort N. 225) Weiter würden sich die Wortendun-
gen "-mart" und "-arte" nicht reimen, was gegen eine Zeichenähnlichkeit
spreche (Duplik N. 601);
(4) Eine Ähnlichkeit sei auch bezüglich des Sinngehalts zu verneinen. Das
beklagtische Zeichen weise in allen Landessprachen ohne Weiteres die
Bedeutung "Lichtkunst" resp. "Leuchtenkunst" auf (Klageantwort
N. 226). Unter dem klägerischen Zeichen werde hingegen ohne Weite-
res der Sinngehalt "Lichtmarkt" resp. "Leuchtenmarkt" erkannt. Folglich
würden sich die streitverfangenen Zeichen im Sinngehalt deutlich un-
terscheiden (Klageantwort N. 228 f.). Schliesslich leide die Umfrage
des T. an methodischen Mängeln leiden, so dass daraus keine Rück-
schlüsse gezogen könnten (Klageantwort N. 231);
(5) Im Gesamtzusammenhang verbleibe dem breiten Publikum beim klä-
gerischen Logo primär das Bildelement sowie die grafische
Gestaltung inklusive der Farben und nicht der beschreibende Wortbe-
standteil in Erinnerung (Klageantwort N. 238). Die unterschiedlichen
Gestaltungselemente der Logos und trügen
- 57 -
zur Unterschiedlichkeit der Logos bei. Dem beklagtischen Logo fehle
es am gleichen Blau-Farbton, an der beschreibenden graphischen Ab-
bildung, der blauen Umrandung sowie der unterschiedlichen Einfär-
bung des Wortbestandteils. Demgegenüber weise das Logo den in
schwarzer Schrift gehaltenen Zusatz "DIE LICHTMACHER" auf, der
linke Schenkel des Buchstabens A erstrecke sich unter die Grundlinie
und der rechte Schenkel sei in der Mitte durch einen weissen Balken
unterbrochen (Klageantwort N. 239). Sodann seien die Zeichen in der
Grösse sowie Gross- und Kleinschreibung nicht zu vergleichen (Kla-
geantwort N. 240);
(6) Zwischen den Wortzeichen und Logos der Parteien bestehe aufgrund
der Unterscheide in den Wortelementen und der graphischen Ausge-
staltung keine rechtlich relevante Ähnlichkeit (Klageantwort N. 242 f);
(7) Beide Parteien böten Beleuchtungsgeräte, Leuchten und Leuchtmittel
von Drittherstellern an. Der Wettbewerb zwischen den Parteien werde
einzig über den Preis entschieden und nicht etwa dadurch, dass die
Beklagte versuchen würde, bei den Konsumenten einen Eindruck zu
erwecken, als würden sie eine Lampe oder Leuchte bei der Klägerin
kaufen. Eine Verwechslungsgefahr bezüglich der Identität des anbie-
tenden Geschäftsbetriebs, wie sie die Klägerin behaupte, könne von
vornherein ausgeschlossen werden (Klageantwort N. 246);
(8) Die Beklagte kommuniziere jeweils klar ihre Adresse in Deutschland.
Zwar enthalte ihr Webshop Hinweise für Schweizer Kunden. Jedoch
führe dieser Hinweis den Konsumenten gerade vor Augen, dass sie
sich auf der Webseite eines in Deutschland domizilierten Anbieters be-
finden würden. Daher unterscheide sich der Marktauftritt der Beklagte
klar von demjenigen der Klägerin (Duplik N. 596);
(9) Die Webseite "www.luminarte.de" weise auf jeder Seite zuoberst einen
Hinweis auf die deutsche Adresse der Beklagte hin. Es sei dem Konsu-
menten daher bewusst, dass er sich auf der Webseite eines deutschen
Anbieters und nicht etwa der Klägerin befinde. Zudem erwarte der
durchschnittliche schweizerische Abnehmer auch nicht, dass die Klä-
gerin zusätzlich zu ihrem schweizerischen Online-Shop auf "www.lu-
mimart.ch" einen damit konkurrierenden Online-Shop in Deutschland
mit besonderer Ausrichtung für schweizerische Kunden betreiben und
dafür erst noch ein anderes Zeichen als "lumimart" benützen würde
(Duplik N. 611).
6.5.2. Rechtliches
6.5.2.1. Zur Verwechslungsgefahr
Unlauter handelt nach Art. 3 Abs. 1 lit. d UWG insbesondere, wer Mass-
nahmen trifft, die geeignet sind, Verwechslungen mit den Leistungen oder
dem Geschäftsbetrieb eines anderen herbeizuführen. Unter diesem mitun-
ter als wettbewerbsrechtlicher Kennzeichenschutz bezeichneten Tatbe-
stand der Schaffung einer Verwechslungsgefahr mit den Leistungen oder
- 58 -
dem Geschäftsbetrieb eines anderen fallen sämtliche Verhaltensweisen,
bei denen das Publikum durch die Schaffung von Verwechslungsgefahr ir-
regeführt wird, insbesondere um den Ruf der Wettbewerber auszubeuten.
Ob eine lauterkeitsrechtliche Verwechslungsgefahr besteht, ist dabei hin-
sichtlich eines konkreten Wettbewerbsverhaltens zu bestimmen.105
Der Begriff der Verwechslungsgefahr ist nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung für das gesamte Kennzeichenrecht einheitlich zu um-
schreiben.106 Eine unmittelbare Verwechslungsgefahr ist zu bejahen, so-
fern die massgeblichen Verkehrskreise zwischen den streitgegenständli-
chen Zeichen nicht unterscheiden können respektive diese dem gleichen
Unternehmen zuordnen.107 Eine mittelbare Verwechslungsgefahr liegt
demgegenüber vor, wenn die massgeblichen Verkehrskreise die Zeichen
zwar nicht dem gleichen Unternehmen zuordnen, jedoch davon ausgehen,
die beiden Unternehmen seien wirtschaftlich eng miteinander verbun-
den.108 Ausreichend ist dabei die (irrige) Annahme, es lägen enge rechtli-
che, wirtschaftliche oder sonstige organisatorischen Verbindungen vor.109
Allerdings ist im Gegensatz zum Markenrecht nicht einzig auf allfällige Re-
gistereinträge abzustellen. Vielmehr gilt es, den gesamten Marktauftritt und
damit die gesamten Umstände zu würdigen.110 Massgebend ist daher der
Gesamteindruck, welcher aus den tatsächlich gebrauchten Zeichen sowie
weiteren Elementen ausserhalb der jeweiligen Zeichen entsteht.111 Ebenso
braucht die Verwechslungsgefahr nicht zwingend produktbezogen zu sein,
eine Verwechslungsgefahr in Bezug auf Unternehmen ist ausreichend.112
Die Verwechslungsgefahr bestimmt sich insbesondere anhand der Kenn-
zeichenkraft des älteren Zeichens, der Zeichen- und der Produktähnlich-
keit.113 Schwache Zeichen, die bspw. als Hinweis auf die Tätigkeit des Un-
ternehmens zu verstehen sind, begründen regelmässig nur einen geringen
105 BGer 4A_83/2018 vom 1. Oktober 2018 E. 5.1; BGE 140 III 297 E. 7.2.1 m.w.N. 106 BGer 4A_83/2018 vom 1. Oktober 2018 E. 3.1; BGE 128 III 401 E. 5; 127 III 160 E. 2a; 126 III 239
E. 3a; DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 39. 107 DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 47; SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄU-
SER (Fn. 48), Art. 3 lit. d N. 28. 108 Vgl. BGE 135 III 446 E. 6.1; 128 III 146 E. 2a; 127 III 160 E. 2a; 116 II 365 368 E. 3a; DIKE UWG-
HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 49; SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 lit. d N. 28.
109 DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 49. 110 DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 39; BSK UWG-ARPAGAUS (Fn. 51), Art. 3
Abs. 1 lit. d N. 237 f.; SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 lit. d N. 26. 111 Vgl. HGer ZH HG 170043 vom 20. Dezember 2017 E. 3.4; BSK UWG-ARPAGAUS (Fn. 51), Art. 3
Abs. 1 lit. d N. 91; DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 39, 44; BGE 135 III 446 E 6.1; 116 II 365 E. 3a; DOBLER (Fn. 54), N. 229 m.w.N.; BAUDENBACHER/CASPERS (Fn. 42), Art. 3 lit. d N. 47 m.w.N.
112 DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 39; BGE 116 II 365 E. 3a. 113 DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 45.
- 59 -
Schutzumfang. Diesfalls müssen fremde Zeichen nur einen geringen Ab-
stand einhalten.114 Der Nachweis tatsächlich vorgekommener Verwechs-
lungen ist nicht vorausgesetzt.115 Eine längere Koexistenz von Zeichen
ohne tatsächliche Herbeiführung von Verwechslungen spricht demgegen-
über gegen das Vorliegen einer objektiven Verwechslungsgefahr.116
Die Verwechslungsgefahr wird als Rechtsfrage geprüft, soweit es um das
Verständnis des allgemeinen Publikums geht, welches die streitige Leis-
tung in Anspruch nimmt und kein Branchenverständnis spezifischer Ver-
kehrskreise in Frage steht.117 Beurteilungsmassstab bildet das Erinne-
rungsbild des Durchschnittskunden.118
6.5.2.2. Zur Zeichenähnlichkeit
Zur Beurteilung der lauterkeitsrechtlichen Verwechslungsgefahr können
die im Markenrecht entwickelten Grundsätze beigezogen werden.119
Die Massgeblichkeit des Gesamteindruckes schliesst nicht aus, dass ein
oder mehrere Bestandteile eines komplexen Zeichens dominierend wirken.
Im Gegenteil wird der Gesamteindruck eines Zeichens gerade durch des-
sen kennzeichnungskräftige Elemente geprägt, während schwache oder
gemeinfreie Elemente ihn weniger zu beeinflussen vermögen.120 Bei Zei-
chen, die mehrere Bestandteile enthalten, ist deshalb vorab im Sinne eines
gedanklichen Zwischenschritts die Kennzeichnungskraft der einzelnen Be-
standteile zu bestimmen.121 Dennoch dürfen nach der Rechtsprechung
schwache und selbst gemeinfreie Elemente beim Zeichenvergleich nicht
einfach ausgeklammert werden.122 Eine umfassende Prüfung der Zeichen-
ähnlichkeit hat deshalb auch Zeichenelemente mit geringer Kennzeich-
nungskraft oder gemeinfreie Zeichenbestandteile gleichermassen in die
Beurteilung miteinzubeziehen.123
Bei kombinierten Wort-/Bildzeichen sind die einzelnen Bestandteile nach
ihrer Kennzeichnungskraft zu gewichten. Entscheidend für den Gesamtein-
114 DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 45; BAUDENBACHER/CASPERS (Fn. 42), Art. 3
lit. d N 81. 115 BGE 114 II 106 E. 3b; SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 lit. d N. 27. 116 DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 37; BSK UWG-ARPAGAUS (Fn. 51), Art. 3
Abs. 1 lit. d N. 123; BGE 79 II 98 E. 1b. 117 BGE 135 III 446 E. 6.4, 126 III 239 E. 3a; SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3
lit. d N. 33 je m.w.N.; DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 54. 118 BGE 116 II 365 E. 4a; 95 II 461 E. II.1; DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 52;
SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 lit. d N. 33 m.w.N. 119 DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 44. 120 BVGer B-2711/2016 vom 12. Dezember 2016 E. 6.2 m.w.N. 121 SHK MSchG-JOLLER, 2. Aufl. 2017, Art. 3 N. 81 f.; BVGer B-5786/2011 vom 23. November 2012
E. 4.1. 122 BVGer B-2711/2016 vom 12. Dezember 2016 E. 6.2. 123 BVGer B-5653/2015 vom 14. September 2016 E. 3.3.
- 60 -
druck sind die prägenden Wort- oder Bildelemente, während kennzeich-
nungsschwache Wort- und Bildelemente diesen weniger beeinflussen. Ent-
hält ein Zeichen sowohl charakteristische Wort- wie auch Bildelemente, so
können diese den massgeblichen Erinnerungseindruck gleichermassen
prägen.124
Bei Wortelementen bestimmt sich die Zeichenähnlichkeit durch Schriftbild,
Wortklang und Sinngehalt.125 Der Wortklang wird im Wesentlichen durch
die Silbenzahl, die Aussprachekadenz und die Aufeinanderfolge der Vokale
bestimmt, das Schriftbild durch die Anordnung und optische Wirkung der
Buchstaben sowie die Wortlänge.126 Sowohl betreffend Schriftbild als auch
betreffend Wortklang ist festzuhalten, dass sich jenes wie dieser bei Kurz-
wörtern besser einzuprägen vermag.127 Längere Wörter prägen sich dem
Gedächtnis demgegenüber weniger gut ein als Kurzwörter, so dass Unter-
schiede leichter überhört und überlesen werden.128 Je länger ein Wort ist,
desto weniger fallen entsprechend zusätzliche oder fehlende Buchstaben
auf.129 Ein Wort mit mehr als fünf Buchstaben gilt in der Regel nicht mehr
als Kurzwort.130 Dem Wortanfang kommt für gewöhnlich eine höhere Be-
deutung zu, da er besser im Gedächtnis haften bleibt.131 Abweichungen
oder Übereinstimmungen in den Endungen fallen dagegen meist weniger
ins Gewicht.132 Mit Bezug auf den Wortklang ist zudem die Betonung zu
berücksichtigen.133 Bei der Ermittlung des Sinngehalts sind auch englische
Begriffe zu berücksichtigen, sofern sie für einen erheblichen Teil der mas-
sgeblichen Verkehrskreise verständlich sind.134
Nach ständiger Rechtsprechung und herrschender Lehre indiziert bereits
der Ähnlichkeitsnachweis in einem der drei Aspekte Bild, Klang oder Sinn-
gehalt eine Zeichenähnlichkeit bei einem Wortzeichen.135 Unter Umstän-
den ist es allerdings möglich, dass eine vorhandene Zeichenähnlichkeit
durch einen unterschiedlichen Sinngehalt kompensiert wird.136 Diesbezüg-
lich ist allerdings Zurückhaltung geboten. Es ginge nicht an, den Schutz-
umfang von Zeichen, die einen Sinngehalt aufweisen, auf Zeichen mit ähn-
lichem Sinngehalt zu beschränken. Die Bedingungen, unter denen eine
Verwechslungsgefahr bei verschiedenem Sinngehalt der Zeichen entfällt,
124 BVGer B-2711/2016 vom 12. Dezember 2016 E. 2.4 m.w.N. 125 SHK MSchG-JOLLER (Fn. 121), Art. 3 N. 140. 126 BVGer B-2711/2016 vom 12. Dezember 2016 E. 2.4 m.w.N. 127 SHK MSchG-JOLLER (Fn. 121), Art. 3 N. 144 u. 166. 128 BGE 122 III 382 E. 5a. 129 SHK MSchG-JOLLER (Fn. 121), Art. 3 N. 143 m.w.N. 130 BVGer B-1760/2012 vom 11. März 2013 E. 7.1 f. 131 BVGer B-2711/2016 vom 12. Dezember 2016 E. 2.3 m.w.N.; SHK MSchG-JOLLER (Fn. 121), Art. 3
N. 164 m.w.N.; BSK UWG-ARPAGAUS (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 100. 132 SHK MSchG-JOLLER (Fn. 121), Art. 3 N. 149 m.w.N. 133 SHK MSchG-JOLLER (Fn. 121), Art. 3 N. 167. 134 BGE 129 III 225 E. 5.1. 135 BVGer B-5653/2015 vom 14. September 2016 E. 3.3 m.w.N. 136 BGE 112 II 362 E. 2; 121 III 377 E. 2b.
- 61 -
sind deshalb streng. Es wird verlangt, dass die Wahrnehmung eines Zei-
chens sofort und unwillkürlich eine Assoziation zu einem bestimmten Be-
griff bewirkt respektive dass sich die Sinngehalte beim Hören und beim Le-
sen dem Bewusstsein sogleich aufdrängen. Ausserdem müssen die unter-
schiedlichen Sinngehalte in allen Sprachregionen unmittelbar verständlich
sein. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die klangliche oder visuelle Ähn-
lichkeit zwischen zwei Zeichen so gross sein kann, dass beim flüchtigen
Hören oder Lesen die Gefahr des Verhörens bzw. des Verlesens besteht
und der verschiedene Sinngehalt gar nicht zum Bewusstsein des Betrach-
ters gelangt.137
6.5.3. Einleitung
6.5.3.1. Berücksichtigung des Logos
Das Logo wird von der Klägerin seit dem im September 2018
vollzogenen Logowechsel nicht mehr gebraucht. Aus den klägerischen Be-
hauptungen geht nicht hervor, dass die Wiederaufnahme des Gebrauchs
des Logos ernsthaft in Erwägung gezogen wird. Weil aber der
Nichtgebrauch des Logos noch nicht lange andauert und das
Logo zuvor während rund 20 Jahren verwendet wurde, kann nicht von vorn-
herein ausgeschlossen werden, dass die massgeblichen Verkehrskreise
das Kennzeichen noch dem klägerischen Marktauftritt zuordnen.138 Daher
ist das Logo bei der Beurteilung der Verwechslungsgefahr zu
berücksichtigen.
6.5.3.2. Prüfungsmassstab
Beide Parteien vertreiben in der Schweiz Leuchten, Leuchtmittel und wei-
teres Beleuchtungszubehör an Durchschnittskonsumenten. Insofern be-
wirtschaften die Parteien mit zumindest hochgradig ähnlichen Waren über-
schneidende Zielgruppen. Darüber hinaus verfügen die Parteien über ei-
nen unterschiedlichen Marktauftritt: Der Marktauftritt unter dem Zeichen
"Lumimart" erfolgt seit über 20 Jahren durch den stationären Handel, aktu-
ell betreibt die Klägerin über 30 Standorte. Daneben erfolgt ebenfalls ein
Vertrieb über die Domain "www.lumimart.ch". Die Beklagte ist als deutsche
Anbieterin im schweizerischen Markt einzig aufgrund des auf den Domains
"www.luminarte.ch" und "www.luminarte.de" abrufbaren Webshops prä-
sent. In der Schweiz führt sie keine stationären Filialen.
Soweit die Klägerin aus der Tatsache, dass beide Parteien Print- und Ra-
diowerbung schalten und einen Online Shop betreiben, etwas ableiten will
(Replik N. 490), kann ihr nicht gefolgt werden. Die Werbung in Print und
Radio prägt aufgrund ihrer Üblichkeit die Marktauftritte der Parteien nicht.
137 BVGer B-142/2009 vom 6. Mai 2009 E. 5.4 m.w.N. 138 Siehe auch SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 lit. d N. 24; DIKE UWG-HEI-
NEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 59.
- 62 -
Ebenso ist der Betrieb eines Online Shops unverzichtbar für einen Anbieter,
der sich mit versandfähigen Waren an das Durchschnittspublikum richtet.
Auch wenn Differenzen im Marktauftritt der Parteien erkennbar sind, be-
wirtschaften sie überschneidende Zielgruppen. Daher ist in Anwendung der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung bei der Beurteilung der Verwechs-
lungsgefahr ein strenger Massstab anzulegen.139
6.5.4. Schriftbild
Die Schriftbilder der Zeichen "Lumimart" und "Luminarte" weisen eine
grosse Ähnlichkeit auf. Sie enthalten den Wortanfang "Lumi", sind ähnlich
lang (acht bzw. neun Buchstaben) und enthalten im zweiten Wortbestand-
teil jeweils die Buchstabenfolge "A-R-T". Dabei ist bezüglich der Unter-
schiede auch zu berücksichtigen, dass sich die Buchstaben "N" und "M"
ähnlich sehen und nicht an prominenter Stelle (d.h. insbesondere nicht am
Wortanfang) befinden.140 Der letzte Buchstabe "E" des Zeichens "Lumin-
arte" fällt ebenfalls nicht sonderlich ins Gewicht, da er sich am Wortende
befindet. Bei beiden Zeichen handelt es sich zudem nicht um Kurzworte.141
Daher ist die Gefahr des Verlesens bei einer flüchtigen Wahrnehmung der
beiden Wortzeichen nicht von der Hand zu weisen.
6.5.5. Wortklang
Das Wortzeichen "Lumimart" besteht aus drei, das Wortzeichen "Lumin-
arte" aus vier Silben. Der Zeichenanfang "Lumi" ist identisch. Sehr ähnlich
sind auch die Vokal- (U-I-A vs. U-I-A-E) und die Konsonantenfolge (L-M-M-
R-T vs. L-M-N-R-T). Ebenso lassen sich die stimmhaften Nasenlaute "N"
und "M" akustisch nur schwer unterscheiden.142 Der letzte Buchstabe "E"
des Zeichens "Luminarte" wirkt sich sodann auch akustisch nicht massge-
blich aus. Er bildet Bestandteil der unbetonten Silbe "te" und bleibt somit
selbst unbetont.143 Die daraus resultierende klangliche Ähnlichkeit der
Worte "Lumimart" und "Luminarte" ist offensichtlich. Wiederum ist zu be-
rücksichtigten, dass es sich bei den zu vergleichenden Zeichen nicht um
Kurzworte handelt. Die Zeichen sind sich auch auf klanglicher Ebene ähn-
lich.
6.5.6. Sinngehalt
Der Sinngehalt des Zeichens "Lumimart" wurde bereits erörtert (E. 6.4.2.3
hiervor). Dabei wurde festgestellt, dass die massgeblichen Verkehrskreise
139 Vgl. BGE 135 III 446 E. 6.1; BGer 6B_298/2013 vom 16. Januar 2014 E. 1.2.2; 4A_207/2010 vom
9. Juni 2011 E 5.1; 4A_103/2008 vom 7. Juli 2008 E. 6; 4C.31/2004 vom 8. November 2011 E. 6.2; 4P.222/2006 vom 21. Dezember 2006 E. 3.1.
140 Siehe auch Gerichtskreis VIII Bern-Laupen, sic! 2004, S. 31 ff., 33. 141 Vgl. hierzu BVGer B-1760/2012 vom 11. März 2013 E. 7.1 f. 142 SHK MSchG-JOLLER (Fn. 121), Art. 3 N. 162 mit Verweis auf Gerichtskreis VIII Bern-Laupen, sic!
2004, S. 31 ff., 33. 143 Vgl. auch Duden, Das Aussprachewörterbuch, 7. Aufl. 2015, S. 201.
- 63 -
das klägerische Zeichen zwar nicht sofort, aber dennoch ohne nennens-
werten Gedankenaufwand, als Beleuchtungs- oder Lichtermarkt verstehen.
Das Wortzeichen "Luminarte" ist ebenfalls eine Wortneuschöpfung, die le-
xikalisch nicht erfasst ist. Es fragt sich, ob es vom allgemeinen Publikum
als Fantasiezeichen verstanden wird. Dabei ist vorab zu prüfen, ob sich für
den Abnehmer bei Aufteilung des Wortzeichens in einzelne Bestandteile
ein Sinn erschliesst.144 Denkbar wäre eine gedankliche Aufteilung in
"Lumi"-"narte", was der Silbenaufteilung entsprechen würde. Ebenfalls
denkbar ist eine Zergliederung in die Bestandteile "Lumin"-"arte". So oder
anders wird das allgemeine Publikum den Bestandteil "Lumin" oder allen-
falls "Lumi" als Hinweis auf etwas (Be-)Leuchtendes oder allgemein auf
Licht erkennen und verstehen (eingehend E. 6.4.2.3.2 hiervor).
Beim Zeichenbestandteil "arte" handelt es sich um das italienische Wort für
"Kunst".145 Mit Bezug auf das italienischsprachige Publikum ist entspre-
chend davon auszugehen, dass es das versteht, auch wenn das zwischen-
geschobene "n" die Erfassung des Sinngehalts stört.146 Sodann lautet das
englische sowie französische Wort für "Kunst "art".147 Es ist daher davon
auszugehen, dass das französischsprachige Publikum den Sinngehalt er-
kennt. Die zusätzlichen Buchstaben "n" und "e" vermögen die Wahrneh-
mung nicht massgebend zu beeinflussen. Gleiches gilt für das deutsch-
sprachige Publikum: Der Wort "art" gehört zum englischen Basiswort-
schatz, der beim Schweizer Durchschnittskonsumenten grundsätzlich vo-
rausgesetzt werden darf. Folglich ist davon auszugehen, dass das allge-
meine Publikum das Wortzeichen "Luminarte" ohne nennenswerten Ge-
dankenaufwand i.S.v. Beleuchtungs- oder Lichtkunst versteht. Was die Klä-
gerin dagegen mit Verweis auf KB 170 S. 8 f. vorbringt, verfängt nicht. Die
dort gestellte Frage lautet wie folgt:
"Hier sehen Sie ein Zeichen. Kennen Sie dieses Zeichen von ? Bitte schreiben Sie Ihre Antwort so ausführlich wie möglich in das dafür vorgesehene Feld"
Daraus erhellt, dass die Studienteilnehmer nicht zum Sinngehalt des Logos
, sondern zu dessen Bekanntheit befragt wurden. Folglich
stellt der klägerische Einwand kein Indiz dar, welches gegen die zuvor fest-
gestellte Erkennbarkeit des Sinngehalts sprechen würde.
Damit ist auf der Ebene des Sinngehalts von unterschiedlichen Zeichen
auszugehen. Aufgrund des beschreibenden Zeichenbestandteils "Lumi"
144 Vgl. BVGer B-6927/2015 vom 8. Dezember 2016 E. 6.3 m.w.N. 145 Siehe <https://de.langenscheidt.com/deutsch-italienisch/>, zuletzt abgerufen am 31. März 2020. 146 Tatsächlich dürfte es sich um ein Wortspiel mit den italienischen Wörtern "luminare" (Leuchte, Ka-
pazität) und "arte" (Kunst) handeln. 147 Siehe <https://de.langenscheidt.com/englisch-deutsch/>, <https://de.langenscheidt.com/franzoe-
sisch-deutsch/>, zuletzt abgerufen am 31. März 2020.
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nehmen beide Zeichen auf etwas Leuchtendes bzw. Licht Bezug. Dennoch
decken sich die Sinngehalte der Begriffe "Lumimart" (Beleuchtungs- bzw.
Lichtmarkt) und "Luminarte" (Beleuchtungs-/Lichtkunst) klarerweise nicht.
6.5.7. Vergleich auf bildlicher Ebene
Die figurativen Elemente der klägerischen Logos werden von der Beklagten
im Logo nicht übernommen. Dennoch wird auch dieses
Logo hauptsächlich durch das Wortelement geprägt. Die grafische Ausge-
staltung des Wortelements (blaue Farbe, Grossbuchstaben, fette Schrift)
ist nicht besonders originell. Soweit die Beklagte auf die spezielle Gestal-
tung des Buchstabens "A" hinweist, ist zu berücksichtigen, dass im ver-
schwommenen Erinnerungsbild des Abnehmers nicht jede gestalterische
Einzelheit haften bleibt. Entsprechend ist weder die Unterbrechung des
rechten Schenkels noch die Verlängerung des linken Schenkels des Buch-
staben "A" von prägendem Gehalt.148 Schliesslich enthält das Logo den Zu-
satz "DIE LICHTMACHER". Dieser ist in schwarzer Schrift gehalten und im
Vergleich zum Wortelement "LUMINARTE" aufgrund seiner geringeren
Grösse, der Farbe und der konventionellen Schriftart kaum erkennbar. Das
Logo wird vorab durch die grafische Gestaltung des Wortelements "Lumin-
arte" geprägt. Folglich ist auch beim beklagtischen Logo von einer starken
Prägung des Gesamteindrucks durch das Wortelement auszugehen. Auf
bildlicher Ebene dürfte die grafische Ausgestaltung des Buchstabens "A" in
Erinnerung bleiben, den Gesamteindruck jedoch nicht massgeblich beein-
flussen.
Aufgrund der zuvor gewonnen Erkenntnissen prägen die Wortbestandteile
"Lumimart" respektive "Luminarte" den massgebenden Gesamteindruck
der verwendeten Logos. Im verschwommenen Erinnerungsbild der Abneh-
mer verbleiben das jeweilige Wortelement sowie die blaue Hinterlegung.
Allenfalls können sich Abnehmer vereinzelt an die beschreibenden grafi-
schen Elemente in den Logos (gelber Punkt resp. Glühbirne mit Lichtkegel
bei der Klägerin und "DIE LICHTMACHER" bei der Beklagten) erinnern.
Jedoch vermögen diese figurativen Elemente den massgeblichen Gesamt-
eindruck nicht zu prägen.
6.5.8. Gesamtbetrachtung
Da die Marktauftritte unter den Zeichen "Lumimart" und "Luminarte" ähnli-
che Zielgruppen ansprechen und zumindest das Logo über ei-
nen erweiterten Schutzumfang verfügt, ist anlässlich der Prüfung der Ver-
wechslungsgefahr ein strenger Massstab anzulegen.
Nach der Auffassung des Gerichts werden sämtliche von den Parteien ver-
wendeten Zeichen durch den Wortbestandteil "Lumimart" resp. "Luminarte"
148 Siehe dazu auch BSK UWG-ARPAGAUS (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 94.
- 65 -
geprägt (zu den Logos vgl. E. 6.5.7 hiervor). Das Zeichen "Luminar-
te GmbH" stellt eine Unternehmensbezeichnung dar, bei welcher der übli-
che Rechtsformzusatz hinter die eigentliche Firma zurücktritt. Schliesslich
wird bei Domainnamen vordergründig auf den Second-Level-Domain ab-
gestellt, da die Internetbenützer aus Erfahrung wissen, dass Domainnamen
die Sub-Domain "www" sowie eine gängige (z.B. länderspezifische) Top-
Level-Domain (".ch", ".com", ".de" etc.) aufweisen (siehe auch E. 6.4.2.6
hiervor).
Mit Blick auf das Schriftbild und den Klang besteht eine sehr grosse Ähn-
lichkeit zwischen den Wortzeichen "Lumimart" und "Luminarte". Die Zei-
chenähnlichkeit wird durch die Unterschiede im Sinngehalt nicht kompen-
siert. Zwar wurde festgestellt, dass die unterschiedlichen Sinngehalte für
die massgeblichen Verkehrskreise in sämtlichen Sprachregionen ohne be-
sonderen Gedankenaufwand erkennbar sind. Trotz dieser Erkenntnis ist
nicht davon auszugehen, dass sich der Sinngehalt der streitverfangenen
Zeichen beim Hören und beim Lesen dem Bewusstsein sogleich aufdrängt.
Insbesondere beim deutschsprachigen Publikum erscheint fraglich, ob sich
der Sinngehalt auch bei einer flüchtigen Wahrnehmung der Wortbestand-
teile "lumi" und "narte" (oder allenfalls "arte") aufdrängt. Überdies besteht
in sämtlichen Sprachregionen aufgrund der klanglichen und visuellen Ähn-
lichkeiten die Gefahr, dass sich die Konsumenten bei flüchtiger Wahrneh-
mung verhören oder verlesen. Damit liegt eine Zeichenähnlichkeit vor.
Im Lauterkeitsrecht ist neben den von den Wettbewerbsteilnehmern ver-
wendeten Zeichen ebenfalls der gesamte Marktauftritt zu berücksichti-
gen.149 Bei der Beklagten handelt es sich um eine in Deutschland domizili-
erte Anbieterin. Diese Tatsache wird den massgeblichen Verkehrskreisen
sowohl auf der Webseite der Beklagten (Duplik N. 588) als auch in der
Printwerbung offengelegt (Duplik N. 596). Werbung und Warenpräsenta-
tion weisen insbesondere die deutsche Adresse der Beklagten sowie deren
deutsche Telefonnummer aus. Aufgrund des langjährigen und dichten Fili-
alnetzes der "Lumimart" Fachmärkte ist davon auszugehen, dass die Kon-
sumenten die "Lumimart" Zeichen dem Betreiber von Schweizer Fachmärk-
ten für Leuchten, Leuchtmittel und Beleuchtungszubehör zuordnen. Es er-
scheint daher fraglich, ob die Konsumenten bei Wahrnehmung des Zei-
chens "Luminarte", der Firmenbezeichnung "Luminarte GmbH", der Do-
mains "luminarte.de" und "luminarte.ch" sowie des Logos
mit dem Hinweis auf den in Deutschland gelegenen Sitz des Unternehmens
davon ausgehen, es handle sich dabei um das Unternehmen, welches
ebenfalls unter dem Zeichen "Lumimart", der Domain "lumimart.ch" sowie
den Logos resp. auf dem Schweizer Markt auftritt
(sog. unmittelbare Verwechslungsgefahr).
149 Vgl. die Nachweise in Fn. 111 hiervor.
- 66 -
Indes ist nach der Auffassung des Gerichts eine mittelbare Verwechslungs-
fahr anzunehmen. Beide Parteien präsentieren sich den Konsumenten als
Fachanbieter für Leuchten und Zubehör, die in unterschiedlichen Ländern
domiziliert sind. Die von der Klägerin verwendeten Zeichen haben sich im
Verkehr durchgesetzt und begründen damit eine gefestigte Marktstellung
in der Schweiz. Konkret weist die Beklagte zwar auf ihren Sitz in Deutsch-
land hin und will daraus eine Unterscheidbarkeit zum Kennzeichen der Klä-
gerin ableiten. Dieser Hinweis auf den Sitz in Süddeutschland und die damit
verbundene Differenzierung ist insgesamt zu geringfügig, als dass sie bei
einer Gesamtbetrachtung der beiden fraglichen Zeichen eine Verwechs-
lungsgefahr ausschliessen würde. Aufgrund der erhöhten Schutzwirkung
der "Lumimart"-Zeichen (vgl. vorne E. 6.4.6) hebt sich der Marktauftritt der
Beklagten unter dem Zeichen "Luminarte" insgesamt zu wendig ab. Daher
erscheint es als wahrscheinlich, dass die Konsumenten selbst unter Be-
rücksichtigung der unterschiedlichen geografischen Standorte eine zumin-
dest vorübergehend wirtschaftliche oder organisatorische Verbindung zwi-
schen den Unternehmen vermuten. Da eine vorübergehende Fehlzurech-
nung über die wirtschaftliche Verbundenheit von zwei Unternehmen resp.
Unternehmensteilen von der Lehre und Rechtsprechung als ausreichend
erachtet wird,150 ist eine mittelbare Verwechslungsgefahr zu bejahen.
Schliesslich bleibt zu beachten, dass eine mittelbare Verwechslungsgefahr
auch in Fällen bejaht wird, in denen das jüngere Kennzeichen die Botschaft
"Ersatz für" oder "gleich gut wie" vermittelt und dabei eine eigentliche Fehl-
zurechnung unwahrscheinlich ist. Auch in solchen Fällen der anlehnenden
Bezugnahme wird die Herkunfts- und Unterscheidungsfunktion des älteren
Zeichens beeinträchtigt.151
Weil sämtliche von den Parteien verwendeten Zeichen durch deren Wort-
bestandteil geprägt werden, wird die mittelbare Verwechslungsgefahr
durch das Zeichen "Luminarte", die Firmenbezeichnung "Luminar-
te GmbH", das Logo sowie die Domains "luminarte.ch" und
"luminarte.de" hervorgerufen.
6.5.9. Zwischenfazit
Die von der Beklagten verwendeten Zeichen "Luminarte", "luminarte.de",
"luminarte.ch", "Luminarte GmbH" sowie sind mit den Zei-
chen "Lumimart", ,"lumimart.ch", sowie der Klägerin
verwechselbar im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. d UWG.
150 BSK UWG-ARPAGAUS (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 205; BGE 127 III 160 E. 2a; 122 III 382 E. 1. 151 SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 30 m.w.N.
- 67 -
6.6. Gebrauchspriorität
6.6.1. Parteibehauptungen
6.6.1.1. Klägerin
Die Klägerin führt aus, die Zeichen "Lumimart" und würden seit
1992 als Geschäftsbezeichnung für Fachmärkte für Leuchten und Leucht-
mittel verwendet. Ein weiteres Indiz liege in der Markenanmeldung im Jahr
1996. Spätestens seit dem Jahr 1998 sei der Gebrauch der Bezeichnung
durch die eingereichten Belege nachgewiesen (Klage N. 105 m.V.a. KB 25-
148). Seit 1998 werde das Zeichen "Lumimart" mit einem schweizweiten
Betreiber von Fachmärkten für Lampen und Leuchten verbunden; seit 2000
zusätzlich mit einem Betreiber eines Online-Shops für Lampen und Leuch-
ten. Unabhängig von der Inhaberschaft sei der Marktauftritt über Jahre un-
verändert geblieben. Aus Sicht der Abnehmer spiele es keine Rolle, wer
Inhaber des Geschäfts sei (Replik N. 321 f.). Eventualiter sei die Klägerin
unter der Bezeichnung "Lumimart" am 6. Mai 2013 auf dem Markt aufge-
treten (Replik N. 326).
Der Marktauftritt von "Lumimart" erfolge nicht nur mit dem Logo, sondern
ebenfalls dem Wortzeichen "Lumimart". Dies ergebe sich aus der Domain
"www.lumimart.ch", auf welche in den Prospekten seit Juli 2000 verwiesen
werde sowie aus der Radiowerbung (Replik N. 316). Sodann sei der Markt-
auftritt massgeblich vom Wortbestandteil geprägt. Die graphische Gestal-
tung der beiden Logos sei wenig unterscheidungskräftig. Anlässlich der
Studie der J. AG (KB 151 f.) sei eine erhebliche Bekanntheit des Wortzei-
chens "Lumimart" festgestellt worden (Replik N. 317). Schliesslich habe
sich der Marktauftritt durch die Logoänderung nicht verändert, da die Prä-
sentation der Waren in den Fachmärkten und im Onlineshop beibehalten
worden sei (Replik N. 318).
Soweit die Beklagte den Gebrauch der Bezeichnung "Luminarte" seit 2003
geltend mache, sei ihr nicht zu folgen. Die Gründung einer Gesellschaft und
deren Geschäftstätigkeit in Deutschland würden keinen Gebrauch in der
Schweiz darstellen (Klage N. 106). Der Gebrauch der Bezeichnung "Lumi-
narte" sei erst Ende 2013 / Anfang 2014 nach aussen feststellbar gewesen
(Klage N. 107; Replik N. 328). Schliesslich könne aus der Eintragung einer
Marke nichts über den Gebrauch eines Zeichens abgeleitet werden könne
(Replik N. 329).
6.6.1.2. Beklagte
Die Beklagte führt im Wesentlichen aus, die Klägerin verfüge über keine
Gebrauchspriorität. Im September 2018 habe die Klägerin den Auftritt ihres
Geschäftsbereichs "Lumimart" völlig geändert und verwende nicht mehr
das Logo , sondern das Logo (Klageantwort N. 134;
Duplik N. 371). Daher verfüge die Beklagte unbestrittenermassen über die
notwendige Gebrauchspriorität (Klageantwort N. 135). Das Logo
- 68 -
stelle nicht einzig eine modernisierte Form des Logos
dar. Die beiden Logos würden sich in Format, fehlendem
Bildelement, Farbausgestaltung, Schriftfarbe (50 %), Schriftart und Gross-
/Kleinbuchstaben unterscheiden (Duplik N. 84 f.). Es werde mit Nichtwis-
sen bestritten, dass die Konsumenten zwischen dem alten und dem neuen
Logo eine Verbindung herzustellen vermöchten (Duplik N. 86).
Eventualiter könne die Klägerin nur auf den eigenen Marktauftritt und nicht
auf denjenigen allfälliger Rechtsvorgänger (A.-Gruppe Genossenschaft,
N. S.A. sowie P. AG) abstellen (Klageantwort N. 137). Vielmehr könne die
Klägerin ihre Marktstellung erst nach Eintragung im Handelsregister am
6. Mai 2013 gewonnen haben. Dass die Klägerin eine derartige Marktstel-
lung errungen habe, werde mit Nichtwissen bestritten (Klageantwort
N. 139, 143).
Unter dem Zeichen "Luminarte" habe die Luminarte GmbH & Co bereits im
Jahr 2003 Lieferungen an Schweizer Kunden getätigt. Sodann seien seit
2004 die Domain "www.luminarte.de" und ab 2007 die Domain "www.lumi-
narte.ch" eingesetzt worden. Bereits seit 2007 habe die Rechtsvorgängerin
der Beklagten mit Google AdWords Werbung in der Schweiz geschaltet.
Mit Vereinbarung vom 10. Dezember 2012 habe die Beklagte sodann die
Rechte am Kennzeichen "Luminarte" in der Schweiz erworben. Schliesslich
sei die Beklagte Inhaberin der Marke CH 654460, die am 19. Juli 2013 un-
ter Beanspruchung der Priorität der deutschen Markenanmeldung vom
9. Februar 2013 angemeldet worden sei (Klageantwort N. 140).
6.6.2. Rechtliches
Stehen zwei Kennzeichen im Konflikt, kommt demjenigen Kennzeichen der
Vorrang zu, welches länger in Gebrauch steht.152 Lauterkeitsrechtlich ent-
scheidend ist die nachgewiesene frühere, nach aussen feststellbare Benut-
zung im Geschäftsverkehr.153 Erforderlich ist daher der Gebrauch eines
Zeichens im hiesigen Wettbewerb im Zusammenhanghang mit der Ge-
schäftsbezeichnung.154
6.6.3. Würdigung
6.6.3.1. Einleitung
Die Beklagte bestreitet die von der Klägerin behauptete Gebrauchspriorität
mit diversen Argumenten. In einem ersten Schritt ist daher zu prüfen, ab
welchem Zeitpunkt ein Marktauftritt unter dem Zeichen "Lumimart" resp.
nachgewiesen ist. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob sich
die Klägerin auf diesen Marktauftritt berufen kann. Schliesslich gilt es zu
152 DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 57. 153 SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 21; DIKE UWG-HEINE-
MANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 58; BSK UWG-ARPAGAUS (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 62. 154 Siehe SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 21.
- 69 -
prüfen, ob der Logowechsel von zu Auswirkungen
auf das Tatbestandselement der Gebrauchspriorität zeitigt.
6.6.3.2. Marktauftritt von "Lumimart" ab 1998
Die Klägerin behauptet, "Lumimart" verfüge zumindest seit 1998 über einen
individualisierenden Marktauftritt (Klage N. 25; Replik N. 325). Diesen hat
die Klägerin nachgewiesen (vgl. E. Fehler! Verweisquelle konnte nicht
gefunden werden. hiervor). Ebenso hat die Klägerin nachgewiesen, dass
die Domain "www.lumimart.ch" ab dem 9. Dezember 2000 in Gebrauch
stand (vgl. E. 6.4.3.5.2 hiervor).
Als Zwischenfazit ist daher festzuhalten, dass ein Marktauftritt mit den Zei-
chen "Lumimart" sowie ab dem Jahr 1998 und für die Domain
"www.lumimart.ch" ab dem Dezember 2000 nachgewiesen ist. Da die Be-
klagte oder eine ihrer Rechtsvorgängerinnen selbst nach eigenen Angaben
das Zeichen "Luminarte" nicht in irgendeiner Abwandlung im Jahr 1998 in
der Schweiz gebraucht hat, kommt dem Zeichen "Lumimart" Gebrauchspri-
orität zu.
6.6.3.3. Übertragbarkeit der Marktstellung von "Lumimart"
Die Beklagte bestreitet die Übertragbarkeit der lauterkeitsrechtlichen
Marktstellung (Klageantwort N. 141).
Das Lauterkeitsrecht dient dem Schutz einer erlangten Marktstellung. Der
lauterkeitsrechtliche Kennzeichenschutz hat neben der Unterscheidungs-
und Herkunftsfunktion ebenfalls eine Investitionsfunktion und soll der Frust-
ration von Investitionen in den Goodwill eines Kennzeichenauftritts entge-
genwirken.155 Ob eine Marktstellung selbst aufgebaut oder rechtsgeschäft-
lich durch Erwerb des Wettbewerbsteilnehmers begründet wurde, ist ohne
Belang. Entsprechend soll durch das Tatbestandsmerkmal der Gebrauch-
spriorität anlässlich eines lauterkeitsrechtlichen Zeichenkonflikts sicherge-
stellt werden, dass demjenigen Kennzeichen der Vorrang zukommt, des-
sen Marktauftritt länger andauert.156 Solange der erarbeitete Marktauftritt
eines Wettbewerbers erhalten bleibt, ist dessen Inhaberschaft nicht mass-
gebend.157 Würde demgegenüber angenommen, bei einem Wechsel der
Inhaberschaft eines am Markt teilnehmenden Unternehmens müsse die
lauterkeitsrechtliche Position von neuem aufgebaut werden, würde dies zu
unzulässigen Wettbewerbsverzerrungen führen.158
155 Vgl. DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 11. 156 DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 57. 157 So auch die Lehre anlässlich der derivativen Kennzeichnungskraft, vgl. SHK UWG-SPITZ/BRAUCH-
BAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 15 m.w.N.; DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 35.
158 Siehe auch SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 1.
- 70 -
Vorliegend sind aus dem präsentierten Sachverhalt keine Anhaltspunkte
ersichtlich, welche auf einen massgeblich veränderten Marktauftritt in den
Jahren 1998 bis 2018 hindeuten würden. Sowohl 1998 als auch 2018 wur-
den Fachmärkte für Leuchten, Leuchtmittel und Beleuchtungszubehör un-
ter der Bezeichnung "Lumimart" und dem Logo geführt. Neu
dazugekommen ist zwar ab dem Jahr 2000 die Domain "www.lumimart.ch",
welche jedoch den bisherigen Zeichenauftritt von "Lumimart" durch die Se-
cond-Level-Domain aufgenommen hat. Im Übrigen gehen aus den Akten
keine erheblichen Veränderungen des Warenangebots sowie der Waren-
präsentation hervor. Es mag zutreffen, dass die Klägerin resp. ihre Rechts-
vorgängerinnen unterschiedliche Claims verwendet haben (vgl. Duplik
N. 435 mit Beispielen wie "LE GEANT DU LUMINAIRE", "DER LAMPEN-
RIESE", "MEHR ALS NUR LICHT"). Diese Tatsache vermag aber nicht zu
einem veränderten Marktauftritt führen. Wie die Beklagte selbst ausführt,
wurden diese Claims nicht zu einem festen Bestandteil des Marktauftritts
unter dem Zeichen "Lumimart". Sie wurden einzig punktuell und zeitlich be-
schränkt verwendet.
Als Zwischenfazit ist festzuhalten, dass sich die Klägerin aufgrund des
Marktauftritts unter dem Zeichen "Lumimart" auf die Gebrauchspriorität aus
dem Jahr 1998 berufen kann.
6.6.3.4. Änderung des klägerischen Logos von zu
Schliesslich bestreitet die Beklagte die behauptete Gebrauchspriorität der
Klägerin infolge des Wechsels des Logos (Klageantwort N. 134 ff.).
Dem Einwand der Beklagten ist nicht zu folgen. Der massgebende Markt-
auftritt hängt nicht von der Ausgestaltung eines bestimmten Logos, sondern
vom Gesamteindruck ab.159 Die von der Klägerin im September 2018 voll-
zogene Logoänderung vermag bei den einschlägigen Verkehrskreisen zu
keiner Änderung des wahrgenommen Marktauftritts zu führen. Dieser er-
folgt weiterhin über stationäre Fachmärkte und einen Onlineshop. Überdies
weisen die beiden Logos zwar diverse Unterscheide auf. Sie sind jedoch
stark vom Wortbestandteil "Lumimart" geprägt (vgl. E. 6.4.2.4 f. hiervor).
Dieser Wortbestandteil stimmt mit dem ebenfalls verwendeten Wortzeichen
"Lumimart" sowie der Second-Level-Domain des Domainnamens "lumim-
art.ch" überein. Daher ist davon auszugehen, dass die massgeblichen Ver-
kehrskreise das Logo mit dem seit dem Jahre 1998 bestehen-
den Marktauftritt unter dem Zeichen "Lumimart" resp. dem Logo
in Verbindung bringen. Daran vermögen die veränderten Geschenkkarten
oder die Umgestaltung einer Filiale nichts zu ändern (Duplik N. 81, 419).
159 Vgl. statt aller: DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 39.
- 71 -
Folglich führt der von der Klägerin vorgenommene Logowechsel nicht zu
einem Verlust der bestehenden Gebrauchspriorität.
6.6.3.5. Zwischenfazit
Im Ergebnis ist das Tatbestandselement der Gebrauchspriorität erfüllt, weil
sich die Klägerin auf einen seit dem Jahr 1998 andauernden Marktauftritt
berufen kann.
6.7. Verwirkung
6.7.1. Parteibehauptungen
6.7.1.1. Beklagte
Die Beklagte macht geltend, die lauterkeitsrechtlichen Ansprüche der Klä-
gerin seien ohnehin verwirkt (Klageantwort N. 145 ff.). Zur Erkennbarkeit
der Verletzung führt sie im Wesentlichen das Folgende aus:
(1) Seit 2003 hätten die Beklagte und ihre Vorgängergesellschaft von
ihrem Standort in Lauchringen aus ihr Angebot in der Schweiz be-
worben und an schweizerische Kunden verkauft. Die Benutzung sei
von Anfang an nicht nur in Deutschland, sondern auch im Verkehr
mit der Schweiz (insbesondere Onlinehandel bzw. Versandhandel)
bzw. mit Kunden aus der Schweiz erfolgt, die sich in die Showrooms
nach Deutschland begeben hätten. Im Jahr 2003 sei ein Umsatz
von EUR 4'426.00 angefallen, welcher im Jahr 2013 schliesslich
EUR 234'209.00 betragen habe. Der Umsatz habe im Geschäftsjahr
2013/2014 EUR 526'791.36, im Geschäftsjahr 2014/2015
EUR 1'209'241.24 und im Geschäftsjahr 2015/2016
EUR 1'216'865.78 betragen. Die Umsätze seien auf die von der Be-
klagten unternommenen Werbeanstrengungen in der Schweiz und
auf Kunden, die durch Mund-zu-Mund-Propaganda von der Beklag-
ten erfahren hätten, zurückzuführen (Klageantwort N. 52, 65, 66).
Sodann hätte der Klägerin der grenznahe Auftritt der Beklagten be-
merken müssen (Klageantwort N. 151). Es sei schliesslich ausge-
schlossen, dass die Beklagte resp. ihre Rechtsvorgängerinnen
diese Umsätze einzig aufgrund der grenznahmen Ladenlokalität in
Lauchringen erzielt hätten. Vielmehr sei davon auszugehen, dass
diese nur erzielt worden seien, weil die Werbung über Google Ad-
Words und die betriebene Website auch in der Schweiz wahrge-
nommen worden sei (Duplik N. 482);
(2) Die Website "www.luminarte.de" existiere bereits seit 2004 und
diene dem Vertrieb von Leuchten und Leuchtmitteln auch für Kun-
den in der Schweiz. Die Website sei auf die Schweiz ausgerichtet,
da sie aus der Schweiz abrufbar sei. Sie habe von Beginn weg den
Hinweis auf die Möglichkeit, in die Schweiz zu liefern, enthalten. Ab
2007 sei unter der Rubrik "Projekte" auf den grossen Kundenstamm
in der Schweiz hingewiesen worden (Klageantwort N. 52, 62;
KAB 5 - 17/1);
- 72 -
(3) Die Website "www.luminarte.ch" sei 2007 in Betrieb genommen
worden und zumindest seit 2008 aktiv. Zuerst sei diese auf die deut-
sche Adresse weitergeleitet worden, bevor ein eigener Webshop mit
Ausrichtung auf die Schweiz geschaltet worden sei (Klageantwort
N. 5, 52, 63; KAB 12);
(4) Ab 2007 habe die Rechtsvorgängerin der Beklagten mit Hilfe von
AdWords Werbung auf google.ch geschaltet. Aus den Google Ad-
Words Übersichten sei ersichtlich, dass die Werbeanzeigen der Be-
klagten in Suchanfragen aus der Schweiz pro Jahr Millionen Mal
angezeigt worden seien. Es gehöre zudem bereits seit über zehn
Jahren zum Standard eines Unternehmens, welches einen
Webshop betreibe, die Situation auf Suchmaschinen im Internet zu
beobachten und für eigene Zwecke zu optimieren. Es sei daher da-
von auszugehen, dass die Klägerin seit 2007 über die Werbean-
strengungen der Klägerin im Bilde sei (Klageantwort N. 68;
KAB 9 - 34/1), zumal die Klägerin selbst Werbung für den Ge-
schäftsbereich "Lumimart" mit Hilfe von Google AdWords betreibe
(Duplik N. 468);
(5) Ab 2011 seien die Beklagte resp. ihre Rechtsvorgängerin auf
"www.youtube.com" vertreten gewesen, da am 9. Dezember 2011
ein aus der Schweiz abrufbares Video mit Bezugnahme auf das
Wortzeichen "Luminarte" veröffentlich worden sei (Klageantwort
N. 70);
(6) Ab 2013 habe die Beklagte damit begonnen, regelmässig Werbung
in Zeitungen, Zeitschriften und Radio zu schalten. So unter anderem
im Tagesanzeiger, der Aargauer Zeitung, der Botschaft, Radio 24
sowie den deutschen Radiosendern SWR1 und Radio Seefunk,
welche in der ganzen Deutschschweiz empfangen werden könnten
(Klageantwort N. 69);
(7) Mit Prioritätsdatum 9. Februar 2013 sei die beklagtische Marke
Nr. 654460 "Luminarte" eingetragen worden. Da es sich bei der Klä-
gerin um ein grosses Unternehmen handle, habe sie bei gehöriger
Sorgfalt von der Markenpublikation Kenntnis nehmen müssen (Kla-
geantwort N. 151);
(8) Schliesslich würden die Parteien Lampen und Leuchtmittel der glei-
chen Marken vertreiben (U., V., W., Z., AA., AB.). Dies lasse vermu-
ten, dass die Beklagte der Klägerin als Abnehmerin von Produkten
dieser Marken bekannt gewesen sei, zumal es beim Bezug solcher
Markenprodukte von denselben Produzenten bzw. Vertriebspart-
nern üblich sei, die Konkurrenzunternehmen zu kennen (Klageant-
wort N. 151).
Die Tatbestandsvoraussetzung des langen Zuwartens der Klägerin sei
ebenfalls erfüllt. Denn diese hätte bei gebotener Sorgfalt den Marktauftritt
- 73 -
unter dem Zeichen "Luminarte" seit 15 Jahren bemerken müssen. Eventu-
aliter seien zwischen dem Kennenmüssen per Ende 2013 und der Klage-
einreichung im April 2018 mehr als vier Jahre vergangen, so dass auch in
diesem Fall ein zu langes Zuwarten der Klägerin vorliege. (Klageantwort
N. 155). Es habe keine vorprozessuale Korrespondenz zwischen den Par-
teien gegeben und entsprechend sei die Beklagte von der Klägerin nie ab-
gemahnt worden (Klageantwort N. 84, 147; KB 165). Die vorprozessuale
Korrespondenz der A.-Gruppe Genossenschaft könne der Klägerin nicht
zugerechnet werden (Duplik N. 69).
Sodann liege auch ein wertvoller Besitzesstand vor. Die Beklagte resp. ihre
Rechtsvorgängerin hätten das Zeichen "Luminarte" langjährig und intensiv
benützt, woraus eine Umsatzsteigerung von EUR 4'426.00 (2003) auf
EUR 1'216'866.00 (2016) resultiert habe. Soweit sich Internetauftritte nicht
explizit auf die Schweiz beschränkten, müsste die Beklagte sodann auch
in Deutschland ein anderes Zeichen wählen. Da ein Zeichenwechsel in der
Schweiz einen unzumutbaren erheblichen Mehraufwand bedeuten würde,
wäre die Beklagte vor die Wahl gestellt, entweder ihr Zeichen auch in
Deutschland abzuändern oder ihren Vertrieb in die Schweiz einzustellen
(Klageantwort N. 159). Weiter treffe das von der Klägerin eingereichte Gut-
achten keine gültigen Schlüsse, ob das Zeichen "Luminarte" den Konsu-
menten bekannt sei (Klageantwort N. 162).
Schliesslich liege ebenfalls die Gutgläubigkeit vor, da die Beklagte von der
Klägerin nicht abgemahnt worden sei und die Unternehmen friedlich ne-
beneinander existiert hätten (Klageantwort N. 165). Entgegen der Klägerin
könne aus dem Umstand, dass die Beklagte Schweizer Kunden zu tiefen
Preisen beliefere, nicht auf die Bösgläubigkeit geschlossen werden (Kla-
geantwort N. 167).
6.7.1.2. Klägerin
Die Klägerin bestreitet die beklagtischen Ausführungen und macht insbe-
sondere geltend, sie habe erst Ende August 2016 von der Benutzung der
Bezeichnung "Luminarte" durch die Klägerin erfahren (Klage N. 49, 169).
Zur Erkennbarkeit der Verletzung führt sie insbesondere das Folgende aus:
(1) Die Klägerin bestreite, dass die Beklagte oder eine ihrer Vorgänger-
gesellschaften "Luminarte" oder seit 2003 in der
Schweiz benutzen oder bewerben. Zudem werde die Übertragung
der nicht näher spezifizierten Kennzeichenrechte an die Beklagte
bestritten (Replik N. 143, 342). Insbesondere führe die Bezeich-
nung von Ladenlokalitäten in Deutschland nicht zu einem Zeichen-
gebrauch in der Schweiz (Replik N. 155);
(2) Die von der Beklagten ausgewiesen Umsätze seien gemäss eige-
nen Angaben in der Schweiz bzw. in die Schweiz erzielt worden.
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Weiter sei der Umsatz mit Kunden erfolgt, welche sich in die Loka-
litäten in Deutschland begeben hätten. Diese Umsätze könnten je-
doch keine Benutzung in der Schweiz belegen. Zudem gehe aus
den Zahlen eine Verdopplung im Geschäftsjahr 2013 (ab 1. Juli
2013) hervor. Dies zeige, dass die Beklagte Mitte 2013 ihre Aktivi-
täten in der Schweiz ernsthaft aufgenommen habe und die im
Herbst 2013 initiierten Werbemassnahmen Wirkung gezeitigt hätten
(Replik N. 161, 170). Sodann würden die von der Beklagten einge-
reichten Belege hauptsächlich Ausfuhrscheine beinhalten, welche
von Schweizer Kunden, die in Deutschland eingekauft hatten,
stammten. Diese seien jedoch vorliegend nicht relevant. Die übrigen
Belege würden keinen ernsthaften Marktauftritt in der Schweiz be-
gründen, zumal die Beklagte selbst ausführe, dass Schweizer Kun-
den Bestellungen in den deutschen Lokalitäten mit anschliessender
Heimlieferung getätigt hätten. Wieso aufgrund der behaupteten
Mund-zu-Mund-Propaganda die Klägerin auf "Luminarte" hätte auf-
merksam werden müssen, sei sodann nicht ersichtlich. Schliesslich
könne die Beklagte Werbeanstrengungen erst ab September 2013
belegen (Replik N. 163 f.);
(3) Die Klägerin bestreite eine Aktivität der Website "www.luminarte.ch"
seit 2008. Vielmehr sei eine Benutzung der Domain ab Ende Juli
2013 nachgewiesen (Replik N. 153; KB 160). Dies gelte auch für die
von der Beklagten behauptete Weiterleitung (Replik N. 158). Der
von der Beklagten eingereichte Report (AB 12) weise nicht einen
früheren Betrieb einer Website auf der Domain "www.luminarte.ch"
nach (Replik N. 14). Im Übrigen stelle diese keinen ernsthaften Ge-
brauch des Zeichens "Luminarte" in der Schweiz dar, da vor 2013
allenfalls einzig eine Weiterleitung auf die deutsche Website erfolgt
sei (Replik N. 11, 16, 140);
(4) Die Klägerin bestreite eine Ausrichtung des auf "www.luminarte.de"
abrufbaren Webshops auf die Schweiz ab dem Jahr 2004. Die Mög-
lichkeit einer Lieferung in die Schweiz und die Wahrnehmung dieser
Möglichkeit von Schweizer Kunden führe noch nicht zu einem rele-
vanten Marktauftritt in der Schweiz (Replik N. 155). Ein Hinweis auf
die Liefermöglichkeit in der Schweiz auf Anfrage per Kontaktformu-
lar sei erst ab Mitte des Jahres 2012 ersichtlich. Es hätten jedoch
Preise in Schweizer Franken sowie auf die Schweiz ausgerichtete
Werbung gefehlt. Daher sei im Jahr 2012 die Benutzung des Zei-
chens "Luminarte" auf einer deutschen Website für die Klägerin
nicht erkennbar gewesen (Replik N. 362);
(5) Mit Bezug auf die Werbeanstrengungen mithilfe von Google Ad-
Words wendet die Klägerin ein, KAB 9 - 34/1 beziehe sich einzig auf
die Website "www.luminarte.de". Dies gelte bis zum Jahr 2013
ebenfalls für KAB 9-15/3. Es könne der Klägerin aber nicht zugemu-
tet werden, ausländische Websites auf potentiell lauterkeitsrechtlich
- 75 -
relevantes Verhalten hin zu durchsuchen (Replik N. 168). Zudem
sei Werbung mittels Google AdWords nicht mit Printwerbung zu ver-
gleichen. Erstere erfordere im Gegensatz zur Printwerbung ein Ak-
tivwerden des Kunden, welcher bei Google die richtigen Suchbe-
griffe eingeben müsse. Erst durch Print- und Radiowerbung erlange
ein Anbieter mit seinem Zeichen in der Schweiz bei den relevanten
Verkehrskreisen eine gewisse Bekanntheit und erst ab diesem Zeit-
punkt sei es einem Konkurrenten möglich, von solchen Aktivitäten
zu erfahren (Replik N. 169);
(6) Dem Youtube-Video der Beklagten aus dem Jahr 2011 fehle es an
einer konkreten Verbindung zur Schweiz. Daher vermöge das Video
keinen ernsthaften Gebrauch des Zeichens "Luminarte" in der
Schweiz zu begründen (Replik N. 172);
(7) Schliesslich bestreite die Klägerin, dass sie die Beklagte kennen
müsse, bloss weil diese teilweise die gleichen Produkte verkaufe
(Replik N. 351).
Hinsichtlich der Dauer des Zuwartens macht die Klägerin geltend, sie hätte
den Marktauftritt der Beklagten erst per Ende 2013 erkennen müssen. So-
dann sei das Abmahnschreiben der A.-Gruppe Genossenschaft vom 3. Ok-
tober 2016 (KB 165) auch als Aktivwerden der Klägerin zu werten. Erstens
sei die Klägerin eine 100%-ige Tochtergesellschaft der A.-Gruppe Genos-
senschaft. Der Verwaltungsrat und die Geschäftsleitung setze sich aus den
gleichen Personen zusammen. Im Übrigen sei der Rechtsdienst der Kläge-
rin auch für die Angelegenheiten der A.-Gruppe Genossenschaft zuständig
(Replik N. 203). Zweitens sei im Abmahnschreiben festgehalten, die Be-
klagte betreibe unlauteren Wettbewerb. Zumal es sich bei der A.-Gruppe
Genossenschaft um eine Art Holding-Gesellschaft handle, sei davon aus-
zugehen gewesen, dass allfällige UWG-Ansprüche über eine ihrer operativ
tätigen Tochtergesellschaften geltend zu machen seien (Replik N. 204).
Aus dem Abmahnschreiben werde deutlich, dass die Beklagte die Rechte
eines Unternehmens aus dem A.-Konzern verletze (Replik N. 205). Daher
habe die Beklagte mit Erhalt nicht mehr davon ausgehen dürfen, ihr Ver-
halten werde geduldet (Replik N. 206). Folglich habe die Klägerin maximal
zweieinhalb Jahre zugewartet, was nicht als zu lange qualifiziert werden
könne (Replik N. 358 - 360).
Weiter bestreitet die Klägerin einen wertvollen Besitzesstand der Beklag-
ten. Eine länger andauernde und intensive Benützung des Zeichens "Lu-
minarte" in der Schweiz liege nicht vor, da diese erst Mitte des Jahres 2013
aufgenommen worden sei. Eine Verkehrsdurchsetzung habe die Beklagte
ebenfalls nicht nachgewiesen. Vielmehr zeige die von der Klägerin durch-
geführte Befragung (KB 170), dass nur 1 % der Befragten das Zeichen "Lu-
minarte" mit Möbel Dick oder einem Deutschen Lampengeschäft und nur
- 76 -
4 % überhaupt mit Leuchten oder Beleuchtung in Verbindung gebracht hät-
ten. Schliesslich habe die Beklagte in der Schweiz keine so starke Wettbe-
werbsstellung erreicht, dass es der Klägerin zumutbar wäre, die Aus-
schliesslichkeitsrechte an ihrem Zeichen aufzugeben (Replik N. 367). Da
die Umsätze bis 2013 hauptsächlich aus dem Betrieb grenznaher Ge-
schäfte resultierten, seien diese vorliegend irrelevant. Ebenso müsse die
Beklagte in Deutschland ihr Zeichen "Luminarte" nicht aufgeben. Es sei
zwar nicht vermeidbar, dass Ladengeschäfte in Deutschland sowie Social
Media Auftritte gewisse Wirkungen auf die Schweiz entfalten würden. Je-
doch wäre es der Beklagten bei einer Gutheissung von Rechtsbegehren
Ziff. 1 einzig nicht gestatten, auf Social Media konkret Schweizer Kunden
anzuwerben und ihre Social Media Auftritte auf die Schweiz auszurichten
(Replik N. 369). Im Übrigen werde der Vertrieb in die Schweiz nicht verbo-
ten. Weil die Beklagte das Zeichen "Luminarte" gemäss eigenen Angaben
nicht auf Waren anbringe, könne mit dem Zeichenwechsel kein grosser
Aufwand verbunden sein (Replik N. 370).
Schliesslich bestreitet die Klägerin die Gutgläubigkeit der Beklagten. Ange-
sichts der Bekanntheit der 33 Schweizer Lichtfachgeschäfte, welche von
der Klägerin unter der Bezeichnung "Lumimart" betrieben würden, sowie
des Umstandes, dass die Beklagte mit ihrem Angebot unter Verwendung
eines ähnlichen Zeichens offensichtlich gezielt grenzüberschreitend
Schweizer Kunden für ihr Unternehmen abwerbe, könne vorliegend nicht
davon ausgegangen werden, die Beklagte habe gutgläubig gehandelt
(Klage N. 188). Weiter sei es gerichtsnotorisch, dass ein Unternehmen vor
Markteintritt eine Ähnlichkeitsrecherche durchführen lasse, um kostspielige
Gerichtsverfahren zu vermeiden. Im Rahmen einer solchen Recherche
wäre die Beklagte auf die Kennzeichenrechte der Klägerin gestossen. Sie
hätte bemerken müssen, dass sich aufgrund der Ähnlichkeit ihrer Ge-
schäftsbezeichnung und ihres Angebots zu demjenigen der Klägerin allen-
falls Konflikte ergeben könnten (Klage N. 189; Replik N. 376).
6.7.2. Rechtliches
Die Grundlage der Verwirkung liegt im Rechtsmissbrauchsverbot (Art. 2
Abs. 2 ZGB) durch das Verbot des widersprüchlichen Verhaltens.160 Von
der Verwirkung sind grundsätzlich ebenfalls kennzeichenrechtliche Ab-
wehransprüche erfasst, sofern sie zu spät geltend gemacht werden.161 Die
Verwirkung ist sodann nicht leichthin anzunehmen.162 Vielmehr müssen fol-
gende vier Voraussetzungen erfüllt sein:
160 BSK MSchG-FRICK (Fn. 5), Vor Art. 51a-60 N. 58 m.w.H.; DIKE UWG-DOMEJ (Fn. 17), Art. 9 N. 114
m.w.N. 161 BGE 125 III 193 E. 1e; BAUDENBACHER/GLÖCKNER (Fn. 44), Art. 9 N. 273. 162 BGer 4A_22/2019 vom 23. Mai 2019 E. 2.3.2; SHK UWG-SPITZ (Fn. 13), Art. 9 N. 229; BSK
MSchG-FRICK (Fn. 5), Vor Art. 51a-60 N. 58 m.w.H.
- 77 -
(a) Duldung trotz Kenntnis oder Erkennbarkeit des Marktauftritts: Soweit
der Verletzer nicht um Einwilligung ersucht, ist zumindest erforderlich,
dass der Verletzer aufgrund seines Marktauftritts bei objektivierter Be-
trachtung davon ausgehen darf, die Verletzung werde für den Rechts-
inhaber bei gehöriger Sorgfalt erkennbar.163 Seitens des Schutzrechts-
inhabers besteht eine gewisse Sorgfalts- bzw. Beobachtungspflicht,
nicht jedoch eine generelle Überwachungspflicht.164 Demgegenüber er-
achtet die Rechtsprechung eine verzögerte Rechtsausübung als miss-
bräuchlich, sofern diese auf fahrlässige Unkenntnis der Rechtsverlet-
zung zurückzuführen ist, weil es der Schutzrechtsinhaber sorgfaltswid-
rig unterlassen hat, den Markt auf gegnerische Zeichen hin zu beobach-
ten.165 Das Mass der Sorgfalt hängt von der Stellung des Berechtigten
ab.166 Die Kenntnis muss sich auf eine Verletzung in der Schweiz be-
ziehen. Verletzungen im Ausland sind irrelevant.167
(b) Lange Dauer des verletzenden Gebrauchs: Entscheidend sind die Um-
stände des Einzelfalls. Als Faustregel hat sich im Markenrecht eine
Zeitspanne von vier bis acht Jahren herausgebildet.168 Vor vier Jahren
kann eine Verwirkung nur ausnahmsweise eintreten, z.B. wenn der Be-
rechtigte den Verletzer zur Annahme verleitet hat, sein Verhalten werde
geduldet.169 Unter lauterkeitsrechtlichen Gesichtspunkten gesteht die
Lehre dem Schutzrechtinhaber eine angemessene Zeitdauer zu, damit
dieser die Rechtslage und die tatsächlichen Auswirkungen der Verlet-
zung abzuschätzen vermag. Regelmässig sei jedoch eine rechtzeitige
Verwarnung angezeigt, um den guten Glauben des Verletzers zu zer-
stören.170
(c) Wertvoller Besitzstand: Zu prüfen ist, ob der Verletzer eine so starke
Wettbewerbsstellung erlangt hat, dass es gerechtfertigt erscheint, dem
Berechtigten die Rechtsausübung zu verwehren.171
163 BAUDENBACHER/GLÖCKNER (Fn. 44), Art. 9 N. 274; DIKE UWG-DOMEJ (Fn. 17), Art. 9 N. 115; BSK
MSchG-FRICK (Fn. 5), Vor Art. 51a-60 N. 62 m.w.H. 164 Vgl. DIKE UWG-DOMEJ (Fn. 17), Art. 9 N. 115; BAUDENBACHER/GLÖCKNER (Fn. 44), Art. 9 N. 276;
BSK MSchG-FRICK (Fn. 5), Vor Art. 51a-60 N. 62 f. m.w.H. 165 BGE 117 II 575 E. 4b; BGer Urteil 4C.371/2005 vom 2. März 2006 E. 3.1; ähnlich BRAUCHBAR
(Fn. 89), S. 82. 166 BSK MSchG-FRICK (Fn. 5), Vor Art. 51a-60 N. 63 m.w.H. 167 SHK MSchG-STAUB (Fn. 6), Vorbemerkungen Art. 51a-60 N. 70 m.w.H. 168 BSK MSchG-FRICK (Fn. 5), Vor Art. 51a-60 N. 69 m.w.H. 169 SHK UWG-SPITZ (Fn. 13), Art. 9 N. 228 Fn. 525; BSK MSchG-FRICK (Fn. 5), Vor Art. 51a-60 N. 69
m.w.H. 170 DIKE UWG-DOMEJ (Fn. 17), Art. 9 N. 116; BAUDENBACHER/GLÖCKNER (Fn. 44), Art. 9 N. 278; SHK
UWG-SPITZ (Fn. 13), Art. 9 N. 228 Fn. 525. 171 Vgl. BAUDENBACHER/GLÖCKNER (Fn. 44), Art. 9 N. 279; DIKE UWG-DOMEJ (Fn. 17), Art. 9 N. 117.
- 78 -
(d) Guter Glaube des Verletzers: Vorausgesetzt ist, dass der Verletzer sei-
nen wertvollen Besitzstand im schutzwürdigen Vertrauen auf die Zuläs-
sigkeit seines Verhaltens oder auf den durch die Untätigkeit des Be-
rechtigten hervorgerufenen Anschein der Duldung geschaffen hat.172
6.7.3. Würdigung
6.7.3.1. Duldung
6.7.3.1.1. Einleitung
Die Klägerin hat den Gebrauch des Zeichens "Luminarte" ab Ende 2013
anerkannt (Klage N. 48; Replik N. 353). Unbestritten ist weiter die von der
Beklagten ab September 2013 resp. Oktober 2013 vorgenommene Wer-
bung in Radio- und Printmedien, welche eine Benützung des Zeichens "Lu-
minarte" in der Schweiz belegen (vgl. Klageantwort N. 69; Replik N. 159).
Folglich erübrigen sich Ausführungen zu den zeitlich nachgelagerten Akti-
vitäten bei Facebook resp. LinkedIn (Klageantwort N. 71) sowie zur Prä-
senz bei Fachmessen (Klageantwort N. 72).
Der Nachweis einer früheren Kenntnisnahme resp. eines früheren Kennen-
müssens des Zeichenauftritts von "Luminarte" durch die Klägerin obliegt
der Beklagten. Wie nachfolgend gezeigt wird, vermag die Beklagte diesen
Beweis nicht zu erbringen.
6.7.3.1.2. Showroom in Deutschland
Entgegen der Argumentation der Beklagten stellt der behauptete Betrieb
grenznaher Verkaufsstandorte bzw. Showrooms in Deutschland keinen er-
kennbaren tatsächlichen Marktauftritt in der Schweiz dar. Blosse Grenz-
nähe begründet keinen Zeichengebrauch im Inland, zumal die Kenntnis von
Verletzungen im Ausland keine Relevanz aufweist.173
6.7.3.1.3. Betrieb der Domain "www.luminarte.de"
Die Beklagte bringt vor, die Domain "www.luminarte.de" sei aus der
Schweiz abrufbar und werde seit 2004 auch zum Vertrieb von Leuchten
und Leuchtmitteln verwendet. Eine Ausrichtung der entsprechenden Webs-
ite auf die Schweiz wird von der Beklagten bestritten.
Eine ausländische Domain mit einer Webseite ohne Ausrichtung auf die
Schweiz begründet keinen lauterkeitsrechtlich relevanten inländischen
Marktauftritt.174 Die Ausrichtung des Webshops (auch) auf Schweizer Kon-
sumenten erkennt die Beklagte in dem seit 2007 angebrachten Hinweis auf
den grossen Kundenstamm in der Schweiz (Klageantwort N. 52) sowie in
dem seit 2004 enthaltenen Hinweis auf die Lieferungsmöglichkeit in die
172 DIKE UWG-DOMEJ (Fn. 17), Art. 9 N. 118; SHK UWG-SPITZ (Fn. 13), Art. 9 N. 228. 173 Vgl. SHK MSchG-STAUB (Fn. 6), Vorb. zu Art. 51a-60 N. 70; HGer ZH, sic! 2015, S. 316 ff., S. 319. 174 Vgl. auch JOLLER (Fn. 90), N. CH 189; BURI, Verwechselbarkeit (Fn. 48), S. 85.
- 79 -
Schweiz (Klageantwort N. 62). Aus dem von der Beklagten offerierten Be-
weismittel geht jedoch einzig hervor, dass am 31. Juli 2012 auf die Liefe-
rungsmöglichkeit in die Schweiz hingewiesen wurde. Daneben wurde im
Juli 2007 sowie Oktober 2008 eine Auswahl der realisierten Projekte prä-
sentiert und auf «viele weitere gewerbliche und private Kunden in Deutsch-
land und der Schweiz» verwiesen (vgl. KAB 5 - 17/1 S. 6 - 8). Damit ist
aber keine klare Ausrichtung der unter "www.luminarte.de" abrufbaren
Webseite nachgewiesen. Zum einen vermag der Hinweis auf in der
Schweiz realisierte Projekte noch nicht dazu zu führen, dass die Klägerin
auf die beklagtische Webseite hätte aufmerksam werden müssen. Zum an-
deren begründet ein Hinweis auf die Lieferungsmöglichkeit in die Schweiz
unter der Rubrik "Kontakt" an sich noch keinen Marktauftritt in der Schweiz,
welchen die Klägerin bei gehöriger Sorgfalt hätte bemerken müssen. Folg-
lich sind die Ausführungen der Beklagten mit Bezug auf die Domain
"www.luminarte.de" unbehilflich.
6.7.3.1.4. Betrieb der Domain "www.luminarte.ch"
Die Registrierung der Domain "www.luminarte.ch" erfolgte am 20. Juni
2007 (Klageantwort N. 52). Nach der wohl herrschenden Lehre erfüllt die
Registrierung einer Domain den Tatbestand von Art. 3 Abs. 1 lit. d UWG
nicht.175 Dies gilt erst Recht für das Tatbestandselement der Erkennbarkeit.
Ob die Webaktivität unter der Domain "www.luminarte.ch" durch die Kläge-
rin resp. ihre Rechtsvorgängerinnen bei gehöriger Sorgfalt hätte erkannt
werden müssen, beurteilt sich vielmehr aufgrund der Art und Weise der
Domainaktivität und des unter der Domain abrufbaren Inhalts.
Zwischen den Parteien ist unbestritten, dass die Domain "www.lumin-
arte.ch" Ende Juli 2013 eigenständig bewirtschaftet wurde (Replik N. 16;
Klageantwort N. 63; KB 160). Insoweit vermag dies der Beklagten zu kei-
nem Vorteil zu verhelfen. Bestritten ist demgegenüber die frühere Aktivität
der Domain. Die Beklagte behauptet mit Verweis auf KAB 12, die Domain
"www.luminarte.ch" werde seit 16. Dezember 2008 gebraucht. Die Klägerin
bestreitet dies. Aus dem in KAB 12 enthaltenen Domain Report geht her-
vor, dass die Domain am 16. Dezember 2008 auf zwei Servern aufgeschal-
tet war (KAB 12 S. 11: ns.namespace4you.de resp. ns2.name-
space4you.de). Damit hat die Beklagte nachgewiesen, dass die Domain
"www.luminarte.ch" für Internetnutzer seit Ende Dezember 2008 erreichbar
war.176 Die Erreichbarkeit einer .ch Webseite ist jedoch nicht der Erkenn-
barkeit des Marktauftritts unter dem Zeichen "Luminarte" gleichzustellen.
Zum einen besteht keine generelle Überwachungspflicht von inländischen
Domains. Zum anderen erfolgte selbst gemäss den Ausführungen der Be-
klagten bis Mitte des Jahres 2013 eine Weiterleitung auf die Domain
175 Vgl. SHK UWG-SPITZ/BRAUCHBAR BIRKHÄUSER (Fn. 48), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 62; BURI, Verwechsel-
barkeit (Fn. 48), S. 142; JOLLER (Fn. 90), N. CH 88, 163, 185; a.A. DIKE UWG-HEINEMANN (Fn. 51), Art. 3 Abs. 1 lit. d N. 141.
176 Siehe auch BURI, Verwechselbarkeit (Fn. 48), S. 20.
- 80 -
"www.luminarte.de". Die dort aufgeschaltete Webseite hätte die Klägerin
aber wie gezeigt bei gehöriger Sorgfalt nicht erkennen müssen. Daran kann
die Weiterleitung einer inländischen Domain auf die entsprechende Web-
seite entgegen den Ausführungen der Beklagten in Duplik N. 18 nichts än-
dern.
6.7.3.1.5. Google AdWords
Neben den belegten Werbeanstrengungen in den analogen Medien macht
die Beklagte geltend, sie habe mit Hilfe von Google AdWords bereits seit
2007 Werbeanstrengungen für den Schweizer Markt unternommen. Auf-
grund der eingereichten Beilagen (KAB 9 - 35; AB 5 - 15/3) ist nachgewie-
sen, dass die Beklagte ab dem Jahr 2007 für verschiedene Keywords (vgl.
Aufzählungen in Klageantwort N. 68: "Beleuchtung", "Designleuchten",
"Lichtplanung", "U.", "AC.", "AD.") mithilfe von Google AdWords Werbean-
strengungen für ihren Onlineshop unternommen hat.
Google AdWords dient der Platzierung einer Werbeanzeige, welche auf der
Website der Google Suchmaschine gesondert von den Suchergebnissen
dargestellt wird. Die Werbeanzeige, ein benutzerdefinierter Text, wird als
Anzeige gekennzeichnet und entweder auf der rechten Seite der Website
("side-ads") oder vor den gewöhnlichen Suchergebnissen ("top-ads") plat-
ziert. Google AdWords soll demnach nicht das Suchergebnis beeinflussen,
sondern dem AdWords-Verwender eine effiziente, kontextbezogene Wer-
beplatzierung erlauben.177 Sofern ein Nutzer der Google Suchmaschine mit
inländischer IP-Adresse ein von der Beklagten gebuchtes Keyword in der
Suchmaske eingibt, erscheinen neben den Suchresultaten ebenfalls Wer-
beanzeigen der Beklagten oder anderer Unternehmen, welche allenfalls
das gleiche Keyword für die gleiche Zielgruppe gebucht haben. Ein
Keyword kann entweder für die ganze Schweiz oder für einzelne Regionen
gebucht werden. Als Filter wird jeweils der Geostandort der IP-Adresse be-
nutzt.178
Nicht entscheidend ist vorab die Frage, ob die AdWords-Anzeige der Be-
klagten auf die Domain "www.luminarte.de" oder "www.luminarte.ch" ver-
wies. Massgebend ist einzig, ob die Verwendung der Keywords auf den
Schweizer Markt abzielte und damit versucht wurde, einen inländischen
Marktauftritt zu generieren. Die von der Beklagten gebuchten Keywords er-
fassten Schweizer Internetnutzer, womit eine Ausrichtung auf den Schwei-
zer Markt und somit ein Zeichengebrauch im Inland evident ist.
177 Vgl. auch ISLER/SUTTER, Keyword Advertising, in: Thouvenin/Weber (Hrsg.), Werbung – Online,
2017, S. 63 f.; NEVERAUSKAS, Markennutzung bei Keyword-Advertising in Vertriebsverhältnissen, Rechtsvergleichende markenschutz- und wettbewerbsrechttliche Untersuchung, 2016, N. 32.
178 Zur Funktionsweise vgl. auch NEVERAUSKAS (Fn. 177), N. 20 ff.; RIVARA, Keyword advertising, récents au regard du droit des marques, AJP 2012, S. 1547 f.; OGer TG, sic! 2012, S. 387 f. E. 4a.; SHK MSchG-THOUVENIN/DORIGO, 2. Aufl. 2017, Art. 13 N. 51.
- 81 -
Fraglich erscheint, ob die Beklagte seit 2007 aufgrund ihres Marktauftrittes
(Werbeanzeigen mithilfe von Google AdWords) bei objektivierter Betrach-
tung davon ausgehen durfte, die Verletzung sei für die Klägerin bei gehöri-
ger Sorgfalt erkennbar.179 Unbestrittenermassen verfügte die Beklagte vor
Mitte 2013 nicht über einen klassischen inländischen Marktauftritt, zumal
sie in der Schweiz kein Ladenlokal hatte und keinen Nachweis für Werbung
in den klassischen Medien (Print, Radio, TV) erbringt. Jedoch kann es nicht
angehen, dass ein ausschliesslich digitaler Marktauftritt der Beklagten von
vornherein die Erkennbarkeit der Verletzung durch die Klägerin aus-
schliesst. Vielmehr können im Zeitalter der Digitalisierung und des Internet-
Shoppings digitale Werbeanstrengungen der Beklagten dazu führen, dass
diese davon ausgehen durfte und musste, ihr Verhalten werde von der Klä-
gerin toleriert.
Die Klägerin ist gemäss eigener Darstellung Teil des A.-Konzerns und Be-
treiberin von dessen Detailhandelsgeschäft (Klage N. 20). Die vom Berech-
tigten erwartete Sorgfaltspflicht ist im Einzelfall zu bestimmen und bemisst
sich unterer anderem nach seiner Grösse und Erfahrung sowie der Relation
zwischen Kosten einer bestimmten Nachforschungs- resp. Marktüberwa-
chungsmethode und dem Wert eines konkreten Marktauftritts resp. Kenn-
zeichens.180 Massgebend ist einzig die objektiv zu erwartende Sorgfalt, wo-
mit entgegen der Beklagten nicht auf vertraglich vereinbarte Überwa-
chungspflichten – ein subjektives Recht der A.-Gruppe Genossenschaft –
abzustellen ist (N. 54 ff. der Noveneingabe von 23. April 2019). Gemäss
Doktrin sind aufgrund der Grösse der Klägerin erhöhte Anforderungen an
die gebotene Sorgfalt zu stellen.181 Doch selbst bei diesen erhöhten Sorg-
faltspflichten durfte und musste die Beklagte in den Jahren 2007 - 2013 in
guten Treuen nicht davon ausgehen, die Klägerin würde den Marktauftritt
der Beklagten und die damit verbundenen Verletzungshandlungen erken-
nen.
Zwar hat die Beklagte nachgewiesen, dass ihre digitalen Werbeanzeigen
einen bedeutenden Reklameaufwand nahelegen (Klageantwort N. 68:
durchschnittliche Werbeanzeigen pro Jahr: ca. 617'095 [2007 - 2013]; ma-
ximale Werbeanzeigen pro Jahr: 1'779'918 [2012]).182 Die entsprechenden
Werbeanstrengungen mögen als Indiz für einen intensiven Zeichenge-
brauch dienen.183 Jedoch können mithilfe von Google AdWords generierte
Werbeanzeigen nicht analoger Werbung in Print, Radio oder TV gleichge-
setzt werden. Denn ein Werbeauftritt in den analogen Medien wird vom
179 BSK MSchG-FRICK (Fn. 5), Vor Art. 51a-60 N. 62; BRAUCHBAR (Fn. 89), S. 85; BGE 117 II 575
E. 5b. 180 Siehe hinsichtlich des Markenrechtes: BRAUCHBAR (Fn. 89), S. 86, 92 m.w.V. 181 BSK MSchG-FRICK (Fn. 5), Vor Art. 51a-60 N. 63; BRAUCHBAR (Fn. 89), S. 86. 182 Zur wirtschaftlichen Bedeutung von Keyword Advertising: ISLER/SUTTER (Fn. 177), S. 67. 183 BRAUCHBAR (Fn. 89), S. 96.
- 82 -
Schweizer Konsumenten automatisch aufgenommen, sofern das entspre-
chende Medium konsumiert wird (Werbebeilage zu einer abonnierten Zeit-
schrift; Radio- oder TV-Spot bei einem im Inland empfangbaren Radio-
resp. TV-Sender). Die von der Beklagten geschaltete Werbung bei Google
AdWords wird demgegenüber nicht von jedem inländischen Internetnutzer
resp. Nutzer der Google Suchmaschine aufgenommen. Vielmehr erscheint
die Werbung der Beklagten einzig bei Verwendung der von der Beklagten
gebuchten Keywords. Die Klägerin konnte daher vom Marktauftritt der Be-
klagten nur erfahren, sofern sie in der Google Suchmaske ein von der Be-
klagten gebuchtes Keyword eingab.
Die von der Beklagten gebuchten Keywords umfassen zum einen beschrei-
bende Begriffe des Sortiments der Parteien wie "Beleuchtung", oder "De-
signleuchten" und zum anderen Marken der von der Beklagten geführten
Leuchtenhersteller wie "U." oder "AD.". Vor diesem Hintergrund ist nicht
erwiesen, dass der Klägerin in den Jahren 2007 bis 2013 das verletzende
Verhalten der Beklagten hätte bekannt sein müssen. Zwar erschiene es
diskutabel, der Klägerin eine Sorgfaltspflicht aufzuerlegen, mithilfe der kos-
tenlos zugänglichen Google Suchmaschine nach ihrem eigenen Zeichen
"Lumimart" zu forschen, um auf diesem Weg potenzielle Kennzeichenver-
letzungen (frühzeitig) zu erkennen. Weitergehende Ausführungen können
jedoch aus zwei Gründen unterlassen werden: Zum einen hat die Beklagte
nicht behauptet, das Keyword "Lumimart" gebucht zu haben. Zum anderen
unterlässt sie ebenfalls die Behauptung, der Webauftritt der Beklagten wäre
bei einer Suchanfrage nach dem Begriff "Lumimart" erschienen. Im Übrigen
konnte von der Klägerin in guten Treuen nicht verlangt werden, dass sie
unter Zuhilfenahme der Google Suchmaschine nach Umschreibungen ih-
res Sortiments forscht (bspw. durch Suchbegriffe wie "Beleuchtung" oder
"Designleuchten"). Auch wenn die entsprechenden Nachforschungen mut-
masslich geringe Kosten generieren würden (Personalkosten oder Ent-
schädigung für Drittdienstleister), würde damit eine Obliegenheit zur voll-
ständigen Marktüberwachung geschaffen, welche der Klägerin in Bezug
auf das Zeichen "Lumimart" nicht auferlegt werden kann.184
6.7.3.1.6. Suchmaschinenoptimierung
Weiter gilt es zu prüfen, ob die Klägerin durch Optimierung ihres digitalen
Marktauftritts auf Suchmaschinen wie Google auf das Zeichen "Luminarte"
hätte aufmerksam werden müssen.
Damit ein Webauftritt überhaupt Wirkungen entfalten kann, muss die Do-
main über die Suchmaschine von Google auffindbar sein und sich in den
184 Vgl. BSK MSchG-FRICK (Fn. 5), Vor Art. 51a-60 N. 63; SHK MSchG-STAUB (Fn. 6), Vorbemerkun-
gen Art. 51a-60 N. 70; MARBACH (Fn. 82), N. 1584.
- 83 -
ersten Rängen der natürlichen Sucherergebnisse befinden.185 Mittels Such-
maschinenoptimierung wird versucht, das Ranking einer Website in den
natürlichen Suchergebnissen zu halten oder zu verbessern.186
Ob die Klägerin in den Jahren 2007 bis 2013 hinsichtlich der Domain
"www.lumimart.ch" tatsächlich Massnahmen zur Suchmaschinenoptimie-
rung ergriffen hat, geht aus dem von den Parteien vorgetragenen Sachver-
halt nicht hervor. Doch selbst wenn die Klägerin solche Massnahmen er-
griffen hat, mangelt es an einem schlüssigen Tatsachenvortrag der Beklag-
ten. Aus ihren Ausführungen geht nicht hervor, aufgrund welcher Sachver-
haltselemente die Klägerin bei gebotener Sorgfalt auf den Marktauftritt der
Beklagten hätte aufmerksam werden müssen. Insbesondere ist nicht er-
sichtlich, inwieweit die Tatsache, dass eine Suchmaschinenoptimierung
vorgenommen wurde, dem Kennenmüssen des Marktauftrittes der Beklag-
ten gleichzusetzen ist.
6.7.3.1.7. Unter dem Zeichen "Luminarte" erzielte Umsätze
Nach dem Dargelegten ist nicht erstellt, dass der Marktauftritt der Beklag-
ten oder ihrer Rechtsvorgängerinnen unter dem Zeichen "Luminarte" in der
Schweiz für die Klägerin vor Mitte des Jahres 2013 aus dem Betrieb von
grenznahen Lokalitäten in Deutschland, dem Betrieb der Domains "www.lu-
minarte.ch" und "www.luminarte.de" oder der nachgewiesenen Google Ad-
Words Werbung erkennbar war bzw. gewesen wäre. Soweit die Beklagte
schliesslich auf die behauptete Mund-zu-Mund-Propaganda verweist, ist
nicht ersichtlich, in welchem Zusammenhang diese mit dem Tatbestandele-
ment der Erkennbarkeit stehen soll. Die Beklagte behauptet denn auch
nicht, dass ein Mitarbeiter der Klägerin durch die angebliche Mund-zu-
Mund-Propaganda vom Marktauftritt unter dem Zeichen "Luminarte" hätte
erfahren müssen.
Die dargelegten Umsätze bis Mitte des Jahres 2013 unter dem Zeichen
"Luminarte" der Beklagten resp. ihrer Vorgängergesellschaften sind daher
aus einem Marktverhalten entsprungen, welches die Klägerin auch bei ge-
höriger Sorgfalt nicht hätte erkennen können. Daher hat die Tatsache, dass
die Beklagte resp. ihre Vorgängergesellschaften mit Schweizer Kunden
Umsatz erzielt haben, keinen Einfluss auf die Beurteilung der Erkennbar-
keit. Ebenso führen die von der Beklagten resp. ihrer Rechtsvorgängerin-
nen erzielten Umsätze entgegen der Beklagten (Duplik N. 216) nicht zur
Notorietät des Zeichens "Luminarte". Die Notorietät beurteilt sich nicht ein-
zig aufgrund der behaupteten Umsatzzahlen, sondern ist anlässlich einer
Gesamtwürdigung festzustellen.187 Jahresumsätze von Fr. 200'000.00
185 Ähnlich bereits BÜHLER, Meta-Tags, Keywords und andere Mittel der Suchmaschinenoptimierung –
eine Momentaufnahme aus immaterialgüter- und wettbewerbsrechtlicher Sicht, in Florian/Oliver (Hrsg.), Internet-Recht und electronic Commerce Law 9, 2007, S. 47.
186 ISLER/SUTTER (Fn. 177), S. 63. 187 Vgl auch BGE 130 III 267 E. 4.7.3.
- 84 -
übersteigend sind daher nicht der offenkundigen Bekanntheit eines Zei-
chens gleichzusetzen.
6.7.3.1.8. Youtube-Video
Ebenfalls nicht zu hören ist die Beklage, soweit sie vorbringt, aufgrund des
Youtube-Videos vom 9. Dezember 2011 hätte die Klägerin vom Marktauf-
tritt der Beklagten Kenntnis nehmen müssen (vgl. KAB 5 - 18/1).
Das auf der Domain "www.youtube.com" aufgeschaltete Videoportal ist
zwar aus der Schweiz abrufbar, jedoch nicht auf den Schweizer Markt aus-
gerichtet. Daher geht es nicht an, der Klägerin eine Sorgfaltspflicht des In-
halts aufzuerlegen, die grösstenteils weltweit zugänglichen Videoinhalte
auf potentiell unlauteres Verhalten durchsuchen zu müssen. Schliesslich
erläutert die Beklagte nicht, worin die Verbindung des Videos, welches
nach ihrer Darstellung den Aufbau eines "AD.Studios" zeigt, mit dem
Schweizer Markt liegen soll.
6.7.3.1.9. Markeneintragung
Soweit die Beklagte für das Kennenmüssen ihres Marktauftritts auf das Pri-
oritätsdatum vom 9. Februar 2013 der Marke Nr. 654460 verweist, kann ihr
nicht gefolgt werden.
Vorab hätte die Klägerin gegen die beklagtische Markeneintragung man-
gels einer eigenen älteren Marke nicht vorgehen können. Zudem ist die
Eintragung einer Marke nicht einem lauterkeitsrechtlich relevanten Markt-
auftritt gleichzusetzen. In lauterkeitsrechtlicher Hinsicht ginge es zu weit,
der Klägerin eine Sorgfaltspflicht des Inhalts aufzuerlegen, publizierte Mar-
ken, deren Zeichen noch nicht im Schweizer Wettbewerb eingesetzt wur-
den, abzumahnen. Im Übrigen geht es nicht an, für die Tatbestandvoraus-
setzung der Erkennbarkeit eines lauterkeitsrechtlich relevanten Verhaltens
auf das Prioritätsdatum vom 9. Februar 2013 abzustellen. Denn erst der
Gebrauch einer Marke lässt erkennen, ob überhaupt ein lauterkeitsrechtlich
relevantes Verhalten zu befürchten ist.188
6.7.3.1.10. Vertrieb von Markenprodukten
Soweit die Beklagte geltend macht, der Anbieter von Markenprodukten
kenne üblicherweise auch Konkurrenzunternehmen, ist ihr nicht zu folgen.
Die Beklagte hat es unterlassen aufzuzeigen, dass allfällige von beiden
Parteien geführte Produkte notwendigerweise vom gleichen Importeur
resp. Verteiler zu beziehen wären.
188 Vgl. auch in Bezug auf die Markenrechtsverletzung BRAUCHBAR (Fn. 89), S. 92; BSK MSchG-FRICK
(Fn. 5), Vor Art. 51a-60 N. 66; MARBACH (Fn. 82), N. 1583.
- 85 -
6.7.3.2. Lange Dauer des verletzenden Gebrauchs
6.7.3.2.1. Erkennbarkeit per Ende Oktober 2013
Die Beklagte hat in den Monaten September und Oktober 2013 in namhaf-
ten Deutschschweizer Printmedien und Radiostationen Werbeanstrengun-
gen für ihren Marktauftritt in der Schweiz unternommen (KAB 5 - 14/1/1 - 5;
5 - 14/5/1). Da von der Klägerin zumindest erwartet werden kann, dass sie
bei gehöriger Sorgfalt die entsprechenden Werbeanstrengungen wahr-
nimmt und intern für den notwendigen Informationsfluss sorgt, hätte die
Klägerin den Marktauftritt unter dem Zeichen "Luminarte" spätestens per
Ende Oktober 2013 bemerken müssen.
6.7.3.2.2. Abmahnschreiben vom 3. Oktober 2016
Zwischen den Parteien ist umstritten, ob das Abmahnschreiben vom 3. Ok-
tober 2016 (KB 165) in der vorliegenden Streitsache Wirkungen entfaltet.
Die Beklagte wendet diesbezüglich ein, aus einer von der A.-Gruppe Ge-
nossenschaft verfassten Abmahnung könne die Klägerin keine Rechte ab-
leiten, da es sich um verschiedene juristische Personen handle (Duplik
N. 313). Im Übrigen sei das Abmahnschreiben nicht an die Beklagte, son-
dern an die AE. GmbH adressiert gewesen (Duplik N. 70).
Das Abmahnschreiben stellt eine rechtsgeschäftsähnliche, empfangsbe-
dürftige Willensäusserung dar.189 Deren Gehalt ist mangels behauptetem
übereinstimmenden tatsächlichen Verständnis nach dem Vertrauensprin-
zip auszulegen.190
a. Abmahnschreiben zeigt Wirkungen für Klägerin
Gemäss dem im Namen der A.-Gruppe Genossenschaft verfassten Schrei-
ben wird der AE. GmbH vorgeworfen, die schweizerischen Kennzeichen-
rechte der A.-Gruppe Genossenschaft zu verletzen und darüber hinaus un-
lauteren Wettbewerb im Sinne des UWG zu begehen (KB 165 S. 2). Auf-
grund der Ausführungen durfte der Adressat davon ausgehen, die A.-
Gruppe Genossenschaft sei Inhaberin der Schweizer Kennzeichenrechte
und Betreiberin der "Lumimart" Filialen. Daher durfte die AD. GmbH in gu-
ten Treuen annehmen, allfällige lauterkeitsrechtliche Ansprüche würden
von der A.-Gruppe Genossenschaft geltend gemacht.
Entgegen den Ausführungen der Beklagten kann sich die Klägerin auf das
Mahnschreiben der A.-Gruppe Genossenschaft berufen. Ein Abmahn-
schreiben bezweckt einerseits die Sicherstellung eines Rechtsanspruchs,
indem einer allenfalls eintretenden Verwirkung zuvorgekommen wird. An-
189 Es handelt sich um eine sog. Vorstellungsäusserung; zur Rechtsnatur vgl. auch WILLI, Die Schutz-
rechtsverwarnung als immaterialgüterrechtliches Rechtsinstitut, AJP 1999, S. 1384 190 Vgl. zur analogen Anwendung der Regeln über die Auslegung von Willenserklärungen WIEGAND,
recht 1983, S. 121; BK OR-MÜLLER, 2018, Art. 1 N. 30; BGer 5A_27/2016 vom 28. Juni 2016 E. 4.2.2 im Zusammenhang mit einer Anscheinvollmacht.
- 86 -
dererseits wird durch das Abmahnschreiben der gute Glaube des Adressa-
ten in die Rechtmässigkeit seines Verhaltens zerstört.191 Aufgrund des Ab-
mahnschreibens ist evident, dass die A.-Gruppe Genossenschaft den Zei-
chengebrauch von "Luminarte" in der Schweiz sowohl unter kennzeichen-
rechtlichen als auch unter lauterkeitsrechtlichen Gesichtspunkten nicht to-
lerierte und entsprechend abmahnte. Daher musste dem Adressaten in gu-
ten Treuen bewusst sein, sein Verhalten werde vom Schutzrechtsinhaber
der "Lumimart" Zeichen nicht mehr geduldet. Ein allenfalls bestehender gu-
ter Glaube in die Rechtmässigkeit des Marktauftritts von "Luminarte" in der
Schweiz wurde dadurch zerstört.
Das Erfordernis einer zusätzlichen Abmahnung durch die lauterkeitsrecht-
lich aktivlegitimierte juristische Person würde zu einer zwecklosen Forma-
lität verkommen. Sie würde dem Abmahnschreiben vom 3. Oktober 2016
nichts hinzufügen. Dies gilt umso mehr, als die Klägerin eine Tochtergesell-
schaft der A.-Gruppe Genossenschaft ist.
b. Abmahnschreiben zeigt keine Wirkungen für die Beklagte
Als Adressat des Abmahnschreibens ist die AE. GmbH aufgeführt. Diese
war zu diesem Zeitpunkt Inhaberin der streitverfangenen Marke 654460
(vgl. KB 162 S. 5). Zwar behauptet die Beklagte, der lauterkeitsrechtlich re-
levante Marktauftritt unter dem Zeichen "Luminarte" sei durch sie erfolgt
(Klageantwort N. 48). Dies steht aber im Widerspruch zu den in
KB 156 - 158 eingereichten Werbeunterlagen der Kalenderwochen 32, 36
und 40 des Jahres 2016. Aus diesen geht hervor, dass das Zeichen
in Werbeunterlagen der AE. GmbH verwendet wurde. Dem-
gegenüber wurde im Impressum der auf der Domain "www.luminarte.ch"
abrufbaren Webseite die Beklagte als Betreiberin angegeben (Klage N. 53
m.V.a. KB 168 S. 1). Folglich war für die Klägerin resp. die A.-Gruppe Ge-
nossenschaft nicht klar ersichtlich, welche Gesellschaft sich für den Markt-
auftritt unter dem Zeichen "Luminarte" in der Schweiz verantwortlich zeigte.
Es wäre daher an der Klägerin resp. der A.-Gruppe Genossenschaft gewe-
sen, zusätzlich auch die Beklagte abzumahnen. Da sie dies unterlassen
hat, vermag das Abmahnschreiben für die Beklagte keine Wirkungen zu
entfalten.
6.7.3.2.3. Klageeinreichung im Verfahren HOR.2017.30
Entgegen der Beklagten ist unter dem Tatbestandsmerkmal des langen Zu-
wartens nicht auf die Klageeinreichung vom 17. April 2018 abzustellen. Mit
Klage vom 30. März 2017 hat die A.-Gruppe Genossenschaft der Beklag-
ten angezeigt, dass sie den Zeichengebrauch von "Luminarte" durch die
Beklagte nicht toleriert. Damit wurde der gute Glaube der Beklagten in die
191 DIKE UWG-DOMEJ (Fn. 17), Art. 9 N. 116; BAUDENBACHER/GLÖCKNER (Fn. 44), Art. 9 N. 278; SHK
UWG-SPITZ (Fn. 13), Art. 9 N. 228 Fn. 525; BGE 109 II 338 E. 2a.
- 87 -
Duldung des Luminarte Marktauftrittes in der Schweiz durch den Marken-
inhaber von "Lumimart" zerstört. Soweit sich die Beklagte nun darauf be-
ruft, die Klägerin habe vorprozessual nicht angezeigt, dass sie den Lumin-
arte-Marktauftritt nicht dulde, verhält sie sich rechtsmissbräuchlich. Eine
Abmahnung durch die Klägerin, die Lizenznehmerin, fügte der Klage vom
30. März 2017 nichts hinzu und stellte eine zwecklose Formalität dar. Folg-
lich durfte die Beklagte mit Zustellung der Klage vom 30. März 2017 in gu-
ten Treuen nicht mehr davon ausgehen, der Marktauftritt unter dem Zei-
chen "Luminarte" werde von der A.-Gruppe Genossenschaft oder von ei-
nem allfälligen Lizenznehmer geduldet.
6.7.3.2.4. Kein zu langes Zuwarten
Bei gehöriger Sorgfalt hätte die Klägerin den Marktauftritt unter dem Zei-
chen "Luminarte" Ende Oktober 2013 erkennen müssen. Der gute Glaube
der Beklagten in die Duldung des Marktauftrittes durch die Klägerin wurde
mit Zustellung der Klage vom 30. März 2017 und somit rund dreieinhalb
Jahre nach der frühestmöglichen Erkennbarkeit zerstört.
Die Beklagte ist eine ausländische Unternehmung, welche sukzessive vom
Ausland her in den Schweizer Markt vorgedrungen ist. Der Vertrieb der
Waren an Schweizer Konsumenten erfolgt via Online-Handel oder durch
grenznahe Showrooms in Deutschland. Im Gegensatz zur Klägerin ist die
Beklagte in der Schweiz nicht im stationären Handel tätig. Im Übrigen hat
die Klägerin die Beklagte nicht durch ein aktives Verhalten zur Annahme
verleitet, die Verletzung werde geduldet.192 Auch wenn die Beklagte Wer-
beanstrengungen in der Schweiz getätigt und sich damit einhergehend eine
Marktposition erkämpft hat, erachtet das Handelsgericht angesichts der
höchstrichterlichen Rechtsprechung193 ein Zuwarten von dreieinhalb Jah-
ren nicht als übermässig.
Schliesslich stellt die verzögerte Einreichung der Klage am 17. April 2018
kein übermässig langes Zuwarten der zur Geltendmachung der lauterkeits-
rechtlichen Ansprüche legitimierten Klägerin dar. Nach Klageeinreichung
im Verfahren HOR.2017.30 wurde am 8. Dezember 2017 eine Instruktions-
verhandlung durchgeführt. In deren Anschluss wurden Vergleichsgesprä-
che geführt. Ob daran auch die Klägerin oder nur die A.-Gruppe Genos-
senschaft beteiligt war, ist entgegen den Vorbringen der Beklagten nicht
massgebend. Der geschilderte Verfahrensablauf zeigt, dass die A.-
Gruppe Genossenschaft als Markeninhaberin den Marktauftritt unter dem
Zeichen "Luminarte" weiterhin beanstandete. Daher durfte die Beklagte seit
der Zustellung der Klageschrift im Verfahren HOR.2017.30 nicht davon
ausgehen, ihr Marktauftritt in der Schweiz werde geduldet.
192 Vgl. BSK MSchG-FRICK (Fn. 5), Vor Art. 51a-60 N. 69; MARBACH (Fn. 82), N. 1579. 193 BGer 4A_257/2014 vom 29. September 2014 E. 6.3; 4C.76/2005 vom 30. Juni 2005 E. 3.2 (nicht
publiziert in BGE 131 III 581); 4C.371/2005 vom 2. März 2005 E. 3.1; vgl. jedoch BGer 4C.125/1997 vom 21. Oktober 1997 E. 2b zum Urheberrecht.
- 88 -
6.7.4. Zwischenfazit
Zusammenfassend ist kein langes Zuwarten der Klägerin nachgewiesen.
Dementsprechend sind die klägerischen Ansprüche nicht verwirkt. Folglich
erübrigt sich im Zusammenhang mit der Beklagten als Verletzerin eine ver-
tiefte Auseinandersetzung mit den beiden weiteren Tatbestandsmerkmalen
"Wertvoller Besitzstand" und "Guter Glaube".
6.8. Fazit
Die von der Beklagten verwendeten Zeichen "Luminarte", "luminarte.de",
"luminarte.ch", "Luminarte GmbH" sowie sind mit den Zei-
chen "Lumimart", ,"lumimart.ch", sowie der Klägerin
verwechselbar im Sinne des Art. 3 Abs. 1 lit. d UWG. Da auch die übrigen
Voraussetzungen des klägerischen Anspruchs erfüllt sind, ist das Rechts-
begehren gestützt auf Art. 3 Abs. 1 lit. d UWG gutzuheissen.
7. Namensrecht
Der Vollständigkeit halber ist nachfolgend auf die von der Klägerin behaup-
teten namensrechtlichen Ansprüche einzugehen.
7.1. Aktiv- und Passivlegitimation
7.1.1. Parteibehauptungen
Die Klägerin führt im Wesentlichen aus, der Träger von "Lumimart" sei zur
Geltendmachung der namensrechtlichen Ansprüche aktivlegitimiert. Die
Muttergesellschaft der Klägerin habe per 1. Januar 2004 den betrieblichen
Teil der P. AG und damit auch die Geschäftssparte "Lumimart" übernom-
men und in ihre Unternehmensstruktur integriert. Per 31. Dezember 2012
habe die A.-Gruppe Genossenschaft die Geschäftssparte "Lumimart" an
die Klägerin übertragen (vgl. KB 17). Eventualiter habe die Klägerin per
6. Mai 2013 den Gebrauch der Geschäftsbezeichnung "Lumimart" aufge-
nommen und damit die Namensrechte durch rechtserzeugenden Gebrauch
begründet (Replik N. 299). Da sich die Beklagte den Namen der Klägerin
anmasse, indem sie die Bezeichnung "Luminarte" verwende, welche zum
Namen "Lumimart" der Klägerin eine grosse Ähnlichkeit aufweise, sei die
Passivlegitimation der Beklagten zu bejahen (Klage N. 72 - 79).
Die Beklagte bestreitet die Aktivlegitimation der Klägerin, da ihr keine Na-
mensrechte zustehen würden (Duplik N. 376). Sodann werde der Erwerb
von Namensrechten durch die A.-Gruppe Genossenschaft im Zeitpunkt des
Beginns des Zeichengebrauchs im Jahr 2004 (Klageantwort N. 114; Duplik
N. 380) bestritten. Ebenso habe die Klägerin die besagten Namensrechte
nicht übernehmen können, da es sich um höchstpersönliche Rechte handle
(Klageantwort N. 119; Duplik N. 379). Weiter sei die Klägerin erst am 3. Mai
2013 ins Handelsregister eingetragen worden, so dass ein vorangehender
Namensgebrauch ausscheide (Klageantwort N. 121). Schliesslich habe die
- 89 -
Klägerin nicht substanziiert, in welchem Umfang sie das Zeichen "Lumim-
art" im Jahre 2013 benutzt haben will (Duplik N. 116).
7.1.2. Rechtliches
Namensrechtliche Ansprüche sind vom Namensträger geltend zu ma-
chen.194 Namensträger können sowohl natürliche als auch juristische Per-
sonen sein.195 Objekt namensrechtlicher Ansprüche kann unter bestimmten
Voraussetzungen ebenfalls eine Geschäftsbezeichnung bilden.196 Passiv-
legitimiert ist derjenige, welcher sich den Namen des Namensträgers an-
masst.197
Eine Geschäftsbezeichnung kann gemäss einer Lehrmeinung im Gegen-
satz zu einer Firma und einem Namen auf einen anderen Rechtsträger
übertragen werden.198 Zu konkretisieren ist allerdings, dass eine Übertra-
gung der Geschäftsbezeichnung ohne gleichzeitige Übertragung des Ge-
schäfts(teils) bzw. Unternehmens(teils) nicht denkbar ist.199 Die Geschäfts-
bezeichnung wird mit anderen Worten durch Übertragung des bezeichne-
ten Unternehmens oder Unternehmensteils auf den neuen Rechtsträger
mitübertragen. Das folgt auch daraus, dass Geschäftsbezeichnungen nicht
Rechtssubjekte, sondern Rechtsobjekte bezeichnen.200
7.1.3. Würdigung
Die Aktivlegitimation namensrechtlicher Ansprüche ist der Betreiberin der
als selbstständig bezeichneten Geschäftssparte "Lumimart" bzw. der Trä-
gerin des als selbstständig bezeichneten Unternehmensteils "Lumimart"
zuzuweisen. Vorliegend wird die Geschäftssparte "Lumimart" unstrittig von
der Klägerin betrieben (Klage N. 75; Replik N. 299; Klageantwort N. 121 f.).
Daher fällt ihr die Aktivlegitimation hinsichtlich der behaupteten namens-
rechtlichen Ansprüche zu.
Folglich kann entgegen dem (Haupt-)Standpunkt der Klägerin die A.-
Gruppe Genossenschaft keine Namensrechte an der Geschäftssparte "Lu-
mimart" geltend machen. Denn die A.-Gruppe Genossenschaft als Mutter-
gesellschaft der Klägerin ist nicht Betreiberin der Geschäftssparte "Lumim-
art".
194 Vgl. BSK ZGB I-BÜHLER, 6. Aufl. 2018, Art. 29 N. 12. 195 BSK ZGB I-BÜHLER (Fn. 194), Art. 29 N. 13. 196 BSK ZGB I-BÜHLER (Fn. 194), Art. 29 N. 8. A.A. MEIER-HAYOZ/FORSTMOSER/SETHE, Schweizeri-
sches Gesellschaftsrecht, 12. Aufl. 2018, § 7 N. 28, wonach Geschäftsbezeichnungen ohne namensrechtlichen Schutz geniessen.
197 Vgl. BSK ZGB I-BÜHLER (Fn. 194), Art. 29 N. 31; LACK, Privatrechtlicher Namensschutz (Art. 29 ZGB), 1992, S. 127.
198 AGTEN, Der Schutz von Unternehmenskennzeichen bei Kollisionen mit anderen Unternehmens- und Waren- oder Dienstleistungskennzeichen in der Schweiz, 2011, S. 55.
199 Vgl. BGE 72 II 1 E. 2a. 200 Vgl. BSK ZGB I-BÜHLER (Fn. 194), Art. 29 N. 5; SHK MSchG-THOUVENIN/DORIGO (Fn. 178), Art. 13
N. 23; vgl. auch JUNG/KUNZ/BÄRTSCHI, Gesellschaftsrecht, 2016, N. 42 ff.
- 90 -
Entgegen dem sinngemässen Standpunkt der Beklagten ist auf Ebene der
Aktivlegitimation noch nicht auf die umstrittene Namenspriorität einzuge-
hen. Massgebend ist einzig, dass es sich bei der Klägerin um die Betreibe-
rin der Geschäftssparte "Lumimart" handelt. Ob sie die behaupteten na-
mensrechtlichen Ansprüche rechtsgeschäftlich oder rechtserzeugend be-
gründet hat, ist auf Stufe der Aktivlegitimation ohne Belang.
Da die Beklagte unter dem Namen "Luminarte" auftritt und sich somit mut-
masslich den Namen "Lumimart" anmasst, ist sie passivlegitimiert.
7.2. Namensrechtliche Ansprüche
7.2.1. Parteibehauptungen
Die Klägerin führt im Wesentlichen aus, bei "Lumimart" handle es sich um
eine schutzfähige Geschäftsbezeichnung für eine Geschäftssparte/Division
des A.-Konzerns (Klage N. 145). Es sei ausreichend, dass das Publikum
die Bezeichnung "Lumimart" mit den von der Klägerin betriebenen Fach-
märkten für Leuchten in Verbindung bringe. Dies ergebe sich aus der gros-
sen Bekanntheit der Beizeichung "Lumimart" in der Schweiz (Klage N. 150
m.V.a. KB 151 f.).
Die Beklagte bestreitet die behaupteten namensrechtlichen Ansprüche und
wendet insbesondere ein, der Konsument setzte das Zeichen "Lumimart"
nicht der Klägerin gleich. "Lumimart" werde vom A.-Konzern häufig als
Partner bezeichnet, so dass der durchschnittliche Konsument "Lumimart"
als Namen eines eigenständigen Unternehmens auffasse (Klageantwort
N. 122; Duplik N. 380).
7.2.2. Rechtliches
Objekt namensrechtlicher Ansprüche kann unter bestimmten Vorausset-
zungen ebenfalls eine Geschäftsbezeichnung bilden.201
Eine Geschäftsbezeichnung ist die Bezeichnung eines Geschäfts bzw. Un-
ternehmens. Dabei handelt es sich um eine zu einer organisatorischen Ein-
heit zusammengefasste Mehrheit von Sachen, Rechten und tatsächlichen
Beziehungen (Chancen),202 die als Rechtsgesamtheit zu qualifizieren ist.203
Die Abgrenzung zur Enseigne besteht darin, dass ein Bezug zu einem Ge-
schäftslokal fehlt.204
Eine Geschäftsbezeichnung muss nicht die gesamte wirtschaftliche Tätig-
keit bzw. das gesamte Unternehmen eines Rechtssubjekts bezeichnen,
201 BSK ZGB I-BÜHLER (Fn. 194), Art. 29 N. 8. A.A. MEIER-HAYOZ/FORSTMOSER/SETHE (Fn. 196), § 7
N. 28, wonach Geschäftsbezeichnungen ohne weiteres namensrechtlichen Schutz geniessen. 202 HILTI, SIWR III/2, 2. Aufl. 2005, S. 4; MÜLLER, Kollisionen von Kennzeichen, 2010, N. 71. 203 MEIER-HAYOZ/FORSTMOSER/SETHE (Fn. 196), § 5 N. 15. 204 BGE 130 III 58 E. 5.2.
- 91 -
sondern kann auch nur einen (selbständigen) Teil davon erfassen.205 Es
kann auch vorkommen, dass ein früherer Firmenname aufgrund einer
Übernahme nur noch als Geschäftsbezeichnung des übernommenen Un-
ternehmens weiterexistiert.206
Geschäftsbezeichnungen bezeichnen ein Unternehmen i.S. einer Rechts-
gesamtheit, nicht aber den Geschäftsinhaber als solchen.207 Geschäftsbe-
zeichnungen geniessen deshalb nur namensrechtlichen Schutz, wenn sie
sich geradezu zu Namen ihres Inhabers entwickelt haben bzw. wenn sie –
ähnlich einem Pseudonym – die dahinterstehende Person klar individuali-
sieren.208 Dies entspricht schliesslich der bundesgerichtlichen Rechtspre-
chung, welche im Urteil 4C.31/2004 vom 8. November 2004 E. 5 folgendes
ausführte:
"Voraussetzung für die Schutzfähigkeit eines Zeichens ist aber stets, dass der Verkehr es als Namen seines Inhabers auffasst [...]. Nach den Feststellungen der Vorinstanz ist dies hier nicht der Fall, da der Verkehr die Marke "AF" nicht als Namen ihrer Inhaberin "AG" auffasst (oben E. 1.2). Die Vorinstanz hat somit bundesrechtskonform keinen gemäss Art. 29 ZGB gewährt."
7.2.3. Würdigung
Zwischen den Parteien ist vorab strittig, ob der Bestand namensrechtlicher
Ansprüche voraussetzt, dass "Lumimart" von den massgebenden Ver-
kehrskreisen (vgl. E. 4 hiervor) als Name bzw. Pseudonym der Klägerin
aufgefasst wird.
Soweit die Lehre den namensrechtlichen Schutz von Geschäftsbezeich-
nungen anerkennt, setzt sie überwiegend voraus, dass sich diese geradezu
zum Namen ihrer Inhaber entwickelt haben.209 Dies überzeugt, zumal eine
vorbehaltlose Anerkennung des namensrechtlichen Schutzes von Ge-
schäftsbezeichnungen mit dem Schutzzweck des Namensrechts nicht ver-
einbar ist:210 Die Kennzeichnung und Individualisierung einer natürlichen
205 Vgl. CELLI, Der internationale Handelsname, 1993, S. 46 f.; BÜHLER, Grundlagen des materiellen
Firmenrechts, 1991, S. 78; BURI, Verwechselbarkeit (Fn. 48), S. 185 f.; BURI, SIWR III/2 (Fn. 71), S. 380; SHK MSchG-THOUVENIN/DORIGO (Fn. 178), Art. 13 N. 23; TROLLER (Fn. 48), S. 34.
206 HILTI (Fn. 202), S. 54. 207 Vgl. BURI, Verwechselbarkeit (Fn. 48), S. 178 f.; BÜHLER (Fn. 205), S. 83. 208 BSK ZGB I-BÜHLER (Fn. 194), Art. 29 N. 8; BURI, Verwechselbarkeit (Fn. 205), S. 116 Fn. 580 u.
S. 178 f.; LACK, Privatrechtlicher Namensschutz (Art. 29 ZGB), 1992, S. 111 f.; AGTEN (Fn. 198), S. 61; SHK MSchG-THOUVENIN/NOTH, 2. Aufl. 2017, Einleitung N. 109; vgl. auch CELLI (Fn. 205), S. 47 f., der zu Recht hervorhebt, dass keine Mischung von wettbewerbsrechtlichen und Elementen zugelassen werden sollte, wenn eine Geschäftsbezeichnung nur das Unternehmen, nicht jedoch den andersnamigen Unternehmer kennzeichnet.
209 Vgl. die Nachweise in Fn. 208 hiervor. 210 A.A. wohl MEIER-HAYOZ/FORSTMOSER/SETHE (Fn. 196), § 7 N. 28; BK OR-SIEFFERT, 2017, Art. 944
N. 15 m.w.N.; zum Schutzzweck siehe LACK (Fn. 208), S. 111; BSK ZGB I-BÜHLER (Fn. 194), Art. 29 N. 2; BURI, Verwechselbarkeit (Fn. 48), S. 115.
- 92 -
oder juristischen Person wird bei Geschäftsbezeichnungen gerade nicht er-
reicht, da Letztere Rechtsobjekte und nicht Rechtssubjekte kennzeichnen.
Insoweit kann es entgegen den klägerischen Ausführungen nicht ausrei-
chen, dass die massgebenden Verkehrskreise die Geschäftsbezeichnung
als Hinweis auf das betroffene Rechtsobjekt auffassen. Diesfalls würde die
beabsichtigte Kennzeichnung und Individualisierung nicht den Träger des
Namensrechts, sondern das Rechtsobjekt treffen. Diese Zurechnung ver-
mag aber gerade keine namensrechtlichen Ansprüche zu begründen.211
Die Geschäftsbezeichnung muss daher wie ein Pseudonym212 im Verkehr
als Name des Inhabers aufgefasst werden, um namensrechtlichen Ansprü-
che zu begründen.
Die Klägerin führt selbst aus, das Publikum bringe aufgrund der grossen
Bekanntheit die Bezeichnung "Lumimart" mit den Fachmärkten für Leuch-
ten "Lumimart" in Verbindung (Klage N. 150). "Lumimart" ist nach Darstel-
lung der Klägerin die Geschäftsbezeichnung für eine Geschäftssparte/Divi-
sion des A.-Konzerns (Klage N. 145). Wenn nun das Publikum die Bezeich-
nung "Lumimart" mit einem Rechtsobjekt (Geschäftssparte/Division) in Ver-
bindung bringt und nicht mit dem dahinter stehenden Rechtssubjekt (juris-
tische Person), vermag dies nach dem zuvor Dargelegten keine namens-
rechtlichen Ansprüche zu begründen. Im Übrigen behauptet die Klägerin
nicht, "Lumimart" werde als Name der Klägerin aufgefasst. Daher sind im
Geltungsbereich der Verhandlungsmaxime (Art. 55 Abs. 1 ZPO) keine na-
mensrechtlichen Ansprüche der Klägerin nachgewiesen. Folglich erübrigen
sich weitere Ausführungen zu den Parteivorbringen im Zusammenhang mit
dem Namensrecht.
7.3. Zwischenfazit
Im Ergebnis kann die Klägerin aus dem Namensrecht keinerlei Ansprüche
ableiten. Es bestehen keine relevanten Namensrechte.
8. Vollstreckungsmassnahmen
8.1. Ausgangslage
In Rechtsbegehren Ziff. 1 beantragt die Klägerin, das nach Ablauf von
30 Tagen nach Vollstreckbarkeit des Urteils anzuordnende Verbot sei mit
der Androhung einer Ordnungsbusse von CHF 1'000 für jeden Tag der
Nichterfüllung, mindestens aber CHF 5'000 gemäss Art. 343 Abs. 1 lit. b
ZPO zu versehen.
211 Siehe auch LACK (Fn. 208), S. 111; BURI, Verwechselbarkeit (Fn. 48), S. 179 f.; BGer 4C.31/2004
vom 8. November 2004 E. 5; 4C.360/2005 vom 23. Januar 2006 E. 2.4 ("BSA" wird als Hinweis auf den Verein "Bund Schweizer Architekten" verstanden). A.A. TROLLER (Fn. 48), S. 173 f.
212 Siehe 4C.31/2004 vom 8. November 2004 E. 5; BGer 4C.360/2005 vom 23. Januar 2006 E. 2.4; BSK ZGB I-BÜHLER (Fn. 194), Art. 29 N. 7.
- 93 -
8.2. Parteibehauptungen
Die Klägerin bringt im Wesentlichen vor, die Ordnungsbusse sei verhältnis-
mässig, da die Beklagte bereits mehrfach signalisiert habe, die Rechte der
Klägerin weiterhin verletzen zu wollen (Klage N. 196).
Die Beklagte bestreitet demgegenüber die Verhältnismässigkeit der bean-
tragten Ordnungsbussen und wendet ein, Art. 343 ZPO sei ohne ein Han-
deln der Beklagten in der Schweiz gar nicht anwendbar (Klageantwort
N. 281). Daneben sei höchstens eine Strafandrohung nach Art. 292 StGB
vorzunehmen. Und ausserdem sei die Bezugnahme auf die Vollstreckbar-
keit des Entscheids nicht geeignet, da diesfalls die Gefahr bestehe, dass
sich die Beklagte trotz Beschwerde und Antrag auf aufschiebende Wirkung
der Verletzung der Zwangsmassnahmen schuldig machen könnte
(Schlussvortrag vom 19. August 2019 N. 141 ff.).
8.3. Würdigung
Das Gericht ordnet bei der direkten Vollstreckung auf Antrag der obsiegen-
den Partei Vollstreckungsmassnahmen an (Art. 236 Abs. 3 ZPO).213 Da
sich die Beklagte nachgewiesenermassen im schweizerischen Wettbewerb
unlauter verhalten hat und mit dem Verbot unlautere Handlungen in der
Schweiz verboten werden sollen, ist eine Anordnung der in Art. 343 ZPO
normierten Vollstreckungsmassnahmen zulässig. Die Klägerin ersucht um
Kombination der Massnahmen nach Art. 343 Abs. 1 lit. b und c ZPO. Eine
Kombination der Sanktionen nach diesen beiden Bestimmungen ist zuläs-
sig.214 Jedoch ist zu berücksichtigen, dass Ordnungsbussen gemäss Bun-
desgericht anhand des "objektiven Ausmasses der Zuwiderhandlung" aus-
zufällen sind.215 Die Androhung von Ordnungsbussen sollte daher stets den
gesetzlich vorgesehen Zusatz "bis zu" enthalten oder es ist auf die Nen-
nung eines konkreten Betrages gänzlich zu verzichten.216 Eine Unverhält-
nismässigkeit der beantragten Vollstreckungsmassnahme ist vor diesem
Hintergrund entgegen der Beklagten nicht ersichtlich. Daher ist der Beklag-
ten eine Ordnungsbusse von bis zu Fr. 5'000.00 für die Nichterfüllung des
gerichtlich angeordneten Verbots sowie bis zu Fr. 1'000.00 für jeden Tag
der Nichterfüllung anzudrohen.
Schliesslich ist entgegen der Ansicht der Beklagten (Schlussvortrag vom
19. August 2019 N. 121) die von der Klägerin verwendete Formulierung
nicht zu beanstanden. Das Rechtsbegehren Ziff. 1 wird mit Eröffnung des
Entscheids vollstreckbar (Art. 103 Abs. 1 und Abs. 2 lit. a BGG e contrario).
Indes kann das Bundesgericht ab Einreichung der Beschwerde um Ertei-
lung der aufschiebenden Wirkung ersucht werden (Art. 103 Abs. 3 BGG).
213 SCHNEUWLY/VETTER, Die Realvollstreckung handelsgerichtlicher Entscheide, in: Jusletter 5. Septem-
ber 2016, N. 14. 214 SCHNEUWLY/VETTER (Fn. 213), N. 34 ff. m.w.N. 215 BGE 142 III 587 E. 6.2. 216 SCHNEUWLY/VETTER (Fn. 213), N. 29.
- 94 -
In dringenden Fällen ist ebenfalls eine superprovisorische Anordnung der
aufschiebenden Wirkung möglich.217 Da die Beschwerdefrist in casu eben-
falls 30 Tage beträgt (Art. 100 Abs. 1 BGG), erscheint eine direkte Vollstre-
ckung des Rechtsbegehrens Ziff. 1 innert 30 Tagen seit Vollstreckbarkeit
als verhältnismässig.
9. Auskunftsanspruch
9.1. Rechtliches
Der Anspruch auf Auskunft und Rechnungslegung ist nicht dazu da, die
beklagte Partei in beliebige Richtungen hin auszuforschen. Aus der Hilfs-
funktion des präparatorischen Informationsanspruchs im Rahmen einer
Stufenklage folgt, dass er sich nur auf relevante Informationen bezieht, das
heisst auf solche, die für die inhalts- oder umfangmässige Bestimmung des
Zielanspruchs von Interesse sind. Das Ausforschungsverbot will in erster
Linie verhindern, dass der Kläger seinen Informationsanspruch dazu miss-
braucht, einen bloss vermuteten Hauptanspruch ausfindig zu machen oder
Anspruchsvoraussetzungen nachzuspüren, die den Inhalt oder Umfang
des Hauptanspruchs gar nicht tangieren. Freilich muss die klagende Partei
mit Blick auf die inhaltliche Konkretisierung des Zielanspruchs auch Anga-
ben dazu machen, was Gegenstand der Informationspflicht ist. Die Anfor-
derungen an die Bestimmtheit des Informationsbegehrens dürfen aber
nicht zu streng sein. Da die klagende Partei noch gar nicht weiss, was ge-
nau der Inhalt der ihr zustehenden Informationen ist, kann von ihr nicht ver-
langt werden, jeden verlangten Beleg einzeln zu bezeichnen. Vielmehr
muss es genügen, wenn sie mit ihrem Antrag Klarheit darüber schafft, zu
welchem Zweck sie worüber Auskunft oder Rechnungslegung verlangt und
für welchen Zeitraum und in welcher Form sie dies begehrt. Verlangt die
klagende Partei mit Blick auf einen konkreten Zweck nicht genau bestimmte
Unterlagen, so ist es Sache des Beklagten, die Auswahl der Belege vorzu-
nehmen. Ist das Informationsbegehren zwar klar, aber zu umfassend for-
muliert, hat der Richter es in geeigneter Weise einzugrenzen und den An-
trag im Übrigen abzuweisen.218
9.2. Anzahl der Leuchten und Leuchtmittel und Umsatz
9.2.1. Ausgangslage
Die Rechtsbegehren Ziff. 2.i) und Ziff. 2.ii) lauten wie folgt:
" 2. Die Beklagte sei (....) zu verpflichten, (....) Auskunft zu erteilen und nach anerkannten Grundsätzen der Rechnungslegung Rechnung zu legen über
i) die Anzahl aller Leuchten und Leuchtmittel, die sie oder ihre Lizenznehmer in den Jahren 2014-2018 an Kunden mit Adresse in der Schweiz oder an Wiederverkäufer/Händler mit Sitz in der Schweiz geliefert haben, unter Beilegung der Rechnungen, Lieferscheine und Mehrwertsteuer-, aus denen der Verkaufspreis hervorgeht.
217 BSK BGG-DORMANN, 3. Aufl. 2018, Art. 103 N. 28 Fn. 86. 218 BGE 143 III 297 E. 8.2.5.4.
- 95 -
ii) den Gesamtumsatz, der mit der Lieferung von Leuchten und Leuchtmitteln in den Jahren 2014-2018 an Kunden mit Adresse in der Schweiz erzielt wurde, unter Angabe der von Dritten in diesem Zusammenhang Lizenzgebühren, der den einzelnen Gegenständen unmittelbar zuzuordnenden Herstellungs- bzw. Anschaffungskosten sowie den Gegenständen unmittelbar zuzuordnenden sonstigen Kosten, wobei sämtliche Kosten mit Belegen nachgewiesen sein müssen."
9.2.2. Würdigung
Die Auskunft über die Anzahl der unter dem Zeichen "Luminarte" in die
Schweiz gelieferten Leuchten und Leuchtmittel sowie die Offenlegung des
dabei erzielten Umsatzes unter Zuordnung der mit den Produkten entstan-
denen Kosten erscheint zur Bezifferung der von der Klägerin geltend ge-
machten finanziellen Ausgleichsansprüche geeignet und erforderlich. Die
Gutheissung der beiden Rechtsbegehren führt alsdann nicht zu einer un-
zulässigen Ausforschung der Beklagten und tangiert – soweit aufgrund der
Parteivorbringen ersichtlich – ebenfalls keine Geschäftsgeheimnisse der
Beklagten.
Die Beklagte wendet gegen die beiden Rechtsbegehren einzig ein, die Klä-
gerin verhalte sich widersprüchlich, wenn sie im Zusammenhang mit der
Verwirkung ihrer Unterlassungsansprüche im beklagtischen Verkauf von
Leuchten und Leuchtmitteln an Kunden mit Adresse in der Schweiz keine
rechtlich relevante Benutzung des Zeichens "Luminarte" erkennen wolle,
aber dennoch darüber Auskunft und Rechnungslegung verlange (Duplik
N. 649). Die Beklagte ist mit ihrem Einwand nicht zu hören. Anlässlich der
von ihr geltend gemachten Verwirkung war zu prüfen, ob die Klägerin auf-
grund der von der Beklagten erzielten Umsätze eine Benutzung der "Lumi-
narte" Zeichen in der Schweiz hätte erkennen müssen. Dies trifft nach Auf-
fassung des Gerichts nicht zu (E. 6.7.3.1.7 hiervor). Ein finanzieller Aus-
gleichsanspruch der Klägerin in Form von Schadenersatz oder der Heraus-
gabe des von der Beklagten erzielten Gewinns resp. der ihr zugeflossenen
Bereicherung ist indes nicht auf den Zeitraum beschränkt, in dem die Klä-
gerin den Marktauftritt der Beklagten hätte erkennen können. Beurteilungs-
grundlage bildet der Zeitraum, während dem sich die Beklagte unlauter ver-
halten hat. Unlauteres Verhalten der Beklagten ist für den Zeitraum von
2014 bis 2018 erstellt. Folglich sind die Rechtsbegehren Ziff. 2.i) und 2.ii)
gutzuheissen.
9.3. Werbung
9.3.1. Ausgangslage
Das Rechtsbegehren Ziff. 2.iii) lautet wie folgt:
" 2. Die Beklagte sei (....) zu verpflichten, (....) Auskunft zu erteilen und nach anerkannten Grundsätzen der Rechnungslegung Rechnung zu legen über
- 96 -
iii) Umfang und Art der Bewerbung von Lampen, Leuchten und Leuchtmitteln in der Schweiz in den Jahren 2014-2018, insbesondere in Prospekten, , Ausstellungen, Anzeigen im Internet, und die für die Bewerbung gemachten Ausgaben, unter Beilegung entsprechender Belege."
9.3.2. Würdigung
Die Klägerin führt nicht aus, inwiefern Auskunft und Rechnungslegung über
die von der Beklagten getätigten Werbeanstrengungen in den Jahren 2014
bis 2018 zur Bezifferung ihrer finanziellen Ansprüche dienlich sein sollen.
Die Beklagte bestreitet einen Auskunftsanspruch der Klägerin im Wesent-
lichen mit zwei Argumenten: Einerseits sei aufgrund eines unvermeidbaren
Spillovers eine Abgrenzung zwischen der Werbung in der Schweiz und der
Werbung anderswo gar nicht möglich (Klageantwort N. 285). Andererseits
verhalte sich die Klägerin widersprüchlich, wenn sie anlässlich der Verwir-
kung so tue, als stelle Werbung mit Google Adwords keine relevante Be-
nutzung des Zeichens "Luminarte" in der Schweiz dar, gleichzeitig aber der
Beklagten Werbung im Internet verbieten lassen wolle und Auskunft über
die erfolgte Werbung im Internet verlange (Duplik N. 648).
In der Tat ist nicht ersichtlich, inwieweit die Rechnungslegung über die von
der Beklagten in der Schweiz betriebenen Werbeanstrengungen geeignet
sein soll, zur Bezifferung der finanziellen Ausgleichsansprüche der Klägerin
beizutragen. Einerseits hat die Beklagte über die entsprechenden Werbe-
aufwendungen bereits gestützt auf Rechtsbegehren Ziff. 2.ii) Auskunft zu
erteilen. Andererseits hat die Beklagte ihre in der Schweiz getätigten Wer-
beanstrengungen einlässlich dargelegt und teilweise auch mit Rechnungen
belegt (vgl. nur Klageantwort N. 59, 66, 68 f.). Folglich ist das Rechtsbe-
gehren Ziff. 2.iii) abzuweisen und es erübrigt sich, auf die weiteren von der
Beklagten erhobenen Einwendungen einzugehen.
9.4. Händler/Wiederverkäufer
9.4.1.Ausgangslage
Das Rechtsbegehren Ziff. 2.iv) lautet wie folgt:
" 2. Die Beklagte sei (....) zu verpflichten, (....) Auskunft zu erteilen (....) über
iii) Namen und Adressen sämtlicher Händler/Wiederverkäufer von Leuchten und Leuchtmitteln in der Schweiz, an welche in den Jahren 2014-2018 Leuchten und Leuchtmittel geliefert wurden, insbesondere sämtliche ."
9.4.2. Würdigung
Die Klägerin behauptet im Wesentlichen, die Beklagte habe in Klageant-
wort N. 67 behauptet, sie liefere in der Schweiz auch an Händler bzw. Wie-
derverkäufer. Zur Ermittlung und Überprüfung der in der Schweiz gemach-
ten Umsätze und Gewinne der Beklagten benötige die Klägerin Angaben
zur Identität der Händler bzw. Wiederverkäufer (Replik N. 533). Die Be-
- 97 -
klagte wendet demgegenüber im Wesentlichen ein, die Klägerin substanti-
iere nicht, inwieweit überhaupt Wiederverkäufer oder Kommissionäre in der
Schweiz existieren würden (Duplik N. 647).
Aufgrund der Gutheissung von Rechtsbegehren Ziff. 2.i) und 2.ii) hat die
Beklagte Auskunft über die Anzahl der in die Schweiz gelieferten Leuchten
und Leuchtmittel und den dazugehörigen Umsatz zu erstatten. Entspre-
chend erfassen diese Rechtsbegehren ebenfalls Umsätze, die mit Liefe-
rungen an inländische Händler oder Wiederverkäufer erzielt wurden. Inwie-
weit deren Name und Adresse zur Bezifferung des finanziellen Ausgleichs-
anspruchs geeignet oder erforderlich sein soll, vermag die Klägerin nicht
darzutun. Denn es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Be-
klagte wahrheitswidrig Auskunft erteilen wird. Überdies verkennt die Kläge-
rin, dass sich das unlautere Verhalten der Beklagten auf ihren Marktauftritt
in der Schweiz unter den "Luminarte" Zeichen beschränkt. Daher ist einzig
die Lieferung an Wiederverkäufer unter dem Zeichen "Luminarte" unlauter.
Soweit diese Wiederverkäufer die von der Beklagten erhaltenen Waren
wiederum veräussern, ist darin kein unlauteres Verhalten der Beklagten zu
erkennen. Die Vorbringen der Klägerin enthalten keine Hinweise auf die
Verwendung des Zeichens "Luminarte" durch Wiederverkäufer im Zusam-
menhang mit der Weiterveräusserung. Daher stellt die Auskunftserteilung
über die Namen und Adressen sämtlicher von der Beklagten in den Jahren
2014 bis 2018 belieferten Händler oder Wiederverkäufer eine unzulässige
Ausforschung der geschäftlichen Tätigkeit der Beklagten dar. Entspre-
chend ist das Rechtsbegehren Ziff. 2.iv) abzuweisen.
9.5. Vollstreckungsmassnahmen
9.5.1. Ausgangslage
Die Klägerin beantragt in Rechtsbegehren Ziff. 2, dass der Auskunftsan-
spruch mit der Androhung einer Ordnungsbusse von CHF 1'000 für jeden
Tag der Nichterfüllung, mindestens aber CHF 5'000 gemäss Art. 343
Abs. 1 lit. b ZPO gegen die Beklagte sowie der Androhung von Art. 292
StGB gegenüber den Organen der Beklagten zu versehen sei.
9.5.2. Würdigung
Die von der Beklagten erhobenen Einwendungen zu den direkten Vollstre-
ckungsmassnahmen im Zusammenhang mit dem Rechtsbegehren Ziff. 2
(Klageantwort N. 288) wurden im Wesentlichen bereits unter E. 8 hiervor
behandelt.
Eine Unverhältnismässigkeit der beantragten Vollstreckungsmassnahme
ist vor diesem Hintergrund entgegen der Beklagten nicht ersichtlich. Daher
ist der Beklagten eine Ordnungsbusse von bis zu Fr. 5'000.00 für die Nicht-
erfüllung des gerichtlich angeordneten Verbots sowie von bis zu
- 98 -
Fr. 1'000.00 für jeden Tag der Nichterfüllung anzudrohen. Gegen die Or-
gane der Beklagten lautet die Androhung zusätzlich auf Bestrafung nach
Art. 292 StGB.
Das Handelsgericht erkennt:
1.
Der Beklagten wird unter Androhung einer Ordnungsbusse von bis zu
Fr. 1'000.00 für jeden Tag der Nichterfüllung sowie einer Ordnungsbusse
von bis zu Fr. 5'000.00 im Falle der Nichterfüllung verboten, nach Ablauf
von 30 Tagen, nachdem dieses Urteil vollstreckbar geworden ist, unter der
Firmenbezeichnung "Luminarte GmbH" oder unter den Domainnamen "lu-
minarte.ch" oder "luminarte.de" oder unter dem Zeichen "Luminarte" oder
dem Logo Leuchten oder Leuchtmittel in der Schweiz selber
oder durch Dritte zu bewerben, anzubieten oder zu liefern.
2.
Der Beklagten wird unter Androhung einer Ordnungsbusse von bis zu
Fr. 1'000.00 für jeden Tag der Nichterfüllung sowie einer Ordnungsbusse
von bis zu Fr. 5'000.00 und unter Androhung der Bestrafung ihrer Organe
nach Art. 292 StGB im Widerhandlungsfall verpflichtet, binnen 30 Kalen-
dertagen nach Rechtskraft des Urteils Auskunft zu erteilen und nach an-
erkannten Grundsätzen der Rechnungslegung Rechnung zu legen über
i) die Anzahl aller Leuchten und Leuchtmittel, die sie oder ihre Lizenz-
nehmer in den Jahren 2014-2018 an Kunden mit Adresse in der
Schweiz oder an Wiederverkäufer/Händler mit Sitz in der Schweiz
geliefert haben, unter Beilegung der Rechnungen, Lieferscheine und
Mehrwertsteuer-Rückerstattungsbelegen, aus denen der Verkaufs-
preis hervorgeht;
ii) den Gesamtumsatz, der mit der Lieferung von Leuchten und Leucht-
mitteln in den Jahren 2014-2018 an Kunden mit Adresse in der
Schweiz erzielt wurde, unter Angabe der von Dritten in diesem Zu-
sammenhang erwirtschafteten Lizenzgebühren, der den einzelnen
Gegenständen unmittelbar zuzuordnenden Herstellungs- bzw. An-
schaffungskosten sowie den einzelnen Gegenständen unmittelbar
zuzuordnenden sonstigen Kosten, wobei sämtliche Kosten mit Bele-
gen nachgewiesen sein müssen.
Art. 292 StGB lautet:
"Wer der von einer zuständigen Behörde oder einem zuständigen unter Hinweis auf die Strafdrohung dieses Artikels an ihn erlassenen Verfügung nicht Folge leistet, wird mit Busse bestraft."
- 99 -
3.
Die Kostenverlegung erfolgt im Endentscheid.
Zustellung an:
– die Klägerin (Vertreter, zweifach)
– die Beklagten (Vertreter, zweifach)
Rechtsmittelbelehrung für die Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 ff.,
Art. 90 ff. BGG)
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen, gerechnet ab der schriftli-
chen Eröffnung der vollständigen Ausfertigung des Entscheides, die Be-
schwerde an das Schweizerische Bundesgericht erhoben werden.
Die Beschwerde ist schriftlich oder in elektronischer Form beim Schweize-
rischen Bundesgericht einzureichen. Die Beschwerdeschrift ist in einer
Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit An-
gabe der Beweismittel und die Unterschriften bzw. eine anerkannte elekt-
ronische Signatur zu enthalten. In der Begründung ist in gedrängter Form
darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid Recht (Art. 95 ff. BGG)
verletzt. Die Urkunden, auf die sich die Partei als Beweismittel beruft, sind
beizulegen, soweit die Partei sie in den Händen hat; ebenso ist der ange-
fochtene Entscheid beizulegen (Art. 42 BGG).
Aarau, 31. März 2020
Handelsgericht des Kantons Aargau
1. Kammer
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
Dubs Müller
(i.V. Ruff) | 62,421 | 45,564 | AG_HG_002 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_002_-Handelsrecht-Immate_2020-03-31 | https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/gesetze___entscheide/gesetze_2/handelsrecht/Teil-Entscheid_des_Handelsgerichts_vom_31._Maerz_2020.pdf | null | nan |
||
aa51a8a5-df90-446d-b3f4-9702cf6d5737 | 1 | 414 | 1,497,568 | 1,567,728,000,000 | 2,019 | de | Abschreiben: Verfügung
Handelsgericht
2. Kammer
HSU.2019.109 / as / mv
Art. 156
Verfügung vom 6. September 2019
Besetzung Oberrichter Vetter, Vizepräsident
Gerichtsschreiberin-Stv. Albert
Gesuchstellerin P. AG, _
vertreten durch MLaw Matthias Brunner, Rechtsanwalt, Oberstadt-
strasse 7, Postfach 2060, 5402 Baden
Gesuchsgegne-
rin
P. Immobilien AG, _
vertreten durch lic. iur. Matthias Becker, Rechtsanwalt, Niederlen-
zerstrasse 10, Postfach 2312, 5600 Lenzburg
Prozessführende
gesuchsgegneri-
sche Streitberu-
fene
p AG, _
vertreten durch lic. iur. Franz Szolansky und Daniel Jud, Rechtsanwälte,
Bahnhofstrasse 70, Postfach, 8021 Zürich 1
Gegenstand Summarisches Verfahren betreffend Verlegung der Prozesskosten
- 2 -
Der Vizepräsident entnimmt den Akten:
1.
Am 11. März 2019 erliess der Vizepräsident im Verfahren HSU.2018.125
folgenden Entscheid:
1.
In teilweiser Gutheissung des Gesuchs vom 19. Dezember 2018 wird
die mit Verfügung vom 20. Dezember 2018 zugunsten der
Gesuchstellerin auf dem Grdst.-Nr. XXX GB Staufen der Gesuchsgeg-
nerin, (E-GRID: _), superprovisorisch für eine Pfandsumme von
Fr. 466'269.63 zuzüglich Zins von je 5 % ab dem 29. Juli 2017 auf
CHF 100'792.60, ab dem 1. August 2017 auf CHF 27'368.95 und ab
dem seit 14. September 2018 auf CHF 227'571.55 seit 20. Dezember
2018 angeordnete Vormerkung vorsorglich bestätigt.
2.
Das Grundbuchamt Wohlen wird angewiesen, die Vormerkung gemäss
Dispositiv-Ziff. 1 aufrechtzuerhalten.
3.
3.1.
Die Gesuchstellerin hat bis zum 11. Juni 2019 beim zuständigen Ge-
richt im ordentlichen Verfahren Klage auf definitive Eintragung des Bau-
handwerkerpfandrechts anzuheben.
3.2.
Im Säumnisfall fällt die in der vorstehenden Dispositiv-Ziff. 1 angeord-
nete vorsorgliche Massnahme dahin, wobei die Vormerkung im Grund-
buch nur auf entsprechendes Gesuch hin gelöscht wird.
3.3.
Es gilt kein Stillstand der Fristen.
4.
4.1.
Die Gerichtskosten in Höhe von Fr. 4'000.00 sind von der Gesuchsgeg-
nerin und der prozessführenden gesuchsgegnerischen Streitberufenen
in solidarischer Haftung zu tragen und werden mit dem von der
Gesuchstellerin geleisteten Gerichtskostenvorschuss in Höhe von
Fr. 4'000.00 verrechnet. Die Gesuchsgegnerin und die prozessfüh-
rende gesuchsgegnerische Streitberufene haben in solidarischer Haf-
tung die von ihr zu tragenden Gerichtskosten der Gesuchstellerin direkt
zu ersetzen.
4.2.
Die Gesuchsgegnerin und die prozessführende gesuchsgegnerische
Streitberufene haben der Gesuchstellerin in solidarischer Haftung
deren Parteikosten in richterlich festgesetzter Höhe von Fr. 6'115.50
(inkl. Auslagen) zu ersetzen.
- 3 -
4.3.
Eine abweichende Verlegung der Prozesskosten mittels separater Ver-
fügung oder im ordentlichen Verfahren bleibt vorbehalten, falls dieses
vor dem Handelsgericht stattfindet.
2.
Die Gesuchstellerin unterliess es in der Folge bis zum 11. Juni 2019 beim
zuständigen Gericht im ordentlichen Verfahren Klage auf definitive Eintra-
gung des Bauhandwerkerpfandrechts anzuheben (vgl. auch Eingabe der
Gesuchstellerin vom 18. Juli 2019).
3.
Mit Gesuch vom 15. August 2019 (Postaufgabe: 15. August 2019) stellte
die prozessführende gesuchsgegnerische Streitberufene folgende Rechts-
begehren:
" 1. Es sei das Grundbuchamt Wohlen anzuweisen, die vorsorgliche Vor-
merkung eines Bauhandwerkerpfandrechts der Gesuchstellerin auf dem Grdst.-Nr. XXX GB Staufen der Gesuchsgegnerin, (E-GRID: _) für eine Pfandsumme von Fr. 466'269.63 zuzüglich Zins von je 5% ab dem 29. Juli 2017 auf CHF 100'792.60, ab dem 1. August 2017 auf CHF 27'368.95 und ab dem 14. September 2018 auf CHF 227'571.55 zu löschen.
2. Es sei für das Verfahren HSU.2018.125 in Anwendung der Dispositiv-
ziffer 4.3 eine abweichende Verlegung der Prozesskosten mittels Verfügung zu verfügen. In diesem Sinn seien:
a) die Gerichtskosten gemäss Ziff. 4.1 des Dispositiv des Entscheids
HSU.2018.125 in Höhe von CHF 4'000 der Gesuchstellerin
b) Ziff. 4.2 des Dispositivs des Entscheids HSU.2018.125 aufzuheben
und der Gesuchsgegnerin und der prozessführenden Streitberufenen für das Verfahren HSU.2018.125 eine angemessene Parteientschädigung zuzusprechen.
3. Unter Kosten- und Entschädigungsfolge, zuzüglich , zu Lasten der Gesuchstellerin."
4.
In ihrer Stellungnahme vom 22. August 2019 wiederholte die Gesuchsgeg-
nerin die Rechtsbegehren der prozessführenden gesuchsgegnerischen
Streitberufenen.
- 4 -
5.
Am 4. September 2019 reichte die Gesuchstellerin eine Stellungnahme ein.
Rechtsbegehren bzw. konkrete Anträge stellte sie darin nicht. Sie behaup-
tete jedoch, es sei unklar, auf welcher gesetzlicher Grundlage die nachträg-
liche Abänderung des Kostendispositivs eines im Summarverfahren ergan-
genen, rechtskräftigen Entscheids erfolgen soll. Falls Dispositiv-Ziff. 4 des
Entscheids vom 11. März 2019 in einem separaten nachträglichen Kosten-
entscheid abgeändert werden sollte, wäre zwingend zu beachten, dass die
Gesuchsgegnerin die Prozessführung i.S.v. Art. 79 Abs. 1 lit. b ZPO an die
prozessführende gesuchsgegnerische Nebenintervenientin abgegeben
habe. Damit habe sie auch keinen Anspruch auf eine allfällige Parteient-
schädigung. Jedenfalls könnte insgesamt nicht mehr als maximal eine Par-
teientschädigung zugesprochen werden.
Der Vizepräsident zieht in Erwägung:
1. Prozesskosten vorsorglicher Massnahmen
Gemäss Art. 104 Abs. 3 ZPO kann über die Prozesskosten vorsorglicher
Massnahmen zusammen mit der Hauptsache entschieden werden. Ist über
die vorsorglichen Massnahmen vor Rechtshängigkeit des Hauptprozess-
prozesses zu entscheiden, gibt es unterschiedliche Lösungen: 1) Auferle-
gung der Kosten des Massnahmeverfahrens – nach Massgabe seines Un-
terliegens – an den Gesuchsgegner. Obsiegt dieser im anschliessenden
ordentlichen Prozess oder wurde dieser von der Gesuchstellerin wie im
vorliegenden Fall gar nicht anhängig gemacht, steht ihm ein Rückerstat-
tungsanspruch zu. 2) Vorläufige Kostenauferlegung an den obsiegenden
Gesuchsteller, mit oder ohne einstweilige Prozessentschädigung an den
Gesuchsgegner, unter Vorbehalt der definitiven Regelung im ordentlichen
Prozess.1
Das Handelsgericht des Kantons Aargau hat sich für die erste Variante ent-
schieden und verteilt die Prozesskosten des Massnahmeverfahrens praxis-
gemäss bereits im Massnahmeverfahren selber, unter ausdrücklichem Hin-
weis des Vorbehalts einer abweichenden Verlegung der Prozesskosten im
allenfalls vor Handelsgericht des Kantons Aargau stattfindenden Hauptpro-
zess im ordentlichen Verfahren oder aufgrund separater Verfügung im vor-
liegenden Verfahren.2 Dies erfolgte auch in E. 4. des Entscheids vom
11. April 2018.
1 Vgl. BK ZPO I-STERCHI, 2012, Art. 104 N. 12 ff. m.w.N. 2 Vgl. zu den entsprechenden Überlegungen BSK ZPO-RÜEGG/RÜEGG, 3. Aufl. 2017, Art. 104 N. 6a;
BK ZPO I-STERCHI (Fn. 1), Art. 104 N. 13; STAEHELIN/STAEHELIN/GROLIMUND, Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 2019, § 22 N. 32 je m.w.N.
- 5 -
2.
2.1.
Da die Gesuchstellerin keine Klage auf definitive Eintragung des beantrag-
ten Bauhandwerkerpfandrechts einreichte, ist die mit Entscheid vom
11. März 2019 ausgesprochene vorsorgliche Massnahme dahingefallen
(vgl. Dispositiv-Ziff. 3.2 des Entscheids vom 11. März 2019).
2.2.
Das Grundbuchamt Wohlen ist daher anzuweisen, das gemäss Verfügung
vom 20. Dezember 2018 zugunsten der Gesuchstellerin auf dem Grdst.-
Nr. XXX GB Staufen der Gesuchsgegnerin, (E-GRID: _), für eine
Pfandsumme von Fr. 466'269.63 zuzüglich Zins von je 5 % ab dem 29. Juli
2017 auf CHF 100'792.60, ab dem 1. August 2017 auf CHF 27'368.95 und
ab dem seit 14. September 2018 auf CHF 227'571.55 seit 20. Dezember
2018 eingetragene Bauhandwerkerpfandrecht, nach Ablauf der Rechtsmit-
telfrist zu löschen.
2.3.
Die mit Entscheid vom 11. März 2019 auferlegten Prozesskosten sind neu
zu verteilen. Dabei gilt die Gesuchstellerin als vollumfänglich unterliegend.
3.
3.1.
In Dispositiv-Ziff. 4.1 des Entscheids vom 11. März 2019 wurden die Ge-
suchsgegnerin und die prozessführende gesuchsgegnerische Streitberu-
fene in solidarischer Haftung verpflichtet, die Gerichtskosten in Höhe von
Fr. 4'000.00 zu tragen.
Neu wird die Gesuchstellerin verpflichtet, die Gerichtskosten in Höhe von
Fr. 4'000.00 zu tragen.
3.2.
In Dispositiv-Ziff. 4.2. des Entscheids vom 11. März 2019 wurden die Ge-
suchsgegnerin und die prozessführende gesuchsgegnerische Streitberu-
fene verpflichtet, der Gesuchstellerin in solidarischer Haftung deren Partei-
kosten in richterlich festgesetzter Höhe von Fr. 6'115.50 (inkl. Auslagen) zu
ersetzen.
Neu wird die Gesuchstellerin verpflichtet, der Gesuchsgegnerin und der
prozessführenden gesuchsgegnerischen Streitberufenen eine Parteient-
schädigung in richterlich festgesetzter Höhe von Fr. 6'115.50 (inkl. Ausla-
gen) in Form einer Solidarforderung (vgl. Art. 150 OR) zu bezahlen. Wer
von ihnen effektiv Anspruch auf die Parteientschädigung hat, bestimmt sich
- 6 -
nach ihrem materiellen Rechtsverhältnis.3 Gegenüber der prozessführen-
den gesuchsgegnerischen Streitberufenen ist keine Mehrwertsteuer ge-
schuldet, da sie gemäss UID-Register4 selber mehrwertsteuerpflichtig ist
(vgl. E. 7.2 letzter Absatz des Entscheids vom 11. März 2019).
4.
Für das vorliegende Verfahren werden keine Gerichtskosten erhoben und
keine Parteientschädigungen zugesprochen.
Der Vizepräsident erkennt:
1.
Das Grundbuchamt Wohlen wird angewiesen, das gemäss Verfügung
vom 20. Dezember 2018 zugunsten der Gesuchstellerin auf dem Grdst.-
Nr. XXX GB Staufen der Gesuchsgegnerin, (E-GRID: _), für eine
Pfandsumme von Fr. 466'269.63 zuzüglich Zins von je 5 % ab dem 29. Juli
2017 auf CHF 100'792.60, ab dem 1. August 2017 auf CHF 27'368.95 und
ab dem seit 14. September 2018 auf CHF 227'571.55 seit 20. Dezember
2018 eingetragene Bauhandwerkerpfandrecht, nach Ablauf der
Rechtsmittelfrist zu löschen.
2.
Ziff. 4 des Entscheids vom 11. März 2019 im Verfahren HSU.2018.125 wird
aufgehoben und wie folgt neu verfasst:
4.
4.1.
Die Gerichtskosten in Höhe von Fr. 4'000.00 sind von der Gesuchstel-
lerin zu tragen und werden mit dem von der Gesuchstellerin geleisteten
Gerichtskostenvorschuss in Höhe von Fr. 4'000.00 verrechnet.
4.3.
Die Gesuchstellerin hat der Gesuchsgegnerin und der prozessführen-
den gesuchsgegnerischen Streitberufenen eine Parteientschädigung in
richterlich festgesetzter Höhe von Fr. 6'115.50 (inkl. Auslagen) in Form
einer Solidarforderung (vgl. Art. 150 OR) zu bezahlen.
3.
Es werden weder Gerichtskosten erhoben, noch Parteientschädigungen
zugesprochen.
3 Vgl. GÖKSU, in: Brunner/Gasser/Schwander (Hrsg.), Schweizerische Zivilprozessordnung, Kom-
mentar, 2. Aufl. 2016, Art. 80 N. 18. 4 Vgl. https://www.uid.admin.ch/XXX (zuletzt besucht am 6. März 2019).
https://www.uid.admin.ch/XXX
- 7 -
Zustellung an:
die Gesuchstellerin (Vertreter; zweifach)
die Gesuchsgegnerin (Vertreter; zweifach mit Kopie der Eingabe der
Gesuchstellerin vom 4. September 2019)
die prozessführende gesuchsgegnerische Streitberufene (Vertreter;
zweifach mit Kopie der Eingabe der Gesuchstellerin vom 4. September
2019)
Zustellung an:
das Grundbuchamt Wohlen (nach Ablauf der Rechtsmittelfrist)
Rechtsmittelbelehrung für die Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 ff.,
Art 90 ff. BGG)
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen, von der schriftlichen Eröff-
nung der vollständigen Ausfertigung des Entscheids an gerechnet, die Be-
schwerde an das Schweizerische Bundesgericht erhoben werden.
Die Beschwerde ist schriftlich oder in elektronischer Form beim Schweize-
rischen Bundesgericht einzureichen. Die Beschwerdeschrift ist in einer
Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit An-
gabe der Beweismittel und die Unterschriften bzw. eine anerkannte elekt-
ronische Signatur zu enthalten. In der Begründung ist in gedrängter Form
darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid verfassungsmässige
Rechte (Art. 98 ff. BGG) verletzt. Die Urkunden, auf die sich die Partei als
Beweismittel beruft, sind beizulegen, soweit die Partei sie in den Händen
hat; ebenso ist der angefochtene Entscheid beizulegen (Art. 42 BGG).
Aarau, 6. September 2019
Handelsgericht des Kantons Aargau
2. Kammer
Der Vizepräsident:
Vetter | 3,137 | 2,139 | AG_HG_002 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_002_-Handelsrecht-Bauhan_2019-09-06 | https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/gesetze___entscheide/gesetze_2/handelsrecht/Verfuegung_des_Handelsgerichts_vom_6._September_2019.pdf | null | nan |
||
aacf7e43-d386-546f-a801-24244ba007ad | 1 | 417 | 871,759 | 1,180,742,400,000 | 2,007 | de | 2007
Obergericht/Handelsgericht
36
6
Das Handelsgericht des Kantons Aargau ist zur Entgegennahme einer
Schutzschrift dann zuständig, wenn es in einem vorsorglichen Massnah-
meverfahren der Gesuchsgegnerin gegen die Gesuchstellerin zuständig
wäre. Erfüllt die eingereichte Schutzschrift die formellen Anforderungen,
hat der Richter sie entgegenzunehmen. Der Gesuchsgegnerin ist vom
Eingang einer Schutzschrift Kenntnis zu geben, nicht aber von deren
Inhalt.
Aus dem Entscheid des Handelsgerichts, 2. Kammer, vom 11. Juni 2007 in
Sachen M.P. AG und M. AG gegen M. & Co. Inc., I.G. S.p.A., M.S. & D.C.
AG und M.S. & D.M.
Aus den Erwägungen
2.
2.1. Das Handelsgericht des Kantons Aargau ist zur Entgegen-
nahme der Schutzschrift dann zuständig, wenn es in einem vorsorgli-
chen Massnahmeverfahren einer der Gesuchsgegnerinnen gegen eine
der Gesuchstellerinnen zuständig wäre (vgl. G
ÜNGERICH
,
Die
Schutzschrift im schweizerischen Zivilprozessrecht, Bern 2000,
S. 143).
2.2.
(2.2.1. - 2.2.3. Bejahung der örtlichen Zuständigkeit...)
2.2.4. Die sachliche Zuständigkeit des Instruktionsrichters des
Handelsgerichts ergibt sich aus § 417 i.V.m. § 404 Abs. 1 lit. b Ziff. 1
ZPO.
3. Die eingereichte Schutzschrift erfüllt die formellen Anforde-
rungen (vgl. L
EUPOLD
, Die Schutzschrift - Grundsätzliches und pro-
zessuale Fragen, AJP 1998, S. 1082). Der Richter hat sie daher entge-
genzunehmen. Die Aufbewahrungsfrist ist auf sechs Monate anzuset-
zen.
4.
4.1. Es ist zu prüfen, inwieweit den Gesuchsgegnerinnen vom
Eingang der Schutzschrift Kenntnis zu geben oder ob diese gar förm-
lich zuzustellen ist, insbesondere, ob eine Nichtkenntnisgabe den
2007
Zivilprozessrecht
37
verfassungsmässigen Gehörsanspruch gemäss Art. 29 Abs. 2 BV ver-
letzt. Die Lehre ist diesbezüglich unterschiedlicher Auffassung (vgl.
G
ÜNGERICH
,
a.a.O., S. 145 ff.; L
EUPOLD
, a.a.O. S. 1083; L
USTEN
-
BERGER
/R
ITSCHER
, Die Schutzschrift - zulässiges Verteidigungsmit-
tel oder verpönte Einflussnahme? AJP 1997, S. 517; B
ERTI
,
Der Er-
lass vorsorglicher Massnahmen [...], in: Binsenwahrheiten des Im-
materialgüterrechts, FS Lucas David, Zürich 1996, S. 269).
4.2. Der Zweck des Schutzschriftverfahrens beschränkt sich
darauf, der Gesuchstellerin zu ermöglichen, Vorkehren dafür zu tref-
fen, dass in einem allfällig nachfolgenden vorsorglichen Rechts-
schutzverfahren ihr Gehörsanspruch so gut als möglich gewahrt
bleibt (L
EUPOLD
, a.a.O., S. 1082). Entsprechend wird die Schutz-
schrift vom Instruktionsrichter lediglich entgegen genommen, über
einen gewissen Zeitraum aufbewahrt und im Falle der Einreichung
eines Gesuchs um Erlass superprovisorischer Massnahmen durch den
Richter gewürdigt. Nachteile rechtlicher Natur können der Gesuchs-
gegnerin dabei nicht entstehen. Eine Kenntnisgabe des Inhalts der
Schutzschrift würde der Gesuchsgegnerin die einseitige Möglichkeit
geben, bereits in einem Gesuch um superprovisorische Massnahmen
auf Argumente der Gesuchstellerin eingehen zu können. Das recht-
liche Gehör und der Grundsatz der Waffengleichheit werden nicht
verletzt, da beide Seiten in Unkenntnis der Argumente der Gegensei-
te ihren Standpunkt darlegen (vgl. G
ÜNGERICH
,
a.a.O., S. 147 f.;
L
USTENBERGER
/R
ITSCHER
, a.a.O., S. 517).
4.3. Indessen ist der Gesuchsgegnerin von dieser Verfügung
Kenntnis zu geben. Da alles richterliche Handeln in formalisierten,
von allen Beteiligten überblick- und kontrollierbaren Abläufen zu er-
folgen hat, wäre es stossend, wenn das Schutzschriftverfahren als ei-
gentliches Geheimverfahren durchgeführt würde, mit der Konse-
quenz, dass eine Rechtsschrift, die bestimmte Parteien und einen be-
stimmten Streitgegenstand betrifft, von einem Gericht entgegenge-
nommen und aufbewahrt wird, ohne dass die potentielle Gegenpartei
davon weiss (vgl. L
EUPOLD
, a.a.O., S. 1083).
5. Die Kosten des vorliegenden Schutzschriftverfahrens sind
von der Gesuchstellerin zu tragen. Für den Fall, dass ein vorsorgli-
ches Massnahmeverfahren eingeleitet und durchgeführt wird, ist die
2007
Obergericht/Handelsgericht
38
Wiedererwägung des Kostenentscheids vorzubehalten (L
EUPOLD
,
a.a.O., S. 1084). Die Kostenauflage ist mit einer Säumnisandrohung
zu verbinden. | 1,096 | 810 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2007-6_2007-06-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2007-6.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2007-6.pdf | AGVE_2007_6 | null | nan |
ae33d77c-9ce6-5285-85e7-b6a896ddd7bc | 1 | 417 | 871,330 | 1,315,872,000,000 | 2,011 | de | 2011
Anwaltsrecht
37
III. Anwaltsrecht
7
Art. 12 lit. a BGFA
Informiert ein Rechtsanwalt eine Arbeitgeberin über das mutmasslich
ungebührliche Verhalten eines ihrer Angestellten, welcher in privater
Mission mit dem Geschäftsauto der Arbeitgeberin unterwegs war und mit
dem Mandanten des Rechtsanwaltes eine Auseinandersetzung hatte, so
stellt dies keine Verletzung von Art. 12 lit. a BGFA dar. Solange nämlich
die vom Anwalt getroffenen Massnahmen der Erreichung des Ziels die-
nen, das der Mandant anstrebt, und das Ziel selbst als auch die Handlung
des Anwalts legal sind, ist das Vorgehen disziplinarrechtlich irrelevant,
auch wenn sich der Anzeiger unfair behandelt fühlt.
Aus dem Entscheid der Anwaltskommission vom 13. September 2011, i.S.
Y. (AVV.2011.21).
Aus den Erwägungen
2.3.
Gemäss Ausführungen des Anzeigers handelt es sich bei der K.
AG um seine Arbeitgeberin. Die K. AG hat aufgrund des Schreibens
vom 14. März 2011 des beanzeigten Anwalts die Information erhal-
ten, dass der Anzeiger ausserhalb seiner beruflichen Tätigkeit als
"Rechtsvertreter" tätig und dazu mit dem Geschäftsauto der K. AG
unterwegs sei. Zudem erhielt die K. AG Kenntnis darüber, dass sich
der Anzeiger gegenüber A.B. despektierlich geäussert haben soll.
Des Weiteren wurde gegenüber dem Anzeiger im Wiederholungsfall
mit einer Strafanzeige wegen Ehrverletzung gedroht.
2.3.1.
Der beanzeigte Anwalt bringt vor, dass er von seinem Klienten
(A.B.) über die Hintergründe, wonach der Anzeiger die Stellvertre-
tung für Herrn E. in der Angelegenheit betreffend Mietzins in seiner
2011
Obergericht
38
Freizeit und nicht als Angestellter für die K. AG gemacht habe, nicht
instruiert worden sei. Damit macht er geltend, davon ausgegangen zu
sein, dass der Anzeiger als Angestellter der K. AG aufgetreten war.
Dies kann aber offen bleiben.
Der beanzeigte Anwalt wollte offenbar die K. AG bzw. die Ar-
beitgeberin über das Benehmen eines ihrer Angestellten (des Anzei-
gers) orientieren, damit diese ihren Angestellten zu einem "anständi-
gen Verhalten" gegenüber Kunden ermahne. Insbesondere da der An-
zeiger mit einem Geschäftswagen der K. AG in Erfüllung eines Auf-
trags (selbständig oder als Angestellter) aufgetreten ist, ist die Orien-
tierung der K. AG über das (mutmasslich) ungebührliche Verhalten
eines ihrer Angestellten durch den beanzeigten Anwalt grundsätzlich
nicht zu beanstanden.
2.3.2.
Das Schreiben beinhaltete zwar auch eine "Anschwärzung" des
Anzeigers gegenüber der K. AG. Dafür gab es aber nachvollziehbare
Gründe. So wollte der beanzeigte Anwalt die K. AG als Arbeitgebe-
rin offensichtlich über das mutmasslich ungebührliche Verhalten des
Anzeigers, der ihr Angestellter war, informieren. Die K. AG war
zumindest indirekt in die Angelegenheit involviert (immerhin hat der
Anzeiger ihren Geschäftswagen benutzt) und der beanzeigte Anwalt
hatte im Interesse seines Klienten, um weitere "Attacken" des Anzei-
gers zu verhindern, die Variante einer schriftlichen Kontaktaufnahme
mit der Arbeitgeberin gewählt. Indem der Anzeiger mit dem Ge-
schäftswagen seiner Arbeitgeberin auftrat, musste er zweifelsohne
auch damit rechnen, dass diese irgendwann in der einen oder anderen
Form kontaktiert würde. Vor diesem Hintergrund ist das Vorgehen
des beanzeigten Anwalts nicht als Verletzung von Art. 12 lit. a BGFA
zu qualifizieren. Solange nämlich die vom Anwalt getroffenen Mass-
nahmen der Erreichung des Ziels dienen, das der Klient anstrebt, und
sowohl das Ziel selbst als auch die Handlung des Anwalts legal sind,
ist das Vorgehen disziplinarrechtlich irrelevant, auch wenn sich der
Anzeiger unfair behandelt fühlt (vgl. auch hinsichtlich Verhalten ge-
genüber der Gegenpartei: W
ALTER
F
ELLMANN
in: W
ALTER
F
ELL
-
MANN
/
G
AUDENZ
G.
Z
INDEL
[Hrsg.], Kommentar zum Anwaltsge-
setz, 2. Auflage, Zürich 2011, N 50d zu Art. 12, S. 197). Das bean-
2011
Anwaltsrecht
39
standete Verhalten des beanzeigten Anwalts ist somit vertretbar und
gefährdet das Vertrauen in die Anwaltschaft nicht.
2.3.3.
Was die Androhung einer allfälligen Strafanzeige wegen Ehr-
verletzung im Wiederholungsfall betrifft, ist festzuhalten, dass diese
aufgrund der Auseinandersetzung zwischen dem Anzeiger und A.B.
(verbale Auseinandersetzung) aus disziplinarrechtlicher Sicht eben-
falls nicht zu beanstanden ist. | 984 | 811 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2011-7_2011-09-13 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2011-7.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2011-7.pdf | AGVE_2011_7 | null | nan |
ae8de402-1ed0-55d9-b2b9-8f94f07cf58d | 1 | 417 | 871,725 | 1,302,480,000,000 | 2,011 | de | 2011
Zivilprozessrecht
35
[...]
5
§ 2 lit. c ZPO: Befangenheitsgrund Vorbefassung
Es liegt keine unzulässige Vorbefassung vor, wenn ein Richter mehrere
Verfahren einer Partei betreut hat, von welchen die meisten im Zusam-
menhang mit der Abwicklung desselben Vertrages standen, zumal hin-
sichtlich der früheren Verfahren immer wieder andere Gegenparteien
beteiligt waren.
Aus dem Entscheid der Inspektionskommission vom 11. April 2011 in
Sachen X.Y. gegen das Gerichtspräsidium Z. (IVV.2010.45). | 115 | 94 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2011-5_2011-04-11 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2011-5.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2011-5.pdf | AGVE_2011_5 | null | nan |
ae9745be-f263-56ee-bcff-498c9b2233a8 | 1 | 417 | 869,901 | 965,088,000,000 | 2,000 | de | 2001
Strafprozessrecht
73
V. Strafprozessrecht
22
§ 18 GOG.
Dritte sind nur ausnahmsweise berechtigt, in Strafakten oder in ein
Strafurteil Einsicht zu nehmen. Beispiel einer Interessenabwägung.
(Die Fragen einer öffentlichen Urteilsverkündung nach Art. 6 Ziff. 1
EMRK stehen hier nicht zur Diskussion und bleiben vorbehalten)
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 1. Strafkammer, vom 17. August 2000
i.S. Staatsanwaltschaft gegen X.
Sachverhalt
Nach Abschluss des Berufungsverfahrens, in welchem X. zu ei-
ner Zuchthausstrafe von 21⁄2 Jahren und einer Busse von Fr. 1'000.--
verurteilt wurde, ersuchte die Universität Y. mit Eingabe vom
20. Juni 2000 um Zustellung eines begründeten Urteils und führte
aus, sie möchte prüfen, ob seitens der Universität ein Disziplinarver-
fahren gegen den bei ihr studierenden Verurteilten eingeleitet werden
müsse.
Aus den Erwägungen
3. Nach § 18 GOG sind Dritte in der Regel nicht berechtigt, Ge-
richtsakten einzusehen (Abs. 1). Der Regierungsrat wird angewiesen,
in einer Verordnung die Einsichtnahme in Gerichtsakten durch Be-
hörden und durch Dritte zu regeln, die ein berechtigtes Interesse
nachweisen (Abs. 2).
Eine regierungsrätliche Verordnung über das Akteneinsichts-
recht ist bisher nicht ergangen. Immerhin kann dem Gesetz aber ent-
nommen werden, dass Behörden und Dritte, die ein berechtigtes
2001
Obergericht/Handelsgericht
74
Interesse nachweisen, in Gerichtsakten Einsicht nehmen können. Die
Aushändigung eines Urteils ist eine Variante des Akteneinsichts-
rechts und gleich zu behandeln. Es ist vorliegend zwischen den In-
teressen der Universität an der Abklärung des Sachverhalts zwecks
Prüfung einer Disziplinierung und den Interessen des Verurteilten an
der Geheimhaltung abzuwägen.
4. Die Universität kann u.a. ein Disziplinarverfahren gegen ei-
nen Studenten durchführen, der wegen schwerwiegender Straftaten,
durch welche die Interessen der Universität beeinträchtigt oder ge-
fährdet werden, zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde (§ 7 lit. f der
Disziplinarordnung). Als Disziplinarmassnahmen sind neben einem
schriftlichen Verweis oder dem Ausschluss von Lehrveranstaltungen
(§ 8 lit. a, b) auch der Ausschluss vom Studium oder von Prüfungen
oder von beidem für die Dauer von einem bis zu sechs Semestern
vorgesehen, wobei bei Verfehlungen gem. § 7 lit. f auch ein Aus-
schluss für die Dauer der Strafverbüssung ausgesprochen werden
kann (§ 8 lit. c der Disziplinarordnung).
Auch wenn vorliegend die Verfehlungen des Verurteilten in kei-
nem direkten Zusammenhang mit seinem Studium stehen, besteht ein
berechtigtes Interesse der Universität auf Kenntnis der Personalien
des Täters, des Sachverhalts und der strafrechtlichen Verurteilung.
Mit der bedingungslosen Zulassung von Studenten, die sich derartig
schwere Straftaten haben zuschulden kommen lassen, zum Studium
und zu den Abschlussprüfungen, wird das Ansehen der Universität
beeinträchtigt. Das Interesse der Universität an der Zustellung eines
Strafurteils zwecks Abklärung allfälliger Disziplinierungsmöglich-
keiten ist vorliegend höher einzustufen als das Geheimhaltungsinter-
esse des Verurteilten. Dem Ersuchen vom 20. Juni 2000 ist folglich
stattzugeben. | 673 | 562 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2001-22_2000-08-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-22.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-22.pdf | AGVE_2001_22 | null | nan |
b0fb1b6f-3fcf-514d-afdc-0373b4076994 | 1 | 417 | 869,829 | 1,321,574,400,000 | 2,011 | de | 2011
Strafprozessrecht
51
VI. Strafprozessrecht
13
Art. 3 Abs. 2 lit. a, 115 Abs. 1, 118 Abs. 1 StPO
-
Der geschädigten Person sind volle Parteirechte - insbesondere das
Recht zur Ergreifung von Rechtsmitteln - einzuräumen, wenn sie
noch keine Gelegenheit hatte, sich zur Frage der Konstituierung zu
äussern.
-
In der Variante Verletzung von Verkehrsregeln mit konkreter Ge-
fährdung anderer Verkehrsteilnehmer schützt Art. 90 Ziff. 2 SVG
auch die persönliche Integrität des Verkehrsteilnehmers. Im konkre-
ten Fall ist der Beschwerdeführer durch die in Frage stehenden Ver-
kehrsregelverletzungen i.S.v. Art. 115 Abs. 1 StPO unmittelbar in
seinen Rechten verletzt worden.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, Beschwerdekammer in Strafsachen,
vom 18. November 2011 i.S. U.B. gegen W.H. und Staatsanwaltschaft Lenz-
burg-Aarau (SBK.2011.147).
Aus den Erwägungen
2.2.
2.2.1.
Nach Art. 322 Abs. 2 StPO sowie Art. 382 Abs. 1 StPO kann die
Einstellungsverfügung von den Parteien angefochten werden. Zur
Beschwerde legitimiert sind entgegen dem Wortlaut von Art. 322
Abs. 2 und Art. 382 Abs. 1 StPO nicht nur die Parteien, sondern auch
die anderen Verfahrensbeteiligten nach Art. 105 StPO, soweit sie ein
rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung
eines Entscheides haben, d.h. soweit sie durch die Einstellungsverfü-
gung beschwert sind (V
IKTOR
L
IEBER
, in: Kommentar zur Schwei-
zerischen Strafprozessordnung [StPO], 2010, Art. 382 N. 2; R
OLF
2011
Obergericht
52
G
RÄDEL
/M
ATTHIAS
H
EINIGER
, in: Basler Kommentar, Schweize-
rische Strafprozessordnung, 2011, Art. 322 N. 6).
2.2.2.
Der Beschwerdeführer ist Anzeiger.
Ist der Anzeigende durch die angezeigte Straftat in seinen Rech-
ten unmittelbar verletzt worden, so ist er Geschädigter i.S.v. Art. 115
Abs. 1 StPO. Die zur Stellung eines Strafantrags berechtigte Person
gilt gemäss Art. 115 Abs. 2 StPO in jedem Fall als geschädigte Per-
son. Als Geschädigter hat der Anzeigende insbesondere das Recht,
als Privatkläger Parteirechte geltend zu machen (Art. 118 ff. StPO).
Andernfalls ist er "anderer Verfahrensbeteiligter" i.S.v. Art. 105 lit. b
StPO, und als solcher stehen ihm nur dann Verfahrensrechte zu,
wenn er durch das Strafverfahren in besonderer Weise betroffen wird
(z.B. wenn er Eigentümer beschlagnahmter Beweismittel ist). Die
Tatsache allein, dass eine Person Anzeige erstattet hat, verschafft hin-
gegen keine besondere Rechtsposition, was Art. 301 Abs. 3 StPO der
Klarheit halber festhält (C
HRISTOF
R
IEDO
/A
NASTASIA
F
ALKNER
, in:
Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011,
Art. 301
N.
22; vgl. auch P
ATRICK
G
UIDON
, Die Beschwerde gemäss
Schweizerischer Strafprozessordnung, 2011, N. 293).
2.2.3.
2.2.3.1.
Der Beschwerdeführer hat anlässlich seiner Einvernahme vom
8. April 2010 gegen (...) Strafantrag wegen Beschimpfung gestellt.
Er ist zur Stellung eines Strafantrages Berechtigter, da sich die ange-
zeigte Straftat gegen das ihm zugeordnete Rechtsgut der Ehre richtet.
Als Strafantragsberechtigter ist er geschädigte Personen gemäss
Art. 115 Abs. 2 StPO und Strafkläger i.S.v. Art. 118 Abs. 2 i.V.m.
Art. 119 Abs. 2 lit. a StPO bzw. Privatklägerschaft. Damit hat er Par-
teistellung. Durch die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft
Lenzburg-Aarau vom 17. Mai 2011 ist er in seinen rechtlich ge-
schützten Interessen unmittelbar betroffen, da ihm durch die Einstel-
lung des Verfahrens die Geltendmachung von Parteirechten (Art. 119
Abs. 2 lit. a StPO) verwehrt wird. Demnach ist seine Legitimation
zur Ergreifung der Beschwerde gegen die angefochtene Einstellungs-
2011
Strafprozessrecht
53
verfügung in Bezug auf den Ehrverletzungstatbestand der Beschim-
pfung zu bejahen.
2.2.3.2.
Die zur Anzeige gebrachten einfachen Verkehrsregelverletzun-
gen der missbräuchlichen Verwendung des akustischen Warnsignals
sowie der missbräuchlichen Verwendung der Lichthupe (vgl. Polizei-
rapport vom 19. Mai 2010, S. 1, act. 24) sind abstrakte Gefährdungs-
delikte. Durch sie ist der Beschwerdeführer nicht i.S.v. Art. 115
Abs. 1 StPO unmittelbar in seinen Rechten verletzt worden (vgl. da-
zu G
ORAN
M
AZZUCCHELLI
/M
ARIO
P
OSTIZZI
, in: Basler Kommentar,
Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, Art. 115 N. 30 und 88).
Da der Beschwerdeführer somit nicht als geschädigte Person gelten
kann, fällt eine Parteistellung ausser Betracht.
Ebenso wenig stehen ihm die Verfahrensrechte einer Partei als
"anderer Verfahrensbeteiligter" i.S.v. Art. 105 lit. b StPO zu, da er
nicht i.S.v. Art. 105 Abs. 2 StPO in seinen Rechten unmittelbar be-
troffen ist. Der Beschwerdeführer macht zwar geltend, eine gemein-
same Beurteilung des gegen ihn geführten Strafverfahrens (er hat
Einsprache gegen den Strafbefehl erhoben) sowie des vorliegenden
Strafverfahrens gegen (...) und somit des gleichen Sachverhaltes sei
unerlässlich, könne sich doch die rechtskräftige Einstellung des
Strafverfahrens gegen (...) im gegen ihn geführten Strafverfahren
nachteilig auswirken. Dem ist aber nicht so. Das Strafrecht kennt kei-
ne Schuldkompensation bzw. vorliegend hängt die strafrechtliche
Verantwortlichkeit von (...) nicht davon ab, ob sich der Beschwerde-
führer verkehrsregelwidrig verhalten hat (vgl. dazu BGE 120 IV 252
E. 2d/bb). Insofern ist der Beschwerdeführer nicht in seinen Rechten
unmittelbar betroffen. Da vorliegend keine Kollision bzw. kein Scha-
den entstand, stellen sich auch keine Haftungsfragen, welche allen-
falls eine unmittelbare Betroffenheit begründen könnten. Ebenso
wenig werden dem Beschwerdeführer Verfahrenskosten auferlegt. Er
ist damit nur mittelbar oder faktisch betroffen, was für die Einräu-
mung von Parteirechten nicht genügt (vgl. H
ENRIETTE
K
ÜFFER
, in:
Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011,
Art. 105 N. 31; L
IEBER
, a.a.O., Art. 105 N. 12 ff.).
2011
Obergericht
54
2.2.3.3.
Anders ist die Rechtslage betreffend die zur Anzeige gebrachten
groben Verkehrsregelverletzungen des ungenügenden Abstands beim
Hintereinanderfahren sowie des unbegründeten brüsken Bremsens
(vgl. Polizeirapport vom 19. Mai 2010, S. 1) zu beurteilen. Aufgrund
der Sachverhaltsdarstellung des Beschwerdeführers war er konkret in
Gefahr. In der Variante Verletzung von Verkehrsregeln mit konkreter
Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer schützt Art. 90 Ziff. 2 SVG
auch die persönliche Integrität jedes Verkehrsteilnehmers. Durch die
in Frage stehenden Verkehrsregelverletzungen ist der Beschwerde-
führer i.S.v. Art. 115 Abs. 1 StPO daher unmittelbar in seinen Rech-
ten verletzt worden (vgl. dazu G
ORAN
M
AZZUCCHELLI
/M
ARIO
P
OSTIZZI
, a.a.O., Art. 115 N. 30 und 88 mit Hinweisen). Damit gilt
der Beschwerdeführer hinsichtlich dieser beiden Tatbestände als ge-
schädigte Person.
Diese Stellung allein führt nicht zur Rechtsmittellegitimation.
Zur Partei wird die geschädigte Person (unter Vorbehalt von Art. 105
Abs. 2 und 118 Abs. 2 StPO) nur, wenn sie sich nach Art. 118 StPO
als Partei konstituiert.
Der Beschwerdeführer hat sich zwar bis zum Erlass der Ein-
stellungsverfügung nicht als Privatklägerschaft konstituiert. Aller-
dings wurde er von der Staatsanwaltschaft auch nicht - wie dies nach
Art. 118 Abs. 4 StPO hätte geschehen sollen - auf diese Möglichkeit
hingewiesen. Insbesondere erliess die Staatsanwaltschaft Lenzburg-
Aarau vor der Einstellung des Verfahrens gegen den Beschuldigten
(...) keine an den Beschwerdeführer gerichtete Verfügung im Sinne
von Art. 318 Abs. 1 StPO. In der Botschaft zur Vereinheitlichung des
Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1308 Fn. 427,
wird ausdrücklich festgehalten, dass die geschädigte Person, die sich
noch nicht im Sinne der Art. 116 ff. als Privatklägerin konstituieren
konnte (z.B. wegen einer Nichtanhandnahmeverfügung), selbstver-
ständlich auch ein Rechtsmittel einlegen könne. Auch Schmid hält
dafür, dass der geschädigten Person volle Parteirechte - insbesondere
das Recht zur Ergreifung von Rechtsmitteln - einzuräumen sind,
wenn sie noch keine Gelegenheit gehabt habe, sich zur Frage der
Konstituierung zu äussern, wobei er als Beispiel auch die Einstellung
2011
Strafprozessrecht
55
der Untersuchung nennt (N
IKLAUS
S
CHMID
, Schweizerische Straf-
prozessordnung, Praxiskommentar, 2009, Art. 115 N. 4). Vorliegend
verlangt der Beschwerdeführer mit Beschwerde, es sei ihm die Par-
teistellung bzw. Rechtsmittellegitimation zuzugestehen. Auch wenn
die angefochtene Verfügung erst rund ein Jahr nach Anzeige und
Verfassung des Polizeirapportes erging und sich der Beschwerdefüh-
rer von sich aus bei der Staatsanwaltschaft nach dem Verfahrensstand
bzw. nach dem voraussichtlichen Zeitpunkt sowie der in Betracht
fallenden Art der Verfahrenserledigung hätte erkundigen können, ist
aufgrund der dargelegten Umstände und nach dem Grundsatz von
Treu und Glauben (Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO) die Beschwerdelegiti-
mation zu bejahen. Der aus dem Vorfall vom 4. April 2010 geschä-
digte Beschwerdeführer ist durch die Einstellung des Verfahrens un-
mittelbar in seinen Rechten betroffen, da ihm dadurch die Geltend-
machung von Parteirechten (Art. 119 Abs. 2 StPO) verwehrt wird.
Demnach ist er im Hinblick auf die groben Verkehrsregelverletzun-
gen zur Ergreifung der Beschwerde legitimiert. | 2,283 | 1,792 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2011-13_2011-11-18 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2011-13.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2011-13.pdf | AGVE_2011_13 | null | nan |
b1b558ba-bf51-5514-a367-2c20c239b3ba | 1 | 417 | 871,924 | 997,920,000,000 | 2,001 | de | 2001
Obergericht/Handelsgericht
66
B. Anwaltsrecht
19 Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen durch einen Anwalt,
insbesondere Verbot des Parteiwechsels (§ 15 AnwG)
Aufgrund der Treuepflicht (§ 15 AnwG) ist dem Anwalt im Allgemeinen
untersagt, widerstreitende Interessen zu vertreten. Ausschlaggebend ist
nicht die Verwirklichung einer tatsächlichen Interessenkollision, vielmehr
ist es schon verpönt, den Anschein einer solchen durch die reine Über-
nahme des Mandates zu begründen. Fall eines Anwaltes, der im Rahmen
eines Bauhandwerkerprozesses ein Mandat des Bauhandwerkers
übernommen hat, obwohl er in einem früheren Bauhandwerkerprozess
betreffend dieselbe Überbauung einen Eigentümer vertreten hat, der
zwar nicht als Gegenpartei in der von ihm neu verfassten Klageschrift
aufgeführt ist, gegen den der Bauhandwerker aber gleichzeitig mit der
vom Anwalt verfassten, gegen die anderen Eigentümer gerichteten Klage
eine selbst unterzeichnete, dem Wortlaut entsprechende Rechtsschrift
eingereicht hat.
Entscheid der Anwaltskommission vom 16. August 2001 | 206 | 177 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2001-19_2001-08-16 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-19.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-19.pdf | AGVE_2001_19 | null | nan |
b217757b-5f43-5680-890f-c66e3f26a616 | 1 | 417 | 870,850 | 1,036,368,000,000 | 2,002 | de | 2002
Obergericht/Handelsgericht
36
D. Mietrecht
5
Art. 267 Abs. 1 OR.
Ungültigkeit einer Beweislastklausel. Eine vorformulierte allgemeine Ver-
tragsklausel, welche den Mieter verpflichtet, allfällige Mängel der Mietsa-
che innert 10 Tagen nach Mietantritt zu melden, andernfalls das Mietob-
jekt als in gutem Zustand übernommen gilt, ist ungültig.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 4. Zivilkammer, vom 12. November
2002 in Sachen S. AG gegen B. und G. R.
Aus den Erwägungen
3. Will der Vermieter die Haftung des Mieters aus Art. 267
Abs. 1 OR in Anspruch nehmen, muss er beweisen, dass er einen
Schaden erlitten hat und dass der Schaden durch einen Mangel an der
Mietsache entstanden ist, der während der Mietdauer eingetreten ist
und für welchen der Mieter einzustehen hat (Peter Higi, Zürcher
Kommentar, N 119 zu Art. 267 OR). Der Vermieter muss somit nicht
nur beweisen, dass die Mietsache Mängel aufweist, für welche der
Mieter aufzukommen hat, sondern auch, dass diese Mängel bei Miet-
beginn noch nicht vorhanden waren, das heisst dass er die Mietsache
in
einem
guten
bzw.
mängelfreien
Zustand
übergeben
hat
(Lachat/Stoll/Brunner, Mietrecht für die Praxis, 4. Aufl., Zürich
1999, S. 601 f.).
Die Klägerin verlangt im Gerichtsverfahren von den Beklagten
die Bezahlung von Malerarbeiten (Verhandlungsprotokoll der Vorin-
stanz S. 4). Diese umfassen einerseits das Streichen der Wände in der
Wohnung, anderseits das Streichen der Wände und des Bodens im
Luftschutzraum. Sie stützt sich für ihre Forderung auf die Malerrech-
nung und das Abnahme-/Übergabeprotokoll vom 11. Januar 2001,
welches von der Beklagten unterzeichnet wurde. Darin werden an
verschiedenen Wänden Dübellöcher und Flecken als übermässige
2002
Zivilrecht
37
Abnutzung festgestellt und deren Beseitigung zu 80% den Mietern
angelastet.
Die Beklagten nahmen mit Schreiben vom 15. Januar 2001 Ab-
stand von der Unterzeichnung des Protokolls und bestritten die über-
mässige Abnutzung der Wände. Es seien keine Schmierereien der
Kinder vorhanden gewesen und die Dübellöcher seien von einem
Baufachmann zugefüllt worden. Zudem sei beim Einzug kein Proto-
koll verfasst worden. An diesen Ausführungen hielten sie im gericht-
lichen Verfahren fest.
Die Klägerin verwies in ihrem Antwortschreiben vom 18. Ja-
nuar 2001 auf Ziff. 9.1 des Mietvertrags, wonach der Mieter ver-
pflichtet ist, allfällige Mängel innert 10 Tagen zu melden, andernfalls
das Mietobjekt als in gutem Zustand übernommen gelte. Damit ist
die Frage gestellt, ob diese Vertragsklausel gültig ist.
Es handelt sich bei dieser Klausel um einen Beweislastvertrag,
mit welchem die aus Art. 8 ZGB bzw. Art. 256 OR folgende Beweis-
last des Vermieters für den Zustand der Mietsache bei Übergabe auf
den Mieter überwälzt wird. Die Zulässigkeit solcher Verträge ist um-
stritten. Im Allgemeinen wird sie unter Vorbehalt von Art. 27 ZGB
bzw. Art. 20 OR bejaht, soweit die Parteien über das fragliche
Rechtsverhältnis disponieren können (BGE 85 II 504; Hans Schmid,
Basler Kommentar, N 91 zu Art. 8 ZGB mit Hinweisen). Max Kum-
mer führt dagegen in seinem Kommentar zu Art. 8 ZGB aus, der die
Beweislast Übernehmende wolle nicht auf ein Recht verzichten, son-
dern setze sich vielmehr einem erhöhten Prozessrisiko aus, dessen
Bedeutung er meist gar nicht zu überschauen, geschweige denn zu
ermessen vermöge und dessen Verwirklichung er nicht erwäge, weil
er weder mit einem Prozess und noch weniger mit einer Beweislosig-
keit rechne. Solche Verträge seien daher höchst bedenklich und ihre
Gültigkeit sei abzulehnen. Zudem habe die vom Gesetz getroffene
Beweislastverteilung nicht bloss die Qualität ergänzenden Vertrags-
rechts oder inhaltlicher Festlegung der gegenseitigen Rechte und
Pflichten, die in weitem Rahmen ausgehandelt werden könnten. Sie
stehe ungleich höher und müsse privater Willkür überhoben sein,
weil sie die allein angemessene und gerechte Regelung zu sein bean-
spruche und beanspruchen könne und weil jede Beweislastumkehr
2002
Obergericht/Handelsgericht
38
unbegründeten Ansprüchen zum Prozesssieg verhelfen könne (Max
Kummer, Berner Kommentar, N 376 zu Art. 8 ZGB). Weiter führt er
aus, auf dem Boden der herrschenden Meinung sei jedenfalls zu be-
achten, dass das Zuschieben der Beweislast sehr bald in unsittliche
Knebelung ausarte. Die Unsittlichkeit sei evident, wenn der eine
Partner kraft seines sozialen Übergewichts, seines Marktmonopols
oder seiner verbandsmässig geschützten Stellung dem andern die Ge-
schäftsbedingungen diktieren könne und sich hierbei Beweislastvor-
teile erwirke. Diktierte Abkehr von der gesetzlichen Beweislastver-
teilung zum Nachteil des in der Verhandlung Schwächeren sei aus
den vorgenannten Gründen schlechthin untragbar, was BGE 85 II
504 völlig verkenne (Kummer, a.a.O., N 377 zu Art. 8 ZGB).
Ob diesen gewichtigen Argumenten von Max Kummer für eine
generelle Unzulässigkeit von Beweislastverträgen zu folgen ist, mag
hier offen bleiben. Im Bereich des Mietrechts kann davon ausgegan-
gen werden, dass wegen der beschränkten Möglichkeiten der Mieter,
auf wirtschaftlichen und anderen Druck zu reagieren, zwischen den
Mietvertragsparteien ein starkes Ungleichgewicht zu Ungunsten der
Mieter besteht, sodass die Vermieter dazu verleitet werden, ihre Vor-
machtstellung gegenüber den Mietern missbräuchlich auszunutzen
(Botschaft des Bundesrats zur Revision des Miet- und Pachtrechts
vom 27. März 1985, BBl 1985 I 1398). Deshalb ist das geltende
schweizerische Mietrecht wesentlich Sozialrecht mit dem hauptsäch-
lichen Ziel eines verstärkten staatlichen Schutzes der Mieter vor
missbräuchlichen Forderungen der Vermieter (BBl 1985 I 1397;
Lachat/Stoll/Brunner, a.a.O., S. 2 mit Hinweisen; SVIT-Kommentar
Mietrecht II, N 29 zu Art. 256 OR). Die fragliche Vertragsklausel im
Mietvertrag der Parteien ist nun aber nachgerade ein Paradebeispiel
für die "diktierte Abkehr" von der gesetzlichen Beweislastverteilung
zum Nachteil der schwächeren Vertragspartei und aus diesem Grund
nicht zu schützen.
Dabei ist zu beachten, dass der Gesetzgeber bei der letzten Re-
vision des Mietrechts im Jahre 1989 die altrechtliche Vermutung,
dass der Mieter die Mietsache in gutem Zustand empfangen habe,
gestrichen hat. In der Botschaft wird zu Recht darauf hingewiesen,
dass es Aufgabe des Vermieters sei, die Mietsache in gutem Zustand
2002
Zivilrecht
39
zu übergeben und sie während des Mietverhältnisses in demselben zu
erhalten. Es sei deshalb nicht vertretbar, wenn dem Mieter die Be-
weislast für eine Verpflichtung auferlegt werde, die den Vermieter
treffe (BBl 1985 I 1455). Wenn aber der Gesetzgeber mit guten
Gründen auf eine Umkehr der Beweislast, welche durch die altrecht-
liche Vermutung herbeigeführt worden war, ausdrücklich verzichtet,
geht es nicht an, diese durch Vertrag wieder einzuführen (a.M. SVIT-
Kommentar Mietrecht II, N 32 zu Art. 267 - 267a OR). Vielmehr hat
der Vermieter die Folgen zu tragen, wenn der ursprüngliche Zustand
der Mietsache nicht mehr bewiesen werden kann (BBl 1985 I 1456).
Dafür spricht auch, dass es sich bei Art. 256 OR, welcher die
Hauptverpflichtung des Vermieters statuiert, um eine zwingende Be-
stimmung des Mietrechts handelt, welche zum Nachteil des Mieters
nicht vertraglich eingeschränkt oder gar wegbedungen werden darf,
d.h. der Parteidisposition entzogen ist (Higi, a.a.O., N 4 zu Art. 256
OR; SVIT-Kommentar Mietrecht II, N 6 und 7 zu Art. 256 OR), und
dass sich das Verbot der abweichenden Bestimmungen zum Nachteil
der Mieter nicht nur auf die eigentliche Hauptleistungspflicht des
Vermieters, sondern auf alle vertraglichen und gesetzlichen Bestim-
mungen, die an die Hauptleistungspflicht des Vermieters anknüpfen,
auswirken (Higi, a.a.O., N 68 zu Art. 256 OR; SVIT-Kommentar
Mietrecht II, N 30 zu Art. 256 OR), d.h. auch für die entsprechende
Beweislastverteilung gelten muss.
Im Übrigen ist höchst unwahrscheinlich, dass die Mieter vor
Vertragsunterzeichnung alle vorformulierten Vertragsbestimmungen
lesen und in ihrer Tragweite erfassen. Sie können sich deshalb auch
auf die Ungewöhnlichkeitsregel berufen, da die Beweislastumkehr in
Ziff. 9.1 des Mietvertrags der Parteien derart aus dem zu erwartenden
Rahmen fällt, dass sie damit nach Treu und Glauben nicht rechnen
mussten
(Guhl/Koller,
Das
Schweizerische
Obligationenrecht,
9. Aufl., Zürich 2000, S. 117 mit Hinweisen).
Im vorliegenden Fall wurde kein Antrittsprotokoll erstellt. Die
Klägerin vermag deshalb nicht zu beweisen, dass die von ihr im Ab-
nahme-/Übergabeprotokoll beanstandeten übermässigen Abnützun-
gen der Wohnungswände nicht bereits bei Mietantritt durch die Be-
klagten bestanden. Zwar handelte es sich um eine Erstvermietung,
2002
Obergericht/Handelsgericht
40
doch schliesst dies nicht aus, dass zumindest die festgestellten Fle-
cken und geflickten Löcher durch Bauhandwerker verursacht, von
den Beklagten aber nicht gerügt worden waren, weil diese das Miet-
objekt als in einem zum vereinbarten Gebrauch tauglichen Zustand
angesehen haben. Die im Entrée, Zimmer 1 und 3 festgehaltenen Dü-
bellöcher, deren Verursachung die Beklagten nicht bestreiten, müssen
als ordentliche Abnutzung des Mietobjekts betrachtet werden, die
auch bei normalem und sorgfältigen Gebrauch der Mietsache entste-
hen und von den Mietern deshalb lediglich fachgerecht ausgebessert
werden
müssen
(Higi,
a.a.O.,
N 92
zu
Art. 267
OR;
Lachat/Stoll/Brunner, a.a.O., S. 598, SVIT-Kommentar Mietrecht II,
N 11 zu Art. 267 - 267a OR).
Nach dem Gesagten vermochte die Klägerin nicht zu beweisen,
dass die Beklagten für das Streichen der Wände haftbar sind. Sie
muss sich deshalb die entsprechende Versicherungsleistung von
Fr. 1'601.60 auf die Kosten für das Streichen des Bodens und des So-
ckels im Luftschutzraum von Fr. 1'083.10 bzw. Fr. 128.35 und den
Selbstbehalt von Fr. 200.-- anrechnen lassen, so dass sie von den Be-
klagten nichts mehr zu fordern hat und ihre Klage deshalb abzuwei-
sen ist. | 2,280 | 1,886 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2002-5_2002-11-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-5.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-5.pdf | AGVE_2002_5 | null | nan |
b272f8f8-74b9-5ece-ac60-24d056cb9c7c | 1 | 417 | 869,744 | 1,315,094,400,000 | 2,011 | de | 2011
Zivilprozessrecht
35
[...]
6
Art. 326 ZPO. An der in den AGVE 1997 Nr. 27 S. 88 publizierten Praxis,
in der vorbehaltlosen Stellungnahme zu unzulässigen Noven der Gegen-
partei einen konkludenten Verzicht auf das Novenverbot zu sehen, kann
im Beschwerdeverfahren unter der Geltung der Schweizerischen Zivil-
prozessordnung nicht festgehalten werden.
Aus dem Entscheid der 4. Zivilkammer des Obergerichts vom 29. Septem-
ber 2011 in Sachen M.L. gegen F.L. (ZSU.2011.216).
2011
Obergericht
36
Aus den Erwägungen
3.
Die Parteien haben in Beschwerde und Beschwerdeantwort ver-
schiedene neue Behauptungen aufgestellt und neue Beweismittel ein-
gereicht oder angerufen, welche als unzulässige Noven unbeachtlich
sind (Art. 326 Abs. 1 ZPO). Der anwaltlich vertretene Beklagte hat
zwar in der Beschwerdeantwort zu den neuen Behauptungen in der
Beschwerde des Klägers Stellung genommen, ohne die Verspätung
zu rügen, doch kann an der unter der kantonalen Zivilprozessordnung
publizierten Rechtsprechung, wonach darin ein konkludenter Ver-
zicht auf das Novenverbot zu sehen sei (AGVE 1997 Nr. 27 S. 88),
im Beschwerdeverfahren unter der Geltung der Schweizerischen Zi-
vilprozessordnung nicht festgehalten werden, da die Beschwerde ge-
mäss Art. 319 ff. ZPO als ausserordentliches Rechtsmittel, wie er-
wähnt, im Wesentlichen lediglich der Rechtskontrolle dient. | 327 | 251 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2011-6_2011-09-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2011-6.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2011-6.pdf | AGVE_2011_6 | null | nan |
b5cfbb19-2ee4-54b0-aec4-a9b96bbc0071 | 1 | 417 | 871,027 | 1,086,134,400,000 | 2,004 | de | 2004
Obergericht/Handelsgericht
72
20
Art. 220 StGB, Entziehen von Unmündigen:
Der alleinige Inhaber der elterlichen Obhut kann, selbst wenn er das Be-
suchsrecht des andern Elternteils vereitelt, nicht Täter im Sinne von
Art. 220 StGB sein. Der Tatbestand schützt nicht die elterliche Sorge als
solche, sondern das Recht, über den Aufenthalt des Unmündigen zu be-
stimmen.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 2. Strafkammer, vom 22. Juni 2004
i.S. Staatsanwaltschaft gegen B. S.
Aus den Erwägungen
2. Gemäss Art. 220 StGB (in der seit 1. Januar 1990 gültigen,
gegenüber der früheren geringfügig geänderten Fassung, AS 1989 III
S. 2449 ff.) wird, auf Antrag, mit Gefängnis oder mit Busse bestraft,
wer eine unmündige Person dem Inhaber der elterlichen oder der
vormundschaftlichen Gewalt entzieht oder sich weigert, sie ihm zu-
rückzugeben.
Täter kann nach dieser Bestimmung grundsätzlich jedermann
sein, der die elterliche Sorge oder vormundschaftliche Gewalt nicht
allein und uneingeschränkt ausübt. Das bedeutet zunächst, dass ein
Aussenstehender, d.h. eine Person, welche gänzlich unabhängig von
der Familie ist, das Delikt verüben kann. Unter bestimmten Umstän-
den kann aber auch ein Elternteil Täter sein (A. Eckert in: Basler
Kommentar, Strafgesetzbuch II, Basel/Genf/München 2003, N 7 zu
Art. 220).
Gegenüber X. und Y. erging am 19. Juni 2002 durch den Ge-
richtspräsidenten von Z. gestützt auf Art. 175 f. ZGB ein Eheschutz-
entscheid. In dessen Ziff. 2a wurden die Kinder A. und B., beide
geboren am 3. November 1991, für die Dauer der Trennung unter die
Obhut der Angeklagten gestellt und dem Kläger ein Besuchsrecht,
namentlich am ersten und dritten Wochenende eines jeden Monats,
sowie ein Ferienrecht eingeräumt. Gemäss den Erwägungen im ange-
fochtenen Strafurteil erwuchs dieser Entscheid erst am 23. August
2002 in Rechtskraft, somit nach den hier zu beurteilenden Vorfällen
2004
Strafrecht
73
vom 19. - 21. Juli und 2. - 4. August 2002. Ebenfalls laut dem ange-
fochtenen Strafurteil hatte der Gerichtspräsident aber mit vorsorglich
sofortiger Verfügung vom 20. Dezember 2001 im Rahmen des mit
Klage von X. vom 21. Oktober 2001 eingeleiteten Eheschutzverfah-
rens die beiden Kinder unter die Obhut der Angeklagten gestellt und
dem Vater ein Besuchsrecht eingeräumt. Damit steht fest, dass die
Angeklagte im Zeitpunkt der hier zu beurteilenden Vorfälle allein
obhutsberechtigt war.
Nach massgebender Lehrmeinung kann nun der (alleinige) In-
haber der Obhut nicht Täter im Sinne von Art. 220 StGB sein, na-
mentlich auch dann nicht, wenn er das Besuchsrecht des andern El-
ternteils vereitelt. Denn Art. 220 StGB schützt nicht die elterliche
Sorge als solche, sondern das Recht, über den Aufenthalt des Un-
mündigen zu bestimmen. Das Besuchsrecht ist nicht Ausfluss dieses
Rechts. Hinzu kommt, dass bei anderer Betrachtungsweise der El-
ternteil, der das Besuchsrecht vereitelt, während des Scheidungsver-
fahrens als Täter(in) in Frage kommt, nach Eintritt der rechtskräfti-
gen Scheidung eine Strafbarkeit derselben Person aber ohnehin ent-
fällt (wenn nach Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes im Ehe-
schutzverfahren oder bei vorsorglichen Massnahmen im Scheidungs-
oder Trennungsverfahren die elterliche Sorge beider Eltern aufgrund
von Art. 297 Abs. 2 ZGB weiterbesteht [es sei denn, sie werde vom
Richter einem Elternteil übertragen], nach der Scheidung die elterli-
che Sorge indessen aufgrund von Art. 297 Abs. 3 i.V. mit Art. 133
Abs. 1 ZGB nur einem Elternteil zusteht [es sei denn, die Eltern
hätten gemäss Art. 133 Abs. 3 ZGB das gemeinsame Sorgerecht]).
Diese unterschiedliche Behandlung des gleichen Elternteils - einfach
zu verschiedenen Zeitpunkten - ist schwer begründbar (Basler Kom-
mentar, a.a.O., N 12 f. zu Art. 220; s.a. Schubarth, Kommentar zum
Schweizerischen Strafrecht, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Be-
sonderer Teil, 4. Band, Bern 1997, N 38 zu Art. 220). Im zitierten
Basler Kommentar wird unter Hinweis auf BGE 98 IV 37 erwähnt,
dass die Praxis die Frage der Anwendbarkeit von Art. 220 StGB auch
auf den obhutsberechtigten Elternteil zu bejahen scheine, vorausge-
setzt, dass das Besuchsrecht durch bindende Konvention der Parteien
oder richterlichen Entscheid festgelegt wurde.
2004
Obergericht/Handelsgericht
74
Im neuesten Entscheid des Bundesgerichts vom 2. Juli 2002 zur
Frage der Anwendbarkeit von Art. 220 StGB auf einen Elternteil
(BGE 128 IV 154 Erw. 3.2 S. 159) wurde unter Hinweis auf frühere
Urteile ausgeführt, es könne sich auch ein Elternteil der Entziehung
eines Unmündigen strafbar machen, der seinem Ehepartner das Kind
vorenthalte. Das gelte namentlich für den Fall, dass ein Elternteil,
dem im Rahmen vorsorglicher Massnahmen im Scheidungsverfahren
ein Besuchsrecht zugesprochen worden sei, dieses Besuchrecht über-
schreite bzw. sich weigere, das Kind dem Inhaber der elterlichen Ob-
hut zurückzubringen. Es wurde dazu auf BGE 110 IV 35 Erw. 1c
S. 37, 108 IV 22 S. 24 sowie auf den bereits erwähnten Entscheid 98
IV 35 Erw. 2 S. 37 f. verwiesen, ferner auf BGE 125 IV 14 Erw. 2b
S. 16 und 118 IV 61 Erw. 2a S. 63. Dass der Obhutsinhaber Täter
nach Art. 220 StGB sein könne, wird in den dem BGE 98 IV 35
nachfolgenden Urteilen allerdings nie ausdrücklich gesagt, und in je-
nem Entscheid aus dem Jahre 1972 (Pra 61 [1972] Nr. 153), der nach
der zitierten Meinung im Basler Kommentar die Strafbarkeit des
Obhutsinhabers zu bejahen scheine, wurde vorausgesetzt, dass dem
sein Besuchsrecht geltend machenden Elternteil die (nicht ausgeübte)
elterliche Gewalt gemeinsam mit dem andern Elternteil oder sogar
ausschliesslich zustand, was im hier zu beurteilenden Fall nicht zu-
traf. Weiter wurde ausgeführt, dass ein Ehegatte (gemeint: mit teil-
weiser oder ausschliesslicher, aber nicht ausgeübter elterlicher Ge-
walt), der befürchte, die Ausübung seines Besuchsrechts werde vom
andern Gatten erschwert oder vereitelt, den Richter gemäss Art. 145
aZGB ersuchen müsse, vorsorgliche Massnahmen zu treffen, um die
Ausübung seines Besuchsrechts unter Androhung der Strafen von
Art. 292 StGB sicherzustellen. Diese Auffassung wird auch im er-
wähnten Basler Kommentar vertreten, wenn ausgeführt wird, es sei
dem Besuchsberechtigten unbenommen und ohne weiteres zuzumu-
ten, sein Recht auf zivilprozessualem Weg durchzusetzen, wobei der
zuständige Richter immer noch den Hinweis auf die Strafdrohung
des Ungehorsamstatbestands (Art. 292 StGB) machen könne (a.a.O.,
N 13 zu Art. 220). Beizufügen ist, dass anlässlich der StGB-Revision
von 1989, die zur heutigen Formulierung von Art. 220 StGB führte,
in der Botschaft des Bundesrates die Auffassung vertreten wurde, es
2004
Strafrecht
75
bestehe keine Notwendigkeit, das Besuchsrecht jenes Elternteils, der
keine elterliche Gewalt mehr habe, durch Art. 220 StGB besonders
zu schützen; Art. 292 StGB (Ungehorsam gegen amtliche Verfügun-
gen) dürfte zur Durchsetzung dieser Rechte genügen (BBl 1985 II
S. 1060).
3. Es steht somit auch nach der bundesgerichtlichen Praxis nicht
fest, dass der (alleinige) Obhutsinhaber Täter nach Art. 220 StGB
sein kann (vgl. auch Basler Kommentar, a.a.O., N 14 zu Art. 220, mit
dem Hinweis auf BGE 104 IV 90 und 125 IV 14, wonach Täter nur
derjenige sein könne, dem die Kinder nicht zugesprochen wurden).
Lehnt zusätzlich die aktuelle Lehre die Anwendbarkeit von Art. 220
StGB in diesem Sinne mit guten Gründen ab (s.a. Donatsch/Wohlers,
Strafrecht IV, 3. Aufl., Zürich 2004, S. 25; Stratenwerth, Schweizeri-
sches Strafrecht, Besonderer Teil II, 5. Aufl., Bern 2000, N 5 zu
§ 27), kann der (allein) obhutsberechtigte Elternteil, der dem andern
das Besuchsrecht verweigert, nicht nach Art. 220 StGB bestraft wer-
den. Stratenwerth (a.a.O.) weist zwar darauf hin, dass der Vorentwurf
der Expertenkommission zur Teilrevision von 1989 vorgesehen habe,
Täter des Delikts könne nur noch sein, wer nicht Inhaber der elterli-
chen Gewalt sei, wobei aber der Gesetzgeber diesem Vorschlag nicht
gefolgt sei, weshalb die veränderte Schutzrichtung des Tatbestands
als geltendes Recht hinzunehmen sei. Schubarth (a.a.O.) führt indes-
sen zu Recht an, daraus könne nicht geschlossen werden, dass die
Rechtsprechung zur Vereitelung des Besuchsrechts vor der rechts-
kräftigen Scheidung vom Gesetzgeber sanktioniert worden sei; die
Ablehnung des Expertenvorschlags sei ja nicht im Hinblick auf die
Fälle der Vereitelung des Besuchsrechts erfolgt. Zusammenfassend
führt Schubarth aus, die Ausübung des Besuchsrechts durch den Mit-
inhaber der elterlichen Gewalt werde von Art. 220 StGB nicht ge-
schützt.
Demzufolge kann die Angeklagte, der die Vereitelung des Be-
suchsrechts vorgeworfen wird, nicht aufgrund dieser Bestimmung
bestraft werden. | 2,088 | 1,703 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2004-20_2004-06-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2004-20.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2004-20.pdf | AGVE_2004_20 | null | nan |
b8832d2c-7fe2-5d13-a3c5-326ceeee7209 | 1 | 417 | 870,077 | 1,213,315,200,000 | 2,008 | de | 2008
Obergericht
36
[...]
5
§ 4 Abs. 1 und 4 AnwT
Für die Berechnung des Streitwertes und somit des Grundhonorars des
unentgeltlichen Rechtsvertreters wird nicht auf den geltend gemachten
Wert der Liegenschaft abgestellt, wenn dieser offensichtlich nicht dem
Wert der Liegenschaft entspricht.
Entscheid der Inspektionskommission vom 13. Juni 2008 i.S. X. gegen Ge-
richtspräsidium B. (IVV.2007.16)
Aus den Erwägungen
3.1.3.
Der Beschwerdeführer klagte somit, was die güterrechtlichen
Ansprüche betreffend die Liegenschaft angeht, eine bestimmte Geld-
summe ein. Es ist nun zu prüfen, ob er bezüglich der Berechnung des
Streitwertes diese Summe in guten Treuen hat geltend machen dür-
fen. Gemäss dem den Akten beiliegenden Grundbuchauszug war der
Beklagte als Eigentümer der Liegenschaft eingetragen (vgl. [...]).
Der Beschwerdegegner stellt sich auf den Standpunkt, der Be-
schwerdeführer hätte, wenn er sich schon der Notwendigkeit eines
Grundbuchauszuges bewusst gewesen sei (vgl. [...]), aufgrund der
ihm obliegenden prozessualen Sorgfaltspflicht, im Zeitpunkt der
2008
Anwaltsrecht
37
Einleitung der Klage einen aktuellen Auszug anfordern müssen. Da-
durch wäre ihm bewusst geworden, dass die Liegenschaft mittlerwei-
le mit Verlust verkauft worden sei.
Aufgrund der vom Beschwerdeführer in der Kostenbeschwerde
aufgeführten Umstände (Verkauf der Liegenschaft an den Bruder,
Beklagter blieb in Liegenschaft wohnen) ist ihm beizupflichten, dass
er nicht zwingend den neusten Grundbuchauszug als Beweis hat
einreichen müssen. Die Klägerin bzw. der Beschwerdeführer konnte
davon ausgehen, dass sich die Besitzverhältnisse nicht verändert
haben, weshalb der alte Grundbuchauszug als Beweis, dass der Be-
klagte Eigentümer der Liegenschaft war, ausreichte. Die Hauptbe-
gründung des Beschwerdegegners, es hätte ein Grundbuchauszug
beigezogen werden müssen, kann daher bei einer ehelichen Liegen-
schaft, welche weiterhin von einem Ehegatten bewohnt wird, als
nicht in der angeführten Absolutheit als den Grundsatz der guten
Treuen verletzend erachtet werden. Der Beschwerdeführer durfte in
guten Treuen noch von einem Eigentum des Ehemannes an der
Liegenschaft ausgehen.
Das Spiel des Ehemannes, die eheliche Liegenschaft mit einem
Steuerwert von Fr. 392'900.00 bei einer Hypothekarbelastung von
Fr. 574'000.00 für einen Preis von Fr. 280'000.00 an den eigenen
Bruder zu verkaufen, und diese gleich wieder zurückzumieten, er-
scheint mehr als fragwürdig. Es muss dem Beschwerdeführer zu
Gute gehalten werden, dass nicht einfach auf dieses "Manöver" abge-
stellt werden konnte.
Allerdings erscheint der klageweise geltend gemachte Verkehrs-
wert von Fr. 650'000.00 aus anderen Gründen trotz "Manöver" nicht
mehr als in guten Treuen vertretbar. Auf welche Grundlagen der Be-
schwerdeführer in seiner Klage den geschätzten Wert der Liegen-
schaft von Fr. 650'000.00 stützt, legt er in seiner Klage nicht dar. Er
führt lediglich aus, der Klägerin sei der exakte Wert der Liegenschaft
nicht bekannt, sie schätze diesen aber auf Fr. 650'000.00. Die
Liegenschaft wurde 1989 in einer absoluten Hochpreis- und Spekula-
tionsphase gekauft. Die Hypothekarbelastung dürfte daher nahe oder
über der Grenze des objektiven Verkehrswertes gelegen haben. Auch
hat ein Augenschein ergeben, dass es sich bei der Liegenschaft um
2008
Obergericht
38
ein älteres Haus handelt, welches sich zwar heute in einem guten
Zustand präsentiert, an dem aber viele Renovationen offenbar erst
neueren Datums nach dem Verkauf getätigt wurden. Nachdem sich in
der Klageantwort auch herausgestellt hat, dass die Liegenschaft zu
einem Wert von lediglich Fr. 280'000.00 verkauft worden ist, hat der
Beschwerdeführer in seiner Klage einen Wert für die Liegenschaft
geltend gemacht, welcher offenbar absolut nicht dem Verkehrswert
der Liegenschaft entsprochen hat. Aufgrund dieser Umstände war die
Einklagung eines Verkehrswertes von Fr. 650'000.00 ohne weitere
Abklärungen zu tätigen trotz Spielchen der Gegenpartei die guten
Treuen verletzend. Der Beschwerdeführer hat demnach bezüglich
des Wertes der Liegenschaft gestützt auf § 4 Abs. 4 AnwT ein offen-
sichtlich zu hohes Begehren gestellt. Es ist somit bezüglich des
Streitwertes auf den Wert des in den Akten ausgewiesenen Verkaufs-
preises abzustellen. Nachdem die Liegenschaft überdies überschuldet
war, weist diese keinen Nettowert mehr auf. [...]
[...]
3.2.
Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass der
Beschwerdeführer den güterrechtlichen Anspruch betreffend die
Liegenschaft in der Höhe von Fr. 38'000.00 in guten Treuen nicht hat
geltend machen dürfen, weshalb dieser Betrag für die Streitwertbe-
rechnung nicht einberechnet werden kann. Der Streitwert berechnet
sich demnach nach den übrigen geltend gemachten Ansprüchen in
der Höhe von Fr. 15'000.00. Es ist somit von einem Grundhonorar
gemäss § 3 Abs. 1 lit. a AnwT in der Höhe von Fr. 4'100.00 auszuge-
hen. | 1,101 | 873 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2008-5_2008-06-13 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2008-5.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2008-5.pdf | AGVE_2008_5 | null | nan |
b9e905c4-b21b-55b8-b5ec-a3e26f93b7c8 | 1 | 417 | 870,540 | 1,001,030,400,000 | 2,001 | de | 2001
Obergericht/Handelsgericht
64
[...]
18
Vorbefassung (§ 2 lit. c. ZPO)
Keine Vorbefassung des Gerichtspräsidenten im ordentlichen Verfahren
zur Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts, wenn dieser bereits
zuvor das Summarbegehren um vorsorgliche Vormerkung des Pfand-
rechts beurteilt hat.
Aus dem Entscheid der Inspektionskommission vom 21. September 2001
i.S. X.
Aus den Erwägungen
4. Die Gesuchsteller rügen, Gerichtspräsident X. und damit alle
Richter seien aufgrund der Vorkommnisse im Zusammenhang mit
der vorläufigen Eintragung des Pfandrechts voreingenommen. Eine
Besorgnis der Voreingenommenheit und damit Misstrauen in das Ge-
richt kann dann entstehen, wenn der Richter sich bereits in einem
früheren Zeitpunkt mit der Angelegenheit befasste. Ausschlaggebend
ist in solchen Fällen von Vorbefassung, dass das Verfahren in Bezug
auf den konkreten Sachverhalt und die konkret zu beurteilenden Fra-
gen gleichwohl als offen erscheint und kein Anschein der Vorbe-
stimmtheit erweckt wird (BGE 119 Ia 221 E. 3 S. 226, 120 Ia 184
E. 2 S. 187).
a) Art. 839 Abs. 2 ZGB verlangt die Eintragung des Bauhand-
werkerpfandrechtes innert 3 Monaten nach Vollendung der Arbeiten.
2001
Zivilprozessrecht
65
Das mit dem Hauptprozess befasste Gericht muss die Rechtmässig-
keit und Rechtzeitigkeit der Anmeldung zur Eintragung der Bau-
handwerkerpfandrechts prüfen. Gegenstand des Summarverfahrens
ist die vorsorgliche Vormerkung des Pfandrechts, wobei der Bau-
handwerker seinen Anspruch auf Eintragung lediglich glaubhaft zu
machen hat. Gegenstand des ordentlichen Verfahrens hingegen ist die
Prüfung des Anspruches auf die Werklohnforderung und die entspre-
chende definitive Eintragung des Pfandrechts, das Vorliegen von
deren Voraussetzungen hat der Bauhandwerker nunmehr zu bewei-
sen. Der Gegenstand der beiden Verfahren ist somit nicht identisch.
Die Konstellation, dass ein Gerichtspräsident im Summarverfahren
einen Sachverhalt provisorisch beurteilen muss und nachher im or-
dentlichen Verfahren wiederum mit der Sache befasst ist, stellt zu-
dem keine Besonderheit dar (vgl. Präliminar- und Scheidungsverfah-
ren, Vermittlungsverhandlung im Arbeitsgerichtsverfahren, Pri-
vatstrafverfahren) und begründet für sich auch keinen Ablehnungs-
grund (BGE 114 Ia 50 E. 3d S. 57 f.). Eine Vorbefassung liegt dem-
entsprechend nicht vor. | 521 | 405 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2001-18_2001-09-21 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-18.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-18.pdf | AGVE_2001_18 | null | nan |
ba78197b-aab7-5e9f-81f6-4a0ec41fbe63 | 1 | 417 | 871,299 | 1,194,998,400,000 | 2,007 | de | 2007
Zivilprozessrecht
49
[...]
10
Art. 12 lit. c BGFA
Tätigkeit als Notar bei Grundstückkaufvertrag und anschliessend als
Parteivertreter einer der Parteien des Kaufvertrages in einem Streit ge-
2007
Obergericht/Handelsgericht
50
gen die andere Partei: Abgrenzung der Zuständigkeit der Anwaltskom-
mission gegenüber der Notariatskommission; Interessenkollision
Entscheid der Anwaltskommission vom 14. November 2007 i.S. M. S.
Aus den Erwägungen
1.
1.1.
Im vorliegenden Fall ist der beanzeigte Anwalt ebenfalls Notar,
und der erhobene Vorwurf ergibt sich aus der Kombination beider
Tätigkeiten. Da die Anwaltskommission Aufsichtsbehörde über die
Anwälte und die Notariatskommission / der Regierungsrat Aufsichts-
behörde über die Notare ist, stellt sich vorab die Frage der aufsichts-
rechtlichen Zuständigkeit.
Nachdem keine Bestimmung für solche Sachverhalte ein
gemeinsam durchzuführendes Verfahren oder allenfalls die Kompe-
tenzattraktion bei der einen Behörde vorsieht, bedarf es einer
Abgrenzung. Abgrenzungskriterium ist, zu welchen Berufspflichten
(Anwalt oder Notar) die nähere sachliche Beziehung besteht (AGVE
2002, Nr. 86, S. 371).
1.2.
[...]
1.3.
[...]
1.4.
Die Streitigkeit zwischen den Käufern (Anzeiger) und dem ehe-
maligen Verkäufer hinsichtlich der Stützmauer ist nicht gestützt auf
den vom beanzeigten Anwalt beurkundeten Vertrag (Kaufvertrag be-
treffend Parzelle 4291, vgl. Beilage zur Eingabe vom 23. März 2007
des beanzeigten Anwaltes [Kaufvertrag]) entstanden. So wurde we-
der die Gültigkeit des Kaufvertrages bestritten, noch geht es um den
Inhalt oder die Folgen dieses Vertrages. Gegenstand des
Beschwerdeverfahrens betreffend Baubewilligung und Beseitigung,
2007
Zivilprozessrecht
51
in welchem der beanzeigte Anwalt den damaligen Verkäufer vertre-
ten hat, war die Terrainaufschüttung und die Grenzmauer auf der
Nachbarparzelle Nr. 4289/4290 (Beilage 1 zur Stellungnahme vom
13. März 2007).
Damit kann festgehalten werden, dass die Streitigkeit zwischen
Käufer und Verkäufer nicht den beurkundeten Vertrag und auch nicht
die Vertragsfolgen betroffen haben, weshalb vorliegend auch nicht
die Unabhängigkeitspflicht des Notars tangiert wird. Demzufolge be-
steht bezüglich der Frage einer allfälligen Interessenkollision die
nähere sachliche Beziehung nicht zu den Berufspflichten des Notars,
sondern zu denjenigen des Anwaltes, weshalb die Überprüfung einer
allfälligen Berufsregelverletzung in die Zuständigkeit der Anwalts-
kommission fällt.
[...]
3.
3.1.
3.1.1.
[...]
3.1.2.
Auch wenn sich das BGFA nicht über eine Treuepflicht des An-
waltes gegenüber Klienten, die er zuerst als Notar betreut hatte, aus-
spricht, so wurde mit der Mandatsübernahme für den ehemaligen
Verkäufer eine Situation geschaffen, in der der beanzeigte Anwalt
unter Umständen gegen die Interessen der Käufer Kenntnisse aus
dem früheren Notariatsmandat zur Ausübung des neuen Mandates
hätte verwenden können (vgl. auch M
ARTIN
S
TERCHI
, Kommentar
zum bernischen Fürsprechergesetz, Bern 1992, N 4 zu Art. 13: Ver-
bot der Vertretung entgegengesetzter Interessen trifft alle in einer Bü-
rogemeinschaft stehende Anwälte auch hinsichtlich der Notariatsge-
schäfte eines Kollegen). Es besteht somit ein enger Zusammenhang
zwischen der Tätigkeit als Urkundsperson und dem Rechtsanwalts-
beruf, weshalb vorliegend zu prüfen ist, ob der beanzeigte Anwalt
durch sein Verhalten als Notar und dann als Anwalt das Verbot der
Interessenkollision verletzt hat.
2007
Obergericht/Handelsgericht
52
3.2.
3.2.1.
Gegenstand des vom beanzeigten Anwalt beurkundeten Kauf-
vertrages vom 14. Dezember 2001 war das Kaufsobjekt ,,Grundbuch
E. Nr. 3604, Kat. Plan 44, Parzelle 4291. Im Kaufpreis von Fr.
629'000.-- waren der Kaufpreis für die Parzelle 4291 und das schlüs-
selfertige Wohnhaus sowie die Garage enthalten. Des Weiteren wur-
de im Kaufvertrag unter der Rubrik ,,Dienstbarkeiten und Grundla-
sten" ein Näherbaurecht mit Parz. 4290 und ein Grenzbaurecht mit
Parz. 4292 vereinbart. Im Weiteren enthält der Kaufvertrag verschie-
dene Vertragsbestimmungen, welche u.a. Besitzantritt, Leistungsum-
fang des Verkäufers betreffend die schlüsselfertige Erstellung eines
Wohnhauses, Garantieansprüche etc. regeln.
3.2.2.
Der Rechtsstreit zwischen den Anzeigern und dem ehemaligen
Verkäufer (im Verfahren vor Verwaltungsgericht des Kantons Aargau
Baukonsortium O. als Beschwerdeführer 1) bezog sich auf die Um-
gebungsgestaltung (Terrainaufschüttung und Stützmauer) auf der
Parzelle 4290 (Eigentümer: J.).
[...] Dem Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Aar-
gau ist Folgendes zu entnehmen: ,,Gegenstand des vorliegenden Ver-
fahrens ist somit ausschliesslich die Stützmauer auf der Parzelle Nr.
4290, welche entlang der südöstlichen Parzellengrenze verläuft." Die
Beschwerdegegner (Anzeiger) verneinten die Rechtmässigkeit der
Stützmauer, weil der erforderliche Grenzabstand nicht eingehalten
worden sei.
Im Entscheid wurden u.a. die Fragen der Höhe der Mauer und
des Abstandes zur Nachbarsgrenze nach den gesetzlichen Grundla-
gen geprüft. Das Verwaltungsgericht stellte u.a. fest, dass die Stütz-
mauer nicht im Sinne des Umgebungsplans, sondern - entsprechend
ihrem Mehrmass - bloss mit einem vom Mauerfuss aus gemessenen
Grenzabstand von 60 cm hätte genehmigt werden dürfen. Das Ver-
waltungsgericht hat schliesslich mit Entscheid vom 6. Juni 2006 den
Umgebungsplan für die Umgebungsgestaltung auf den Parzellen
4289 und 4290 mit einer Änderung betreffend die Stützmauer (diese
muss gemäss Entscheid zurückversetzt werden) genehmigt.
2007
Zivilprozessrecht
53
3.3.
3.3.1.
Aus dem Gesagten lässt sich schliessen, dass die Streitigkeit, in
welcher der beanzeigte Anwalt den ehemaligen Verkäufer der Anzei-
ger vertreten hat, in keinem engen Zusammenhang mit dem damali-
gen notariellen Mandat (beurkundeter Vertrag) steht. Es handelte sich
um eine Streitigkeit, die nicht den beurkundeten Kaufvertrag (und
auch nicht Folgen daraus), sondern eine Stützmauer auf der Parzelle
4290 betroffen hat. Den beurkundeten Vertrag vom 14. Dezember
2001 hat das Verwaltungsgericht in seinem Entscheid nicht erwähnt,
und er war nicht Gegenstand des Verfahrens. Dem Kaufvertrag ist
insbesondere auch keine Regelung betreffend eine allfällige Stütz-
mauer auf Parzelle 4290 zu entnehmen. Das Verfahren betreffend die
Stützmauer tangiert somit die im beurkundeten Vertrag abgehandel-
ten Tatsachen und Rechtsfragen nicht.
3.3.2.
[...]
3.3.3.
Es ist somit kein Sachzusammenhang zwischen dem notariellen
Mandat und der Mandatsübernahme für den Verkäufer hinsichtlich
der Streitigkeit betreffend die Stützmauer ersichtlich. Dass der bean-
zeigte Anwalt seine erlangten Kenntnisse bezüglich des beurkunde-
ten Vertrages in der Streitigkeit betreffend die Stützmauer auf dem
Nachbarsgrundstück verwertet oder erörtert hätte, kann ausgeschlos-
sen werden. Die Anzeiger behaupten auch nicht, der beanzeigte An-
walt habe als ihr Notar Erkenntnisse gewonnen, die er beim späteren
Verfahren betreffend die Stützmauer gegen sie ausgewertet hätte. Es
lag somit kein verbotener Parteiwechsel vor. | 1,593 | 1,249 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2007-10_2007-11-14 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2007-10.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2007-10.pdf | AGVE_2007_10 | null | nan |
bc3c6f45-4d4a-585e-8bca-62a46d9b5716 | 1 | 417 | 870,089 | 1,138,924,800,000 | 2,006 | de | 2006
Zivilprozessrecht
41
[...]
7
§ 176 ZPO; Prozessüberweisung und Kostenfolgen
Hält der Kläger an der Zuständigkeit des von ihm angegangenen Richters
fest, ist über die Zuständigkeitsfrage urteilsmässig zu befinden und es er-
geht im Falle der Unzuständigkeit ein formeller und kostenpflichtiger
Nichteintretensentscheid.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 3. Zivilkammer, vom 27. Februar
2006, i.S. K.K. ca. V.S. AG
Aus den Erwägungen
2.2.
Gemäss § 176 Abs. 1 ZPO wird der Prozess bei fehlender
Zuständigkeit auf Antrag des Klägers ohne Unterbrechung der
Rechtshängigkeit dem von ihm als zuständig bezeichneten Richter
überwiesen, sofern dieser nicht offensichtlich unzuständig ist. Mit
dieser Bestimmung soll der Verzögerung und Verteuerung des Pro-
zesses durch Zuständigkeitsstreitigkeiten vorgebeugt werden (Büh-
ler/Edelmann/Killer, Kommentar zur aargauischen Zivilprozessord-
nung, 2. Aufl., Aarau/Frankfurt am Main/Salzburg 1998, N 1 zu
§ 176 ZPO). Eine Prozessüberweisung an den zuständigen Richter
erfolgt jedoch nur auf Antrag des Klägers (AGVE 1994, S. 95). Hält
der Kläger demgegenüber - sei es auf Anfrage des Instruktionsrich-
ters nach § 173 Abs. 2 ZPO, sei es auf Bestreitung der Zuständigkeit
durch den Beklagten - an der Zuständigkeit des von ihm angegange-
nen Richters fest, ist über die Zuständigkeitsfrage urteilsmässig zu
befinden und ergeht im Falle der Unzuständigkeit ein formeller
2006
Obergericht
42
Nichteintretensentscheid (Urteil der 1. Zivilkammer des Obergerichts
vom 12. Juni 1998, OR.98.00027; Bühler/Edelmann/Killer, a.a.O.,
N 10 zu § 176 ZPO). Mit diesem Prozessurteil (§ 273 ZPO) sind
auch die Kosten zu verlegen (§ 121 Abs. 1 ZPO).
2.3.
An der Vermittlungsverhandlung vom 7. Dezember 2004 erhob
die Beklagte rechtzeitig die Einrede der örtlichen Unzuständigkeit
des Arbeitsgerichts Lenzburg (Bühler/Edelmann/Killer, a.a.O., N 2 f.
zu § 373 ZPO). Ein aufgrund der umstrittenen örtlichen Zuständig-
keit vom Gericht unterbreiteter Vergleichsvorschlag wurde vom Klä-
ger abgelehnt. Die folgenden Rechtsschriften beschränkten sich ge-
mäss richterlicher Anordnung auf die Frage der örtlichen Zuständig-
keit. Der Kläger beantragte replicando nur im Eventualbegehren die
kostenlose Überweisung ans Arbeitsgericht Zürich. In seinem Haupt-
antrag verlangte er die Feststellung der Zuständigkeit des angerufe-
nen Arbeitsgerichts unter Kostenfolge für die Beklagte. Aufgrund
dieses Hauptantrages und des fortgeschrittenen Verfahrens hatte die
Vorinstanz nach Abschluss des Schriftenwechsels und Durchführung
der Hauptverhandlung urteilsmässig über die Zuständigkeitsfrage zu
befinden. Im alsdann ausgefällten Endentscheid in der Form eines
Prozessurteils (Nichteintretensentscheid) hat sie demnach zu Recht
einen Kostenentscheid gefällt. | 675 | 502 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2006-7_2006-02-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2006-7.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2006-7.pdf | AGVE_2006_7 | null | nan |
bd693b6a-b5f8-511c-81ab-27a5ab9059fd | 1 | 417 | 871,357 | 975,628,800,000 | 2,000 | de | 2000
Strafprozessrecht
81
26
§
184 Abs. 2 StPO
In der Privatstrafklage wegen Übertretung eines allgemeinen Verbotes
muss der Kläger den Beklagten namentlich bezeichnen. Unterlässt er
dies, liegt in der Nichtanhandnahme der Klage und Weigerung des Ge-
richtspräsidenten, ein Ermittlungsverfahren gemäss 183 StPO einzulei-
ten, keine Rechtsverweigerung.
Aus dem Entscheid der Inspektionskommission vom 1. Dezember
2000 i.S. Y.
Aus den Erwägungen
2. Der Beschwerdeführer macht sinngemäss eine Rechtsverwei-
gerung von Gerichtspräsident X. geltend, weil dieser seine Pri-
vatstrafklagen vom 9. respektive 11. Juni 2000 nicht an die Hand
nehmen wolle. (...)
a) (formelle Rechtsverweigerung; vgl. AGVE 2000 16 61, Ziff.
2/a)
b) Gerichtspräsident X. führte in seinem Schreiben an den Be-
schwerdeführer vom 16. Juni 2000 aus (...), eine Anhandnahme der
Klagen sei nicht möglich, wenn der Kläger die fehlbaren Lenker
nicht namentlich bezeichne, da dem Richter die Ermittlung der
Lenker nicht obliege. Diese Gesetzesauslegung ist nicht zu beanstan-
den. Die Strafprozessordnung (StPO; SAR 251.100) verweist die
Ahndung der Übertretung eines allgemeinen Verbotes gemäss §§ 309
ff. der Zivilprozessordnung (ZPO; SAR 221.100) in das Privat-
strafverfahren (§ 181 Abs. 1 Ziff. 9 StPO) und § 184 Abs. 2 StPO
verlangt vom Kläger im Privatstrafverfahren, den Beklagten zu
bezeichnen sowie einen Antrag bezüglich des Strafmasses zu stellen.
Die richterliche Anordnung eines Ermittlungsverfahrens bei unbe-
kannter Täterschaft kann nur bei einem schweren Angriff auf die
Ehre, den Kredit oder ein anderes Rechtsgut, welches durch die in
§ 181 Abs. 1 Ziff. 1-6 StPO aufgeführten Gesetzesbestimmungen
2000
Obergericht
82
geschützt ist, erfolgen. Für die Ermittlung des unbekannten Lenkers,
der ein richterliches Parkverbot missachtet (§ 181 Abs. 1 Ziff. 9
StPO), kann hingegen kein Ermittlungsverfahren angeordnet werden.
Dessen Ermittlung obliegt vielmehr dem Eigentümer respektive Klä-
ger. Auch wenn nicht zu verkennen ist, dass diesem nur beschränkte
Möglichkeiten zur Verifizierung des Lenkers zur Verfügung stehen,
besteht angesichts des klaren Wortlautes kein Raum für eine andere
Anwendung der massgebenden Gesetzesbestimmungen. Das Verhal-
ten von Gerichtspräsident X., die Klagen des Beschwerdeführers
nicht zu behandeln, solange dieser die Beklagten nicht namentlich zu
bezeichnen vermag, ist demzufolge rechtmässig. Somit kann festge-
stellt werden, dass keine Rechtsverweigerung vorliegt. | 578 | 461 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2000-26_2000-12-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-26.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-26.pdf | AGVE_2000_26 | null | nan |
bdafb115-787e-5f66-9e6e-d2954db4322b | 1 | 417 | 870,678 | 1,025,654,400,000 | 2,002 | de | 2002
Strafprozessrecht
91
V. Strafprozessrecht
29
§§ 100 Abs. 1, 103 Abs. 1 und 2 sowie 105 Abs. 2 StPO
Zeugnisverweigerungsrecht. Die Bestimmung, wonach ein Zeuge über die
Zeugnisverweigerungsgründe aufzuklären ist, ist sinngemäss auch bei
polizeilichen Einvernahmen zu beachten, und deren Missachtung führt
grundsätzlich zur Ungültigkeit bzw. Unverwertbarkeit der betreffenden
Aussagen. Möglichkeit der Beseitigung der Ungültigkeit dieser Aussagen.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 3. Strafkammer, vom 1. Juli 2002 in
Sachen Staatsanwaltschaft gegen S.B.
Aus den Erwägungen
2. c) Die Ehefrau des Angeklagten wurde ein erstes Mal am
21. Juli 2001 durch die Polizei befragt. Eine zweite Einvernahme
erfolgte vor Vorinstanz. Der Angeklagte stellt sich in seiner Berufung
u.a. auf den Standpunkt, dass seine Ehefrau anlässlich der Befragung
durch die Polizei nicht auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht aufmerk-
sam gemacht worden sei, weshalb deren damaligen Aussagen nicht
verwertbar seien.
aa) Gemäss § 100 Abs. 1 StPO ist der Zeuge über die Zeugnis-
pflicht und die Zeugnisverweigerungsgründe aufzuklären. Die vorge-
schriebene Belehrung ist Gültigkeitserfordernis, weshalb bei Unter-
lassung die betreffende Erklärung formell keine Zeugenaussage ist
(Beat Brühlmeier, Aargauische Strafprozessordnung, 2.A., Aarau
1980, N. 2 zu § 100 Abs. 1 StPO; Robert Hauser/Erhard Schweri,
Schweizerisches Strafprozessrecht, 4. A., Basel/Genf/München 1999,
N 9 zu § 60). Gestützt auf § 103 Abs. 1 StPO ist das Versäumte
nachzuholen und dem Zeugen Gelegenheit zur Verweigerung oder
Änderung der Aussage zu geben, wenn der einvernehmende Beamte
feststellt, dass der Zeuge über die Zeugnisverweigerungsgründe oder
2002
Obergericht/Handelsgericht
92
die Wahrheitspflicht nicht belehrt worden ist. Ist die Nachholung
nicht möglich oder ändert oder verweigert der Zeuge die Aussage, so
ist die ursprüngliche Aussage wie diejenige einer Auskunftsperson zu
behandeln (§ 103 Abs. 2 StPO).
Zwar kann nach der Aargauischen Strafprozessordnung eine
Person, der ein Zeugnisverweigerungsrecht zusteht, von der Polizei
als Auskunftsperson befragt werden, ohne dass sie darauf hingewie-
sen werden müsste, dass sie die Aussage verweigern könne, da ge-
mäss § 105 Abs. 2 StPO auf die Einvernahme von Auskunftsperso-
nen die Bestimmungen über die Vernehmung des Beschuldigten
sinngemäss anwendbar sind. Allerdings gehen Lehre und teilweise
auch die Praxis davon aus, dass die Bestimmung betreffend das
Zeugnisverweigerungsrecht - soll ihr Sinn und Zweck nicht ausge-
höhlt werden - sinngemäss auch bei polizeilichen Einvernahmen zu
beachten sei und deren Missachtung zur Ungültigkeit bzw. Unver-
wertbarkeit der betreffenden Aussagen führe. Immerhin könne ein
diesbezüglicher Mangel bzw. die Ungültigkeit der Aussagen dadurch
beseitigt werden, dass die betreffende Befragung unter Nachholung
des seinerzeit unterbliebenen Hinweises sowie unter der zusätzlichen
Bedingung, dass der Betroffene bei dieser Gelegenheit auf die Aus-
übung seines Aussageverweigerungsrechts verzichte, in ihrer Ge-
samtheit wiederholt werde. Verweigere oder ändere der Zeuge dabei
die Aussage, so sei das ursprüngliche Zeugnis insoweit als ungültig
zu behandeln (vgl. zum Ganzen ZR 96 [1997] Nr. 45, S. 120 ff. mit
Hinweisen).
bb) Der in den Akten vorhandene Polizeirapport enthält keine
Anhaltspunkte dafür, dass die Ehefrau des Angeklagten anlässlich
der polizeilichen Befragungen auf das Aussageverweigerungsrecht
hingewiesen worden wäre. Fest steht hingegen, dass sie anlässlich
der vorinstanzlichen Verhandlung unter Hinweis auf ihr Zeugnisver-
weigerungsrecht Aussagen gemacht hat, wobei die vor Vorinstanz
gemachten Angaben teilweise anders ausgefallen sind als jene, wel-
che sie noch vor der Polizei gemacht hat. Gestützt auf die oben dar-
gelegte Meinung der Lehre und teilweise auch der Praxis sind die
§§ 103 Abs. 2 und 105 Abs. 2 StPO auf den vorliegenden Fall nicht
anwendbar und ist nach Meinung des Obergerichts - soll Sinn und
2002
Strafprozessrecht
93
Zweck des Zeugnisverweigerungsrechts nicht umgangen werden -
von der Unverwertbarkeit der Aussagen der Ehefrau des Angeklagten
vor der Polizei auszugehen. Abzustellen ist demnach einzig auf ihre
vor Gericht gemachten Angaben. | 912 | 750 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2002-29_2002-07-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-29.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-29.pdf | AGVE_2002_29 | null | nan |
bdb67a4e-f3d8-5cd4-be03-3146a75f581d | 1 | 417 | 869,639 | 1,087,776,000,000 | 2,004 | de | 2004
Strafrecht
67
IV. Strafrecht
18
Art. 29 StGB; §§ 52 Abs. 2 Satz 2, 119 Abs. 3 und 181 Abs. 1 StPO.
1. Die Strafantragsfrist des Art. 29 StGB ist auch mit einer fristgemässen
Strafanzeige bei einer Strafverfolgungsbehörde wegen eines im Privat-
strafverfahren zu verfolgenden Antragsdelikts gewahrt.
2. Eine solche Strafanzeige kann mit ihrer vorgeschriebenen Erledigung
durch Nichteintretensverfügung nicht von Amtes wegen an den zur Ein-
leitung bzw. Durchführung des Strafverfahrens zuständigen Friedens-
richter oder Gerichtspräsidenten weitergeleitet werden.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, Beschwerdekammer in Strafsachen,
vom 21. Juni 2004 i.S. S. AG.
Aus den Erwägungen
3. Die Strafanzeige hat nur, soweit damit unlauterer Wettbewerb
(Art. 5/9 UWG) geltend gemacht und deswegen die Strafverfolgung
des Beschuldigten verlangt wurde, gestützt auf § 181 Abs. 1 Ziff. 6
StPO durch Nichteintretensverfügung erledigt werden müssen, wobei
allerdings mit dieser die Akten nicht dem Präsidenten des Bezirksge-
richts L. zur Abwandlung der Straftat der UWG-Verletzung im Pri-
vatstrafverfahren (§ 181 Abs. 1 Ziff. 6 StPO) hätten überwiesen
werden dürfen.
a) Die StPO sieht in § 52 Abs. 2 unter dem Titel "Fristen, a) Be-
rechnung ..." vor, dass eine Frist nur mit einer innerhalb derselben
vorgenommenen Handlung eingehalten (Satz 1), auch mit einer in-
nert Frist bei einer im ersten Teil dieses Gesetzes erwähnten nicht
zuständigen Behörde eingereichten Eingabe gewahrt (Satz 2) und
eine solche Eingabe unverzüglich an die zuständige Amtsstelle wei-
terzuleiten (Satz 3) ist. § 52 Abs. 2 Satz 2 StPO besagt, dass eine
2004
Obergericht/Handelsgericht
68
straf- oder strafverfahrensrechtliche Frist mit einer während ihrer
Dauer bei einer Behörde im Sinne der StPO eingereichten Eingabe
jedenfalls und ohne Rücksicht auf die Zuständigkeit der angeschrie-
benen Behörde gewahrt ist. Das gilt insbesondere auch für die Straf-
antragsfrist (Art. 29 StGB) in einem Fall wie dem vorliegenden, in
welchem wegen einer behaupteten, im Privatstrafverfahren (§ 181
Abs. 1 Ziff. 1 bis 9 StPO) zu verfolgenden Straftat der Verletzung des
UWG (Art. 5/9 UWG), anstatt ein solches eingeleitet (§ 184 StPO),
bei einer Strafverfolgungsbehörde Strafanzeige erstattet worden ist.
Eine solche Strafanzeige für ein im Privatstrafverfahren zu verfol-
gendes Delikt (§ 181 Abs. 1 Ziff. 1 bis 9 StPO) kann indessen nicht
in Anwendung des § 52 Abs. 2 Satz 2 StPO an die zuständige Amts-
stelle weitergeleitet werden.
b) Die Strafverfolgung wegen eines im Privatstrafverfahren ab-
zuwandelnden Delikts (§ 181 Abs. 1 Ziff. 1 bis 9 StPO), wie es hier
mit der Verletzung des UWG (Art. 5/9 UWG) geltend gemacht wird
(§ 181 Abs. 1 Ziff. 6 StPO), ist gestützt auf eine Privatstrafklage
(§ 184 StPO), allenfalls nach vorangegangenem Sühneversuch beim
Friedensrichter des Begehungsorts (§ 182 StPO), als Zweipartei-
enverfahren des Privatstrafklägers gegen den Beklagten (vgl.
§§ 184/185 StPO) durch den Gerichtspräsidenten des Begehungsorts
als Instruktionsrichter durchzuführen (§§ 186 ff. StPO) und durch
das Bezirksgericht zu erledigen (§§ 190 ff. StPO). Die bei einer
Strafverfolgungsbehörde des ersten Teils der StPO (§§ 1 bis 23
StPO) und damit auch bei einem Bezirksamt als Untersuchungsrich-
ter (§ 2 Abs. 1 und 2 StPO) eingereichte oder einem solchen zuge-
leitete Strafanzeige (vgl. § 52 Abs. 2 StPO) wegen einer solchen
Straftat ist weder ein Sühne- noch ein Privatstrafklagebegehren im
Sinne des § 182 bzw. 184 StPO und kann daher auch nicht als sol-
ches von Amtes wegen dem zuständigen Friedensrichter (§ 182
StPO) oder Gerichtspräsidenten (§ 184 StPO) des Begehungsorts
überwiesen werden, sondern ist als Strafanzeige, die im ordentlichen
Strafverfahren nicht verfolgt werden kann, ausschliesslich durch
beschwerdefähige Nichteintretensverfügung (§ 119 Abs. 3 und 4
i.V.m. § 213 Abs. 1 StPO) zu erledigen. | 969 | 773 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2004-18_2004-06-21 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2004-18.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2004-18.pdf | AGVE_2004_18 | null | nan |
be5dcdda-c027-42bd-b323-c33d630cc57e | 1 | 414 | 1,497,442 | 1,593,129,600,000 | 2,020 | de | Urteil/Entscheid
Handelsgericht
2. Kammer
HSU.2020.55
Entscheid vom 26. Juni 2020
Besetzung Oberrichter Vetter, Vizepräsident
Gerichtsschreiber Schneuwly
Gesuchstellerin K. GmbH, _
vertreten durch lic. iur. Ilhan Gönüler, Rechtsanwalt, Universitäts-
strasse 47, 8006 Zürich
Gesuchsgegne-
rin
I. AG., _
Gegenstand Summarisches Verfahren betreffend vorsorgliche (superprovisorische)
Verfügungsbeschränkung/Grundbuchsperre
- 2 -
Der Vizepräsident entnimmt den Akten:
1.
Die Gesuchstellerin ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit Sitz
in M. (AG). Sie bezweckt im Wesentlichen den Erwerb, die Veräusserung,
die Vermietung, die Verwaltung und die Überbauung von Grundstücken
und Liegenschaften sowie die Ausführung von Generalunternehmeraufträ-
gen (Gesuchsbeilage [GB] 2).
2.
Die Gesuchsgegnerin ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in S. (LU). Sie hat
insbesondere die Durchführung von Immobiliengeschäften aller Art im In-
und Ausland zum Zweck (GB 3).
3.
Mit Gesuch vom 25. Juni 2020 (persönlich überbracht) stellte die Gesuch-
stellerin folgende Rechtsbegehren:
" 1. Es sei das Grundbuchamt A., [...], Tel. [...], Fax [...] ("Grundbuchamt A."), i.S.v. Art. 262 lit. c ZPO provisorisch anzuweisen, keine oder verfügungsähnliche Vorgänge betreffend das Grundstück G., H. (Grundstück-Nr. 987; "Grundstück") zuzulassen, bzw. [es] sei dem Grundbuchamt A. i.S.v. Art. 262 lit. c ZPO provisorisch zu verbieten, Verfügungen oder verfügungsähnliche Vorgänge betreffend das Grundstück im Grundbuch vorzunehmen und/oder einzutragen ().
2. Es sei die Anordnung gemäss vorstehender Ziffer 1 vorsorglich als An-
merkung i.S.v. Art. 56 lit. b GBV in das Grundbuch einzutragen (; Verfügungssperre).
3. Es seien die Anordnungen gemäss den vorstehenden Ziffern 1 und 2 superprovisorisch, d.h. sofort und ohne Anhörung der , zu erlassen.
4. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen (zzgl. MWST) zu Lasten der Gesuchsgegnerin."
- 3 -
Der Vizepräsident zieht in Erwägung:
1. Zuständigkeit
Das Gericht prüft die Prozessvoraussetzungen von Amtes wegen (Art. 60
ZPO). Darunter fallen insbesondere die örtliche und die sachliche Zustän-
digkeit des angerufenen Gerichts (Art. 59 Abs. 2 lit. b ZPO).
1.1. Örtliche Zuständigkeit
Für den Erlass vorsorglicher Massnahmen ist das Gericht am Ort, an dem
die Zuständigkeit für die Hauptsache gegeben ist oder am Ort, wo die Mas-
snahme vollstreckt werden soll, zwingend örtlich zuständig (Art. 13 ZPO).
Dies gilt auch für den Erlass superprovisorischer Massnahmen.
Vorliegend beantragt die Gesuchstellerin, es sei das Grundbuch Wohlen
anzuweisen keine Verfügungen oder verfügungsähnliche Vorgänge betref-
fend das Grundstück G., H. vorzunehmen. Diese Massnahme wäre im Kan-
ton Aargau zu vollstrecken, weshalb die aargauischen Gerichte örtlich zu-
ständig sind.1
1.2. Sachliche Zuständigkeit
Die sachliche Zuständigkeit des Handelsgerichts für den Erlass vorsorgli-
cher Massnahmen ergibt sich aus Art. 6 Abs. 2 ZPO i.V.m. Art. 6 Abs. 5
ZPO i.V.m. § 12 Abs. 1 lit. a EG ZPO. Sie ist gegeben, da die geschäftli-
chen Tätigkeiten beider Parteien betroffen sind, der behauptete Streitwert
Fr. 2'196'566.73 beträgt (vgl. Gesuch Rz. 27), gegen den Entscheid die Be-
schwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht gemäss Art. 74 Abs. 2 lit. b
BGG im allfälligen Hauptsacheverfahren offen steht und beide Parteien im
schweizerischen Handelsregister eingetragen sind.
2. Voraussetzungen vorsorglicher Massnahmen
2.1. Allgemeine Voraussetzungen
Gemäss Art. 261 Abs. 1 ZPO trifft das Gericht die notwendigen vorsorgli-
chen Massnahmen, wenn die gesuchstellende Partei glaubhaft macht,
dass ein ihr zustehender Anspruch verletzt ist oder eine Verletzung zu be-
fürchten ist (lit. a) und ihr aus der Verletzung ein nicht leicht wieder gutzu-
machender Nachteil droht (lit. b). Art. 265 Abs. 1 ZPO sieht vor, dass bei
besonderer Dringlichkeit, insbesondere Vereitelungsgefahr, das Gericht
die vorsorgliche Massnahme sofort und ohne Anhörung der Gegenpartei
anordnen kann (sog. superprovisorische Massnahmen).
Voraussetzungen zum Erlass superprovisorischer Massnahmen sind folg-
lich a) die Verletzung oder Gefährdung eines materiellen Anspruchs (sog.
Hauptsachenprognose bzw. Verfügungsanspruch), b) der Umstand, dass
1 Vgl. auch SUTTER-SOMM/LÖTSCHER, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Hrsg.), Kommentar
zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, 3. Aufl. 2016, Art. 29 N. 30a f. m.w.N.
- 4 -
die drohende Verletzung des zu schützenden Rechts einen nicht leicht wie-
der gutzumachenden Nachteil zur Folge hat (sog. Nachteilsprognose bzw.
Verfügungsgrund) sowie c) eine qualifizierte zeitliche Dringlichkeit vorliegt.2
Schliesslich hat die anzuordnende vorsorgliche Massnahme verhältnis-
mässig zu sein.3
2.2. Glaubhaftmachung
Das Vorliegen der den Erlass vorsorglicher Massnahmen begründenden
Tatsachen muss der Gesuchsteller glaubhaft machen.4 Glaubhaft gemacht
ist eine Behauptung, wenn der Richter von ihrer Wahrheit nicht völlig über-
zeugt ist, sie aber überwiegend für wahr hält, obwohl nicht alle Zweifel be-
seitigt sind. Für das Vorhandensein der behaupteten Tatsachen müssen
folglich gewisse Elemente sprechen, auch wenn das Gericht noch mit der
Möglichkeit rechnet, dass diese sich nicht verwirklicht haben könnten.5
3. Hauptsachenprognose
Zu prüfen ist vorerst, ob eine positive Hauptsachenprognose vorliegt.
3.1. Behauptungen der Gesuchstellerin
Die Gesuchstellerin behauptet, sie habe einen Anspruch auf Übertragung
des Eigentums am Grundstück G., H.(Gesuch Rz. 33 ff.). Alternativ habe
sie Anspruch auf Schadenersatzzahlung bzw. aus ungerechtfertigter Berei-
cherung (Gesuch Rz. 37 ff.).
3.2. Rechtliches
Durch den Kaufvertrag verpflichten sich der Verkäufer, dem Käufer den
Kaufgegenstand zu übergeben und ihm das Eigentum daran zu verschaf-
fen, und der Käufer, dem Verkäufer den Kaufpreis zu bezahlen (Art. 184
Abs. 1 OR). Kaufverträge, die ein Grundstück zum Gegenstande haben,
bedürfen zu ihrer Gültigkeit der öffentlichen Beurkundung (Art. 216 Abs. 1
OR). Vorverträge sowie Verträge, die ein Vorkaufs-, Kaufs- oder Rück-
kaufsrecht an einem Grundstück begründen, bedürfen zu ihrer Gültigkeit
der öffentlichen Beurkundung (Art. 216 Abs. 2 OR).
3.3. Würdigung
Die Gesuchstellerin behauptet, mit der Gesuchsgegnerin am 31. Oktober
2018 einen formgültigen Kaufvertrag vereinbart zu haben (Gesuch Rz. 6).
2 Vgl. hierzu HUBER, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Fn. 1), Art. 261 N. 17 ff. und
Art. 265 N. 7 ff.; BSK ZPO-SPRECHER, 3. Aufl. 2017, Art. 261 N. 10 ff. und Art. 265 N. 6 ff.; ZÜRCHER in: Brunner/Gasser/Schwander (Hrsg.), Schweizerische Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2016, Art. 261 N. 5 ff.
3 HUBER (Fn. 2), Art. 261 N. 23; BSK ZPO-SPRECHER (Fn. 2), Art. 261 N. 10 ff.; ZÜRCHER (Fn. 2), Art. 261 N. 33 ff.
4 HUBER (Fn. 2), Art. 261 N. 25. 5 BGE 130 III 321 E. 3.3; BÜHLER, Beweismass und Beweiswürdigung bei Gerichtsgutachten, in: Fell-
mann/Weber (Hrsg.), Tagungsband HAVE, Der Haftpflichtprozess, Tücken der gerichtlichen , 2006, S. 43; HUBER (Fn. 2), Art. 261 N. 25.
- 5 -
Diese Behauptung macht sie allerdings nicht glaubhaft. Es wäre zu erwar-
ten gewesen, dass die Gesuchstellerin zumindest über eine Kopie der öf-
fentlichen Urkunde verfügt und diese dem Gericht vorweist. Da sie dies un-
terlässt, ist nicht glaubhaft, dass die Parteien am 31. Oktober 2018 tatsäch-
lich einen formgültigen Kaufvertrag abgeschlossen haben. Zudem bringt
die Gesuchstellerin einzig Vertragsentwürfe (GB 4-6) ins Verfahren ein und
legt nicht dar, wann und wie sich die Parteien geeinigt haben sollen.
Es ist demnach nicht glaubhaft gemacht worden, dass der Gesuchstellerin
ein Anspruch auf Übertragung des Eigentums am Grundstück G., H. (AG),
zusteht. Demnach fällt in diesem Umfang die Hauptsachenprognose nega-
tiv aus.
Ob die Hauptsachenprognose in Bezug auf die geltend gemachten Alter-
nativansprüche besteht, kann offengelassen werden, da die Nachteilsprog-
nose zu verneinen ist.
4. Nachteilsprognose
4.1. Behauptungen der Gesuchstellerin
Die Gesuchstellerin führt aus, es würde ihr verunmöglicht mit dem umstrit-
tenen Grundstück ein Gewinn von Fr. 2'196'566.73 zu erwirtschaften, da
zu befürchten ist, dass die Gesuchsgegnerin vertragsbrüchig wird (Gesuch
Rz. 27 f.). Falls die Gesuchsgegnerin das umstrittene Grundstück an eine
Drittpartei verkaufen könnte und würde, würde sich ein nicht wieder leicht
gutzumachender Nachteil realisieren, da die Gesuchsgegnerin der Ge-
suchstellerin das besagte Eigentum nicht mehr übertragen könnte (Gesuch
Rz. 29). Es wäre zu befürchten, dass die Gesuchsgegnerin den Verkaufs-
preis auf ein unbekanntes Drittkonto oder gar auf ein Konto im Ausland
abdisponieren würde und ein Vollzug der November-19-Vereinbarung zu-
mindest erheblich erschwert würde, weil sich S.S., Inhaber der Gesuchs-
gegnerin, in den Kosovo absetzen könnte. Die Einforderung von Geldbe-
trägen wäre zudem erheblich erschwert, weil bei der Gesuchsgegnerin
höchstwahrscheinlich gar kein Haftungssubstrat vorhanden wäre (Gesuch
Rz. 30).
4.2. Rechtliches
Neben der Hauptsachenprognose hat die Gesuchstellerin glaubhaft zu ma-
chen, dass ihr aus der Verletzung eines ihr zustehenden Anspruchs ein
nicht leicht wieder gutzumachender Nachteil droht (Art. 261 Abs. 1 lit. b
ZPO). Zu beantworten sind damit die beiden Fragen, ob Nachteile drohen,
wenn keine vorsorgliche Massnahmen angeordnet werden und, für den
Fall, dass keine vorsorglichen Massnahmen angeordnet werden und der
befürchtete Nachteil daher eintritt, ob dieser mit einem anschliessenden
- 6 -
Hauptsacheverfahren leicht wieder gutzumachen ist.6 Nachteile sind jegli-
che Beeinträchtigungen der gesuchstellenden Partei sowohl tatsächlicher
wie auch rechtlicher Art, materieller als auch immaterieller Natur.7 Auch
bloss faktische Erschwernisse genügen.8 Ferner kann auch die drohende
Zahlungsunfähigkeit eines Beklagten im Falle des Unterliegens im Prozess
gegebenenfalls ein solcher Nachteil sein.9 Ausreichend ist bereits die Ge-
fährdung oder Verzögerung der Vollstreckung eines in erster Linie auf Re-
alerfüllung gerichteten Anspruchs. Als Nachteil kommt insbesondere auch
eine Beeinträchtigung in der Ausübung absoluter Rechte in Betracht.10 Der
Nachteil muss ein zukünftiger sein. Bei bereits eingetretenen Nachteilen
können vorsorgliche Massnahmen nur dann Platz haben, wenn eine wei-
tere Benachteiligung droht.11
Weiter muss der Nachteil nicht leicht wieder gutzumachen sein. Dies ist
dann nicht der Fall, wenn das Hauptsachenurteil abgewartet werden kann
und dieses der gesuchstellenden Partei hinreichenden Rechtsschutz bie-
tet.12 Nachteile sind etwa dann nicht leicht wieder gutzumachen, wenn sie
später nicht mehr ermittelt, bemessen oder ersetzt werden können, etwa
weil sie durch Geldleistung nicht oder nur unvollständig aufgewogen wer-
den können, d.h. wenn ein rein ökonomischer Ausgleich keinen vollwerti-
gen Ersatz begründet.13 Rein finanzielle Nachteile sind hingegen regelmäs-
sig nicht schwer zu ersetzen.14 Bei rein finanziellen Nachteilen ist zusätzlich
vorausgesetzt, dass bei der Gegenpartei beispielsweise mangelnde Zah-
lungsfähigkeit zu befürchten respektive die Vollstreckung finanzieller An-
sprüche zweifelhaft wäre oder der Schaden später nur schwer nachgewie-
sen oder eingefordert werden könnte.15
6 BK ZPO II-GÜNGERICH, 2012, Art. 261 N. 30 ff. 7 HUBER (Fn. 2), Art. 261 N. 20 m.w.N.; BK ZPO II-GÜNGERICH (Fn. 6), Art. 261 N. 34; BSK ZPO-
SPRECHER (Fn. 2), Art. 261 N. 29; ZÜRCHER (Fn. 2), Art. 261 N. 25; STAEHELIN/STAEHELIN/ GROLIMUND, Zivilprozessrecht, 3. Aufl. 2019, § 22 N. 10.
8 BK ZPO II-GÜNGERICH (Fn. 6), Art. 261 N. 34. 9 HUBER (Fn. 2), Art. 261 N. 20 m.w.N.; BSK ZPO-SPRECHER (Fn. 2), Art. 261 N. 28b. 10 HUBER (Fn. 2), Art. 261 N. 20 m.w.N.; BSK ZPO-SPRECHER (Fn. 2), Art. 261 N. 28b. 11 HUBER (Fn. 2), Art. 261 N. 21; BK ZPO II-GÜNGERICH (Fn. 6), Art. 261 N. 35; BSK ZPO-SPRECHER
(Fn. 2), Art. 261 N. 28a; STAEHELIN/STAEHELIN/GROLIMUND (Fn. 7), § 22 N. 10. 12 BK ZPO II-GÜNGERICH (Fn. 6), Art. 261 N. 36. 13 HUBER (Fn. 2), Art. 261 N. 20 m.w.N.; BSK ZPO-SPRECHER (Fn. 2), Art. 261 N. 34; ZÜRCHER (Fn. 2),
Art. 261 N. 29; BAUDENBACHER/GLÖCKNER, in: Baudenbacher (Hrsg.), Lauterkeitsrecht, 2001, Art. 14 N. 22.
14 BGer 5P.104/2005 vom 18. Juli 2005 E. 1.2; so wohl auch: HUBER (Fn. 2), Art. 261 N. 20. 15 ZR 112/2013 Nr. 67 S. 243 E. 7; HGer ZH HE130180 vom 27. September 2013 E. 2.3.1 und 2.3.4;
vgl. auch BSK ZPO-SPRECHER (Fn. 2), Art. 261 N. 34; SHK ZPO-TREIS, 2010, Art. 261 N. 8; , Die Nachteilsprognose als Voraussetzung des vorsorglichen Rechtsschutzes, in: sic! 4/2000 S. 265-274, 270 f m.w.N.
- 7 -
4.3. Würdigung
Ein nicht leicht wieder gutzumachender Nachteil wäre zwar zu bejahen,
wenn die Gesuchsgegnerin das umstrittene Grundstück tatsächlich an ei-
nen Dritten verkaufen würde. Vorliegend ist jedoch nicht glaubhaft darge-
legt worden, dass solches droht. Es sind schlicht keine Anhaltspunkte vor-
gebracht worden, wonach glaubhaft erscheint, dass die Gesuchsgegnerin
das umstrittene Grundstück demnächst an einen Dritten verkaufen wird.
Die Gesuchstellerin mutmasst auch selbst bloss über was die Gesuchsgeg-
nerin alles tun könnte. Blosse Mutmassungen stellen jedoch keine rechts-
genüglichen Tatsachenbehauptungen dar.16 Diese genügen nicht, um dem
Gericht eine Tatsache glaubhaft zu machen.
Soweit die Gesuchstellerin ferner behauptet, der Nachteil liege auch darin,
dass sie – wohl anstelle des fraglichen Grundstücks – auch den Gewinn
von Fr. 2'196'566.73 nicht mehr werde herausverlangen können, weil bei
der Gesuchsgegnerin höchstwahrscheinlich kein Haftungssubstrat mehr
vorhanden wäre, kann ihr ebenfalls nicht gefolgt werden: Es genügt auch
im vorsorglichen Massnahmeverfahren nicht, blosse Hypothesen und Mut-
massungen anzustellen. Weshalb die Gesuchsgegnerin über kein Haf-
tungssubstrat mehr verfügen sollte, bleibt völlig unklar. Auch die Behaup-
tung, S.S. könnte sich in den Kosovo absetzen oder den vereinnahmten
Kaufpreis auf ein unbekanntes Konto überweisen bleiben unbelegt und
wurden nicht glaubhaft dargelegt. Es ist daher nicht ersichtlich, weshalb der
hypothetische Nachteil, die Fr. 2'196'566.73 nicht vereinnahmen zu kön-
nen, nicht leicht in einem Hauptsacheverfahren wieder gutzumachen wäre.
5.Fazit
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Voraussetzungen für den Erlass
einer vorsorglichen Massnahme gestützt auf den behaupteten Sachverhalt
nicht erfüllt sind.
6. Zustellung
Die Zustellung des Gesuchs erfolgt ausschliesslich an die
Gesuchsgegnerin selber, weil dem Handelsgericht keine Vollmacht eines
allfälligen Rechtsvertreters der Gesuchsgegnerin vorliegt.
7. Prozesskosten
Die Prozesskosten, bestehend aus den Gerichtskosten und der Parteient-
schädigung, werden der unterliegenden Partei auferlegt (Art. 95 Abs. 1 und
Art. 106 Abs. 1 ZPO). Da das Gesuch abgewiesen wird, unterliegt die Ge-
suchstellerin vollumfänglich.
16 BGer 4A_667/2014 vom 12. März 2015 E. 3.2.2.
- 8 -
7.1. Gerichtskosten
Unter Berücksichtigung des verursachten Aufwands sowie des Umfangs
der Streitigkeit werden die Gerichtskosten auf Fr. 2'500.00 festgesetzt (§ 8
VKD, SAR 221.150). Die Gesuchstellerin hat diese mit dem beiliegenden
Einzahlungsschein zu bezahlen.
7.2. Parteientschädigung
Der Gesuchsgegnerin ist mit vorliegendem Gesuch kein Aufwand entstan-
den. Ihr ist daher keine Parteientschädigung zuzusprechen.
Der Vizepräsident erkennt:
1.
Das Gesuch vom 25. Juni 2020 wird abgewiesen.
2.
2.1.
Die Gerichtskosten im Umfang von Fr. 2'500.00 werden der Gesuchstelle-
rin auferlegt.
2.2.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
Zustellung an:
die Gesuchstellerin (Vertreter; zweifach)
die Gesuchsgegnerin (mit Doppel des Gesuchs vom 25. Juni 2020
[inkl. Beilagen])
Mitteilung an:
die Obergerichtskasse
Rechtsmittelbelehrung für die Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 ff.,
Art 90 ff. BGG)
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen, von der schriftlichen Eröff-
nung der vollständigen Ausfertigung des Entscheids an gerechnet, die Be-
schwerde an das Schweizerische Bundesgericht erhoben werden.
Die Beschwerde ist schriftlich oder in elektronischer Form beim Schweize-
rischen Bundesgericht einzureichen. Die Beschwerdeschrift ist in einer
- 9 -
Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit An-
gabe der Beweismittel und die Unterschriften bzw. eine anerkannte elekt-
ronische Signatur zu enthalten. In der Begründung ist in gedrängter Form
darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid verfassungsmässige
Rechte (Art. 98 ff. BGG) verletzt. Die Urkunden, auf die sich die Partei als
Beweismittel beruft, sind beizulegen, soweit die Partei sie in den Händen
hat; ebenso ist der angefochtene Entscheid beizulegen (Art. 42 BGG).
Aarau, 26. Juni 2020
Handelsgericht des Kantons Aargau
2. Kammer
Der Vizepräsident: Der Gerichtsschreiber:
Vetter Schneuwly | 4,500 | 3,262 | AG_HG_002 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_002_-Handelsrecht-Zivilp_2020-06-26 | https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/gesetze___entscheide/gesetze_2/handelsrecht/Entscheid_des_Handelsgerichts_vom_26._Juni_2020_pdf.pdf | null | nan |
||
bf95789c-7f82-51ce-b7f8-db3b169d1cdf | 1 | 417 | 869,791 | 1,037,577,600,000 | 2,002 | de | 2002
Zivilprozessrecht
75
[...]
23
Streitwert im Arbeitsgerichtsverfahren
Massgebend für den Streitwert im Arbeitsgerichtsverfahren ist der einge-
klagte Betrag, unabhängig davon, ob es sich um den Brutto- oder Netto-
lohn handelt.
Aus dem Entscheid der Inspektionskommission vom 18. November 2002
i.S. S. S. gegen Arbeitsgericht des Bezirks Muri
Aus den Erwägungen
2. a) Das Bundesrecht sieht in Art. 343 Abs. 2 und 3 OR vor,
dass die Kantone das Arbeitsgerichtsverfahren bis zu einem Streit-
wert von Fr. 30'000.-- als einfaches und rasches Verfahren auszuge-
stalten haben, in welchem keine Gerichtskosten auferlegt werden
dürfen, unter Vorbehalt mutwilliger Prozessführung. Bei der Streit-
wertberechnung nicht zu berücksichtigen ist ein allfälliges Widerkla-
gebegehren. Bezüglich der Parteikosten enthält das Bundesrecht
keine Regelung.
b) § 369 ZPO übernimmt die Regelung gemäss Art. 343 Abs. 2
OR und hält fest, dass bis zu einem Streitwert von Fr. 20'000.-- (der
Betrag im OR wurde per 1. Juni 2001 auf Fr. 30'000.-- erhöht) keine
Gerichtskosten erhoben werden. Über die bundesrechtliche Regelung
hinaus wird ausserdem festgehalten, dass bis zum Betrag von
Fr. 20'000.-- auch keine Parteikosten ersetzt werden. Dieser Betrag
gilt bezüglich der Parteikosten - trotz Änderung des Bundesrechts -
weiterhin, da das Bundesrecht diesbezüglich, wie bereits erwähnt,
keine Regelung enthält.
2002
Obergericht/Handelsgericht
76
c) Für die Berechnung des massgeblichen Streitwertes ist
grundsätzlich kantonales Recht massgebend, mit Ausnahme der im
Bundesrecht vorgesehenen Nichtberücksichtigung von Widerklage-
begehren (Art. 343 Abs. 2 a.E. OR; A. Bühler / A. Edelmann / A.
Killer, Kommentar zur aargauischen ZPO, Aarau 1998, § 369 N 1;
a.M. Zürcher Kommentar, Der Arbeitsvertrag [Art. 319 - 362 OR],
3. A., Zürich 1996, Art. 343 N 22 [vollumfänglich nach unge-
schriebenem Bundesrecht]). Abzustützen ist demnach auf die §§ 16 -
23 ZPO. Sowohl § 16 ZPO wie auch Art. 343 Abs. 2 OR verweisen
für den Streitwert auf die "angehobene Klage" bzw. die "eingeklagte
Forderung". Gemäss Lehre ist dabei vom eingeklagten Bruttolohn,
also ohne Abzug der Arbeitnehmerbeiträge auszugehen. Allerdings
hielt Rehbinder fest, der Bruttolohn sei mit dem Hinweis zuzuspre-
chen, dass sich dieser Betrag reduziere, soweit der Arbeitgeber nach-
weise, dass und in welchem Umfang er Sozialabzüge an die zu-
ständigen Instanzen abgeführt habe (M. Rehbinder, Berner Kom-
mentar, Der Arbeitsvertrag [Art. 331-355 OR], Bern 1992, Art. 343
N 13 a.E.; ebenso U. Streiff / A. von Kaenel, Arbeitsvertrag, 5. A.,
Zürich 1992, Art. 343 N 6 a.E.; Zürcher Kommentar, a.a.O., Art. 343
N 22).
Weiter ist zu beachten, dass das Aargauische Obergericht in ei-
nem im Vergleich zu den erwähnten Kommentaren neueren Ent-
scheid von 1999 zum Schluss kam, die Pflicht des Arbeitgebers, die
Arbeitnehmerbeiträge an die Sozialwerke weiterzuleiten, bestehe ge-
genüber den Sozialwerken. Nicht der Arbeitnehmer sei Gläubiger,
sondern die Sozialwerke. Demzufolge könne dem Arbeitnehmer im
Urteil nur der Nettolohn zugesprochen werden (AGVE 1999 S. 40).
Das Bundesgericht hat sich, soweit ersichtlich, zu dieser Frage bis
jetzt noch nie geäussert.
Es ist somit in Fällen, in welchen der Bruttolohn eingeklagt
wurde, von diesem eingeklagten Bruttolohn als Streitwert auszuge-
hen. An diesem Grundsatz ändert der Entscheid des Aargauischen
Obergerichts nichts, denn auch in anderen Fällen mit Überklagung,
sei dies nun mangels Aktivlegitimation oder mangels materieller Be-
gründung des Anspruchs, ist immer der eingeklagte Betrag für die
Streitwertberechnung massgebend.
2002
Zivilprozessrecht
77
Das im Vergleich zur einschlägigen Literatur zeitlich jüngere
aargauische Urteil muss jedoch konsequenterweise zur Folge haben,
dass sich der Streitwert nach dem eingeklagten Nettolohn bemisst,
wenn nur dieser eingeklagt wurde. Massgebend ist immer der einge-
klagte Betrag, erst recht, wenn die Sozialabzüge, welche ohnehin
nicht zugesprochen werden können, nicht eingeklagt wurden.
(...)
3. a) Der Beschwerdeführer reichte am 16. November 2001
beim Arbeitsgericht Muri Klage ein. Es ging dabei grundsätzlich um
seinen Lohn für die Zeit von Juli bzw. September 2001 bis Januar
2002. Er beschränkte aber seine Klage ausdrücklich auf den Septem-
ber-Lohn. Bei einem Bruttomonatseinkommen von Fr. 30'769.-- er-
rechnete er einen Netto-Lohnanspruch von zwischen Fr. 26'153.--
und Fr. 28'753.--, welchen er im Klagebegehren geltend machte, zu-
züglich Verzugszinsen. Von diesen Zahlen ist für die Berechnung des
Streitwertes auszugehen, wobei gemäss § 18 Abs. 2 ZPO die Ver-
zugszinsen als Nebenforderung bei der Bestimmung des Streitwertes
nicht in Betracht fallen. | 1,146 | 904 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2002-23_2002-11-18 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-23.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-23.pdf | AGVE_2002_23 | null | nan |
bfae3ff7-2369-57ae-90d3-530a81198f12 | 1 | 417 | 871,970 | 957,398,400,000 | 2,000 | de | 2000
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
41
II. Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
6
Art. 56, 63 und 174 SchKG.
Die Mitteilung des Konkursentscheids ist nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichts keine Betreibungshandlung und hat ohne Rücksicht auf
die Betreibungsferien (Art. 56 SchKG) zu erfolgen. Die Betreibungsferien
sind deshalb für die Berechnung der Weiterziehungsfrist gemäss Art. 174
SchKG ohne Bedeutung.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 4. Zivilkammer, vom 4. Mai 2000 in
Sachen A. Kranken- und Unfallversicherung gegen P. S.
Aus den Erwägungen
1. Gemäss Art. 174 Abs. 1 SchKG kann der Entscheid des Kon-
kursgerichts innert zehn Tagen nach seiner Eröffnung an das obere
Gericht weitergezogen werden. Der Konkursentscheid der Gerichts-
präsidentin 4 des Bezirksgerichts B. vom 6. April 2000 wurde dem
Beklagten am 11. April 2000 zugestellt und damit eröffnet. Die zehn-
tägige Weiterziehungsfrist gemäss Art. 174 Abs. 1 SchKG begann so-
mit am 12. April 2000 zu laufen (Art. 31 Abs. 1 SchKG) und endete
infolge der gesetzlichen Osterfeiertage am 25. April 2000 (Art. 31
Abs. 3 SchKG). Die Mitteilung des Konkursentscheids ist keine Be-
treibungshandlung und hat ohne Rücksicht auf die Betreibungsferien
zu erfolgen (BGE 120 Ib 250; Bauer, Kommentar zum Bundesgesetz
über Schuldbetreibung und Konkurs, Basel/Genf/München 1998,
N. 40 zu Art. 56 SchKG). Die Betreibungsferien sind deshalb entge-
gen den Ausführungen in der Weiterziehung für die Berechnung der
Weiterziehungsfrist ohne Bedeutung. Die Weiterziehung vom
26. April 2000 erweist sich demnach als verspätet, weshalb darauf
nicht einzutreten ist. | 384 | 306 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2000-6_2000-05-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-6.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-6.pdf | AGVE_2000_6 | null | nan |
c045fada-9fd7-53d4-8254-cc711a80fbde | 1 | 417 | 870,552 | 981,158,400,000 | 2,001 | de | 2001
Zivilrecht
39
D. Das Grundbuch
5
Art. 950 und Art. 9 ZGB, § 19 GVD; Amtliche Vermessung
Gegenstand und Verfahren der amtlichen Vermessung (Erw. 1 und 3b)
Wesen und Inhalt der zivilrechtlichen Klage nach § 19 GVD; Passivlegi-
timation (Erw. 2a und 3b)
Allfällige Fehler des Geometers oder der Vermessungskommission bilden
im zivilrechtlichen Verfahren lediglich Vorfrage, können aber je nach
Ausgang eine Berichtigung des Vermessungswerkes oder des Grundbuch-
eintrages erfordern (Erw. 3b)
Die rechtskräftige Vermessung erbringt für die durch sie bezeugten Tat-
sachen nur solange vollen Beweis, als nicht die Unrichtigkeit ihres Inhal-
tes nachgewiesen ist. Dem Grundeigentümer ist es unbenommen, vor dem
Zivilrichter vorbehältlich des Schutzes des gutgläubigen Erwerbers das
Eigentum bis zu der von ihm als richtig nachgewiesenen Grenze zu er-
streiten. Ein Stillschweigen im Vermessungsverfahren kann ihm nicht
entgegengehalten werden (Erw. 3c).
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 3. Zivilkammer, vom 26. Februar
2001 i.S. E.S. gegen Einwohnergemeinde X.
Aus den Erwägungen
1. a) Gemäss Art. 950 ZGB erfolgt die Aufnahme und Be-
schreibung der einzelnen Grundstücke im Grundbuch auf Grund
eines Planes, der in der Regel auf einer amtlichen Vermessung beruht
(Abs. 1). Der Bundesrat bestimmt, nach welchen Grundsätzen die
Pläne anzulegen sind (Abs. 2). Gestützt auf diese Bestimmung hat
der Bundesrat in der Verordnung über die amtliche Vermessung vom
18. November 1992 (VAV) Grundsätze über den Inhalt der Vermes-
sung, die Vermarkung sowie die Ersterhebung, Erneuerung und
Nachführung der Vermessung erlassen; der Erlass weiterer Ausfüh-
2001
Obergericht/Handelsgericht
40
rungsvorschriften wurde den Kantonen übertragen (vgl. z.B. Art. 12
und 28 Abs. 3 VAV).
b) Die amtliche Vermessung gliedert sich in die Vermarkung
und die eigentliche Vermessung. Die Vermarkung umfasst die Grenz-
feststellung und das Anbringen von Grenzzeichen (Art. 11 VAV). Sie
wird gemäss § 11 des kantonalen Dekretes über die Grundbuchver-
messung vom 5. März 1915 (GVD) unter Aufsicht des Geometers
und unter Mitwirkung der Vermessungskommission vorgenommen
(Abs. 1). Den Grundeigentümern wird anschliessend eine allgemeine
Einspruchsfrist von 30 Tagen eröffnet (Abs. 3). Soweit die Vermar-
kung nicht innert der Einspruchsfrist durch Klage beim zuständigen
Richter angefochten wird, gilt sie als anerkannt und rechtskräftig
(Abs. 4). Der Vermarkung folgt die Parzellarvermessung (§ 15
GVD). Die vom kantonalen Vermessungsamt verifizierten Vermes-
sungswerke sind während einer peremtorischen Frist von 30 Tagen
zur Geltendmachung allfälliger Einsprachen öffentlich aufzulegen
(Art. 28 Abs. 1 VAV; § 17 Abs. 1 GVD). Einsprachen sind dem Ge-
meinderat einzureichen, der eine mündliche Verhandlung durchführt
(§ 18 GVD). Kann keine Einigung erzielt werden, hat der Einspre-
cher binnen 30 Tagen seine Begehren durch Klage beim zuständigen
Zivilrichter geltend zu machen (§ 19 Abs. 2 GVD). Nach Durchfüh-
rung der gemeinderätlichen Vermittlungsverhandlung genehmigt das
Departement des Innern, - unter Vorbehalt der bestrittenen und ge-
richtlich zu erledigenden Fälle - das Vermessungswerk (§ 22 GVD).
2. a) Mit Einsprache gegen die Parzellarvermessung hatte der
Kläger die Rückversetzung des Grenzmarksteins von seiner Parzelle
4624 um 10 cm zur Nachbarparzelle 4625 (neu 6289) hin verlangt.
Nach erfolglos verlaufener Vermittlungsverhandlung vor dem Ge-
meinderat X. machte er das gleichlautende Begehren mit Zivilklage
beim Bezirksgericht Y. anhängig. Dieses Begehren zielt auf eine
Verschiebung der durch den streitigen Grenzstein ausgewiesenen
Grundstücksgrenze in Richtung der Nachbarparzellen 4625/6289 ab,
was bei Gutheissung eine Verkleinerung der letzteren respektive eine
Vergrösserung der klägerischen Parzelle 4624 zur Folge hätte.
Die im Vermessungswerk dargestellten Eigentumsgrenzen ent-
falten - im Gegensatz zu Angaben rein tatsächlicher Natur, wie z.B.
2001
Zivilrecht
41
über die Art der Bodennutzung oder die Lage von Bauten etc. -
Rechtswirkungen für Dritte. Dem Interesse des Klägers an der Be-
richtigung des angeblich fehlerhaft ausgewiesenen Grenzverlaufes
steht somit das Interesse desjenigen gegenüber, der durch diese Kor-
rektur in seiner Rechtsstellung verschlechtert werden könnte. Die
Behebung solcher Fehler mit Rechtswirkungen für Dritte darf des-
halb von den Vermessungsorganen nur mit Zustimmung der durch
das betreffende Recht berührten Personen oder - falls deren Einwilli-
gung nicht vorliegt - aufgrund eines gegen diese gerichteten Urteiles
vorgenommen werden. Die zivilrechtliche Klage hat sich daher nicht
gegen das kommunale Vermessungsorgan, d.h. vorliegend gegen die
Einwohnergemeinde X., sondern gegen die betroffenen Eigentümer
der anderen Grundstücke und die daran dinglich Berechtigten zu
richten (RBOG 1983 Nr. 16; Friedrich, Fehler in der Grundbuchver-
messung, ihre Folgen und ihre Behebung, in ZBGR 1977 S. 131 ff.,
insb. S. 149 ff.; Homberger, Zürcher Kommentar, 1938, N 5 zu
Art. 950 ZGB).
(...)
3. a) Der vorinstanzliche Richter hat die Klage abgewiesen,
weil der streitige Grenzmarkstein in den Jahren 1995 und 1996 ver-
markt worden sei, ohne dass der Kläger damals Einsprache erhoben
habe. Das Vermessungswerk stütze sich auf diese rechtskräftige
Vermarkung und sei daher bezüglich der Lage des Marksteins nicht
mehr anfechtbar. Der Kläger bestreitet in der Appellation, dass eine
Vermarkung des fraglichen Grenzzeichens mit öffentlicher Auflage
und Eröffnung der Einsprachefrist erfolgt sei; das Vermarkungsver-
fahren sei entweder überhaupt nicht oder rechtsfehlerhaft durchge-
führt worden.
b) Einsprachen gegen das Vermessungswerk werden in einem
Verwaltungsverfahren beurteilt; Gegenstand dieses Verfahrens bildet
nicht die Eigentumsfeststellung, sondern die richtige Übernahme der
Vermarkung in das Vermessungswerk (Schmid, Basler Kommentar,
1998, N 20 zu Art. 950). So können unrichtige Eintragungen in den
aufgelegten Plänen und Akten gerügt werden (§ 19 GVD), nament-
lich eine unzutreffende Flächenermittlung oder eine planerisch fal-
sche, d.h. nicht mit der rechtsverbindlichen Vermarkung überein-
2001
Obergericht/Handelsgericht
42
stimmende Aufnahme des Grenzverlaufs; hingegen kann in diesem
Verfahren kein Begehren um Änderung einer längst rechtsverbind-
lich gewordenen Grenzvermarkung gestellt werden (AGVE 1999
S. 32).
(...)
Der Einsprecher, über dessen Einsprache gegen das Vermes-
sungswerk keine gütliche Einigung erzielt wird, kann gemäss § 19
GVD einzig Klage beim Zivilrichter erheben, da der Kanton Aargau
den in Art. 28 Abs. 3 lit. e VAV vorgeschriebenen Beschwerdeweg
gegen Einspracheentscheide im Auflageverfahren eines Vermes-
sungswerkes bis anhin nicht geschaffen hat. Dabei richtet sich die
Klage nicht gegen die Vermessungsorgane, sondern gegen die durch
die anbegehrten Änderungen in ihren dinglichen Rechten betroffenen
Dritten (Erw. 2a hievor). Je nach gestelltem Begehren handelt es sich
dabei um eine Grenzscheidungsklage (zur Feststellung einer - z.B.
infolge von Bodenverschiebungen oder mangelhafter Grundbuchun-
terlagen - ungewiss gewordenen Grenze), um eine Eigentumsklage
(zur Erlangung des Eigentums am strittigen Grenzstreifen; Art. 641
ZGB), um eine Grundbuchberichtigungsklage (zur Korrektur eines
bereits erfolgten falschen Grundbucheintrages; Art. 975 ZGB) oder
um eine Kombination dieser Klagen (zum Ganzen: Rey, Grundlagen
des Sachenrechts und das Eigentum, Bd. I, 2. A., Bern 2000,
S. 489 ff; Tschümperlin, Grenze und Grenzstreitigkeiten im Sachen-
recht, Diss. Freiburg 1984, S. 161 ff., 173 ff.). Allfällige Fehler des
Geometers oder der Vermessungskommission bilden in diesen zi-
vilrechtlichen Verfahren lediglich Vorfrage, können aber je nach
Ausgang eine Berichtigung des Vermessungswerkes oder des Grund-
bucheintrages erfordern (vgl. § 21 Abs. 3 GVD).
(...)
c) Der rechtskräftigen Vermessung kommt die Beweiskraft öf-
fentlicher Urkunden i.S.v. Art. 9 ZGB zu (Art. 29 Abs. 2 VAV). Ge-
mäss Art. 668 ZGB werden die Grenzen durch die Grundbuchpläne
und durch die Abgrenzungen auf dem Grundstücke selbst angegeben
(Abs. 1), wobei die Richtigkeit der Grundbuchpläne vermutet wird,
wenn sich diese und die Abgrenzungen widersprechen (Abs. 2; Rey,
Basler Kommentar, 1998, N 1 ff. zu Art. 668; Haab, Zürcher Kom-
2001
Zivilrecht
43
mentar, 1977, N 7 zu Art. 668/669). Die grössere Glaubwürdigkeit
des Grundbuchplanes ist deshalb gerechtfertigt, weil Grenzzeichen
leicht verschoben werden können, während die unberechtigte Ände-
rung des Planes erschwert ist (Rey, a.a.O., N 10 zu Art. 668). Öffent-
liche Urkunden erbringen aber gemäss Art. 9 ZGB für die durch sie
bezeugten Tatsachen nur solange vollen Beweis, als nicht die Un-
richtigkeit ihres Inhaltes nachgewiesen ist (Abs. 1); dieser Nachweis
ist an keine besondere Form gebunden (Abs. 2). Dem Grundeigen-
tümer ist es daher unbenommen, vor dem Zivilrichter vorbehältlich
des Schutzes des gutgläubigen Erwerbers (Art. 973 ZGB) das Ei-
gentum bis zu der von ihm als richtig nachgewiesenen Grenze zu
erstreiten; insbesondere kann ihm ein allfälliges Stillschweigen im
Vermessungsverfahren nicht entgegengehalten werden, denn nach
der im Bundesrecht abschliessend geregelten Ordnung des Erwerbs
von Grundeigentum gibt es keine Eigentumsübertragung von einem
Nachbarn auf den anderen durch Unterlassen einer Einsprache bei
der (fehlerhaften) Grundbuchvermessung (ZGBR 1991 S. 263 ff.,
PKG 1981 S. 59 ff.; Schmid, a.a.O., N 28 zu Art. 951 ZGB; Huser,
Schweizerisches Vermessungsrecht, Diss. Freiburg 1994, S. 96; teil-
weise abweichend: AGVE 1999 S. 32). Dem Kläger kann daher mit
dem Hinweis auf eine rechtskräftige Vermarkung nicht verwehrt
werden, im zivilrechtlichen Verfahren gegen seinen Nachbarn einen
davon abweichenden Grenzverlauf nachzuweisen, es sei denn jener
habe sein Eigentum in gutgläubigem Vertrauen auf die Richtigkeit
des Grundbucheintrages erworben. | 2,378 | 1,846 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2001-5_2001-02-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-5.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-5.pdf | AGVE_2001_5 | null | nan |
c05301aa-c8cd-5ed8-a46b-ccff1076e2a1 | 1 | 417 | 871,749 | 1,186,185,600,000 | 2,007 | de | 2007
Obergericht/Handelsgericht
34
[...]
5
§ 321 Abs. 1 ZPO, Art. 84 Abs. 2 SchKG. Novenrecht im Rechtsöffnungs-
verfahren.
Auch im summarischen Rechtsöffnungsverfahren kann vom Gläubiger
nicht verlangt werden, zu Einwendungen des Schuldners, mit welchen er
nicht rechnen konnte bzw. musste, bereits im Rechtsöffnungsbegehren
Stellung zu nehmen, und es ist ihm daher im Beschwerdeverfahren Gele-
genheit dazu zu geben, sofern er dies nicht schon mit Replik im
erstinstanzlichen Verfahren tun konnte.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 4. Zivilkammer, vom 21. August 2007
in Sachen S.H.-H. gegen G.J.H.-H.
Aus den Erwägungen
1.1 Gemäss Art. 84 Abs. 2 SchKG gibt der Richter des Betrei-
bungsorts, welcher über Gesuche um Rechtsöffnung entscheidet,
dem Betriebenen sofort nach Eingang des Gesuchs Gelegenheit zur
mündlichen oder schriftlichen Stellungnahme und eröffnet danach
innert fünf Tagen seinen Entscheid. Die Parteien haben deshalb ihre
Behauptungen und Beweismittel mit dem Rechtsöffnungsbegehren
bzw. der Stellungnahme vorzubringen und sind damit im Beschwer-
deverfahren ausgeschlossen, sofern sie nicht darlegen, dass sie diese
2007
Zivilprozessrecht
35
im erstinstanzlichen Verfahren nicht mehr vorbringen konnten (§ 321
Abs. 1 ZPO).
1.2 Die Klägerin stellte in ihrer Beschwerde verschiedene neue
Behauptungen auf und legte neue Beweismittel ins Recht. Der Be-
klagte nahm zu diesen neuen Behauptungen der Klägerin in seiner
Beschwerdeantwort Stellung, doch kann bei ihm als juristischem
Laien nicht von einem konkludenten Einverständnis, auf die Einhal-
tung des Novenverbots zu verzichten, ausgegangen werden (Ent-
scheid der 4. Zivilkammer vom 27. April 1999 [ZSU.1999.129]
Erw. 2c). Umgekehrt kann von der Klägerin nicht verlangt werden,
Einwendungen des Beklagten, mit welchen sie nicht rechnen konnte
oder musste, bereits in ihrer Rechtsöffnungsklage zu widerlegen.
Soweit sie Kenntnis hatte von dem, was der Beklagte gegen ihr
Rechtsöffnungsbegehren vorbrachte (Anrechnung von Steuerschul-
den, Nebenkosten und eines Kontos auf den Namen von R.), äusserte
sie sich in der Klageschrift. Hingegen konnte und musste sie die
weiteren Einwendungen des Beklagten (Anrechnung der Direktzah-
lungen der IV und der Banküberweisung vom 27. Dezember 2006)
nicht voraussehen und dazu bereits im Rechtsöffnungsbegehren vor
Vorinstanz Stellung nehmen. Sie ist daher mit diesen neuen Be-
hauptungen und Beweismitteln zuzulassen. | 555 | 439 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2007-5_2007-08-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2007-5.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2007-5.pdf | AGVE_2007_5 | null | nan |
c1484165-6a33-558d-9307-7f0d4b19c2be | 1 | 417 | 871,594 | 935,107,200,000 | 1,999 | de | 2000
Obergericht
78
[...]
23
§ 58 Abs. 1 lit. a StPO. Amtliche Verteidigung.
Voraussetzung der in dieser Bestimmung zwingend vorgeschriebenen
amtlichen Verteidigung ist ein dem Beschuldigten zur Last gelegter ge-
setzlicher Straftatbestand, in dessen Strafandrohung ausdrücklich eine
Mindeststrafe von sechs Monaten Gefängnis oder ausschliesslich eine
Zuchthausstrafe vorgesehen ist.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, Beschwerdekammer in Strafsachen,
vom 20. August 1999 i.S. M.P.L.
Sachverhalt
Der Beschwerdeführer ist in einem vor Obergericht hängigen
Strafverfahren wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit einem
Kind, mehrfacher Schändung u.a.m. amtlich verteidigt. In einem
gegen ihn später wegen Verdachts des betrügerischen Bezugs von
Sozialhilfeleistungen (Art. 146 StGB) angehobenen Strafverfahren,
in welchem die Staatsanwaltschaft beim Bezirksgericht B. Anklage
mit dem Antrag auf Ausfällung einer unbedingten Zusatzstrafe von
zwei Monaten Gefängnis und Fr. 300.-- Busse erhob, hat das Be-
zirksamt B. sein Begehren um Bestellung eines amtlichen Verteidi-
gers in der Person seines Anwalts mit Verfügung vom 21. Juni 1999
abgewiesen. Das Obergericht, Beschwerdekammer in Strafsachen,
wies die dagegen eingelegte Beschwerde mit Entscheid vom
20. August 1999 ab.
2000
Strafprozessrecht
79
Aus den Erwägungen
1. Entgegen der Begründung zur Beschwerde sind die Voraus-
setzungen für die amtliche Verteidigung gemäss § 58 StPO im vor-
liegenden Fall nicht erfüllt, da die Mindeststrafdrohung gemäss
Art. 146 StGB Gefängnis beträgt und eine Zuchthausstrafe nur alter-
nativ in Betracht fällt. Die in der Begründung zur Beschwerde vor-
genommene Auslegung von § 58 StPO geht fehl, da die abschlies-
send aufgezählten Anspruchsvoraussetzungen zur Bestellung eines
amtlichen Verteidigers gestützt auf die Strafandrohung zu dem Be-
schuldigten zur Last gelegten Tatbestand gemäss Buchstabe a nur so
verstanden werden kann, dass es sich dabei um die Mindeststrafdro-
hung oder die einzige überhaupt in Betracht fallende Strafart zum
jeweiligen Tatbestand handeln muss. Ansonsten bestünde etwa bei
jedem einfachen Ladendiebstahl oder bei anderen offensichtlichen
Bagatelldelikten, namentlich bei solchen gegen das Vermögen wie
etwa der Veruntreuung, der Hehlerei oder der unrechtmässigen Ent-
ziehung von Energie mit alternativer Strafandrohung von Zuchthaus
in jedem Fall Anspruch auf amtliche Verteidigung, was dem Willen
des Gesetzgebers offensichtlich widerspricht. Dass die vom Be-
schwerdeführer vorgenommene Auslegung zu unvernünftigen Er-
gebnissen führen müsste, erhellt gerade aus dem vorliegenden Fall
mit einem Strafantrag von zwei Monaten Gefängnis, welcher bei
gesetzlicher Mindeststrafandrohung von drei Tagen Gefängnis
(Art. 146 Abs. 1 i.V.m. Art. 36 StGB) die Mindeststrafdrohung
gemäss § 58 lit. a StPO bei Weitem unterschreitet. Der gesetzgeberi-
sche Wille, wie er sich aus dem Wortlaut von § 58 lit. a StPO ergibt,
besteht gerade darin, die Anspruchsvoraussetzungen für die Bewilli-
gung einer amtlichen Verteidigung auf gravierende Tatvorwürfe zu
beschränken und Bagatelldelikte davon auszunehmen.
2. (Prüfung und Verneinung der Anspruchsvoraussetzungen
nach Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 1 Bst. c EMRK) | 706 | 560 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2000-23_1999-08-20 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-23.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-23.pdf | AGVE_2000_23 | null | nan |
c2955c10-d445-41e9-a6f6-c0f9c3011c21 | 1 | 414 | 1,497,359 | 1,557,187,200,000 | 2,019 | de | Handelsgericht
2. Kammer
HOR.2018.13 / as / as
Art. 80
Urteil vom 7. Mai 2019
Besetzung Oberrichter Vetter, Vizepräsident
Ersatzrichterin Fischer
Handelsrichter Amacher
Handelsrichterin Baumann
Handelsrichter Bäumlin
Gerichtsschreiber Schneuwly
Rechtspraktikant Humbel
Klägerin und
Widerbeklagte
J. AG, _
vertreten durch Dr. iur. Michael Hunziker und MLaw Rebecca Wyniger,
Rechtsanwälte, Hintere Bahnhofstrasse 6, Postfach, 5001 Aarau
Beklagte und
Widerklägerin
S. AG, _
vertreten durch lic. iur. Stephan Stulz, Rechtsanwalt, Hahnrainweg 4,
Postfach, 5400 Baden
Gegenstand Ordentliches Verfahren betreffend Forderung
- 2 -
Das Handelsgericht entnimmt den Akten:
1.
Die Klägerin und Widerbeklagte (Klägerin) ist eine Aktiengesellschaft mit
Sitz in Zug. Sie bezweckt hauptsächlich die Erbringung von Speditions-
dienstleistungen (Klagebeilage [KB] 28).
2.
Die Beklagte und Widerklägerin (Beklagte) ist eine Aktiengesellschaft mit
Sitz in S. Ihr Zweck besteht hauptsächlich in der Herstellung von, dem
Handel mit und dem Vertrieb von Haushaltgeräten, chemischen und tech-
nischen Erzeugnissen [...] in der Schweiz (KB 27).
3.
Die Beklagte verkauft CO2 in Gaszylindern [...]. Die Klägerin erbrachte
zeitweise für die Beklagte Speditionsleistungen. Sie war dabei mit der
Auslieferung der Gaszylinder der Beklagten an deren Kunden beauftragt.
Die Kunden sollten die leeren Gaszylinder (Leergut) jeweils wieder zum
Rücktransport bereitstellen, da nicht der Gaszylinder an sich, sondern
dessen Inhalt (CO2) von der Beklagten an deren Kunden verkauft wurde
(Klage, Ziff. 3; Klageantwort, Rz. 11 ff.; Replik, Ziff. 4.8). Der Rücktrans-
port des Leerguts sollte ebenfalls durch die Klägerin erfolgen. Diese liess
die Transportleistung grösstenteils durch die S. T. AG ausführen (Replik,
Ziff. 4.8; Widerklageduplik, Rz. 7).
4.
Die Beklagte hat diverse Rechnungen für Transportleistungen der Kläge-
rin nicht beglichen, weshalb diese die Beklagte betreiben liess. Der Zah-
lungsbefehl des Betreibungsamts S. vom 24. April 2017 in der Betreibung
Nr. _ wurde der Beklagten am 28. April 2017 zugestellt. Gleichen-
tags erhob die Beklagte Rechtsvorschlag (nicht nummerierte Klagebeila-
ge: Zahlungsbefehl).
5.
5.1.
Mit Klage vom 28. März 2018 (Postaufgabe: 5. April 2018) stellte die Klä-
gerin folgende Rechtsbegehren:
" 1. Die beklagte Partei wird verurteilt der klagenden Partei
€ 36.200,99 samt 14,4% Zinsen seit 30.06.2016 aus € 34.809,50
samt 14.4% Zinsen seit 9.3.2017 aus € 674,64
samt 14.4% Zinsen seit 7.4.2017 aus € 716,85;
zu bezahlen.
- 3 -
2. Der Rechtsvorschlag in der Betreibung Nr. _ des S. ist aufzuheben.
3. Dies alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Partei."
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, es handle sich um
Ansprüche aufgrund erbrachter Speditionsleistungen.
5.2.
Nach Ausübung der richterlichen Fragepflicht teilte die Klägerin mit Ein-
gabe vom 16. April 2018 mit, im Rechtsbegehren sei versehentlich das
Währungskennzeichen € (Euro) angeführt worden, tatsächlich handle es
sich jedoch um Schweizer Franken, was sich auch aus den sonstigen
Vorbringen in der Klage ergebe.
6.
Mit Klageantwort und Widerklage (Klageantwort oder Widerklage) vom
29. Juni 2018 stellte die Beklagte die folgenden Rechtsbegehren:
" 1. Es sei auf die Klage nicht einzutreten und die Klage sei unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Klägerin abzuweisen.
Über diesen Antrag sei im Sinne eine[s] prozessleitenden Entscheides vorab zu befinden.
2. Eventualiter, nämlich falls Antrag 1 nicht gutgeheissen wird, so sei die Klage, soweit darauf eingetreten werden kann, unter Kosten- und zu Lasten der Klägerin abzuweisen.
3. Es sei die Kläger[in] im Sinne einer Widerklage zur Zahlung von nachfolgenden Teilforderungen zu verpflichten:
CHF 9'513,25 mit Verzugszins von 5% seit dem 31.12.2013
CHF 15'192,00 mit Verzugszins von 5% seit dem 31.12.2014
CHF 13'594,00 mit Verzugszins von 5% seit dem 31.12.2015
CHF 10'641,00 mit Verzugszins von 5% seit dem 31.12.2016
4. D[ie] Beklagte sei zur Zahlung einer praxisgemässen zu verpflichten.
5. Die Beklagte behält sich ausdrücklich vor, die Anträge nach Vorliegen des Beweisergebnisses zu modifizieren[.]
- 4 -
6. Ansonsten alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zuzüglich Mehrwertsteuer zulasten de[r] Beklagten."
Zur Begründung wurde hauptsächlich ausgeführt, der klägerische
Rechtsanwalt sei nicht zur Rechtsvertretung zugelassen und die Beklagte
habe Anspruch auf eine Entschädigung aus Warenverlust, der von der
Klägerin zu verantworten sei.
7.
Mit Replik und Widerklageantwort (Replik oder Widerklageantwort) vom
10. September 2018 stellte die Klägerin die folgenden Rechtsbegehren:
" 1. Es sei auf die Widerklage nicht einzutreten und diese unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Widerklägerin abzuweisen.
Über diesen Antrag sei im Sinne eines prozessleitenden Bescheides vorab zu befinden.
2. Eventualiter, nämlich falls der Antrag zu 1. nicht gutgeheißen werden sollte, so sei die Widerklage, soweit darauf eingetreten werden kann, unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Widerklägerin abzuweisen.
3. Es sei die Beklagte im Sinne der Klage zu verurteilen (verpflichten) der Klägerin mindestens CHF 36.200,99 samt 14,4 % Verzugszinsen seit 30.6.2016 aus CHF 34.809,50, samt 14,4 % Zinsen seit 9.3.2017 aus CHF 674,64 und samt 14,4 % Zinsen seit 7.4.2017 aus CHF 716,85 zu bezahlen.
4. Der Rechtsvorschlag in der Betreibung Nr. 40170431 des S. sei aufzuheben.
5. Die Beklagte sei zur Zahlung einer praxisgemäßen zu verpflichten.
6. Die Klägerin behält sich ausdrücklich vor, die Anträge nach Vorliegen der Beweisergebnisse zu modifizieren.
7. Dies alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zuzüglich zu Lasten der Beklagten."
Zur Begründung hält die Klägerin an ihren Ausführungen in der Klage
fest. Sie bestreitet zudem sowohl den beklagtischen Einwand gegen die
Vertretungsbefugnis von Dr. Wolfgang Zarl als auch die geltend gemach-
ten Forderungen. Die diesbezüglichen Vorbringen der Beklagten seien
- 5 -
nicht substantiiert, nicht schlüssig und unvollständig. Zudem seien die wi-
derklageweise geltend gemachten Ansprüche verwirkt und verjährt.
8.
Die Beklagte erstattete am 6. November 2018 ihre Duplik und Widerkla-
gereplik (Duplik oder Widerklagereplik) mit folgenden Rechtsbegehren:
" 1. An den gestellten Anträgen wird festgehalten.
2. Die Klägerin sei - zusätzlich - zu eine[m] vom Gericht festzulegenden Schadenersatz von mindestens CHF 11'750.-- an die Beklagte zu , mit einem mittleren Verzugszinsdatum 1.1.2014 zu 5% (, Image- und Kundenverlust, etc.).
3. D[ie] Beklagte sei zur Zahlung einer praxisgemässen zu verpflichten.
4. Die Beklagte behält sich ausdrücklich vor, die Anträge nach Vorliegen des Beweisergebnisses zu modifizieren[.]
5. Ansonsten alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zuzüglich Mehrwertsteuer zulasten des Beklagten."
Zur Begründung hält die Beklagte an ihren Ausführungen in der Kla-
geantwort fest und macht zudem Schadenersatz wegen Image- und Kun-
denverluste bzw. Zusatzaufwänden geltend.
9.
Mit Widerklageduplik vom 14. Dezember 2018 stellte die Klägerin folgen-
de Rechtsbegehren:
" 1. Die Beklagte/Widerklägerin sei zu verurteilen, der Klägerin CHF 36'200.99 zuzüglich 14.4 % Zins seit dem 30. Juni 2016 auf CHF 34'809.50, 14.4 % Zins seit dem 9. März 2017 auf CHF 674.64 und 14.4 % Zins seit dem 7. April 2017 auf CHF 716.85, zu bezahlen.
2. Der Rechtsvorschlag in der Betreibung Nr. 40170431 des S. sei im Umfang des gemäss Antrag Nr. 1 zugesprochenen aufzuheben.
3. Die Widerklage sei vollumfänglich abzuweisen.
- 6 -
4. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der /Widerklägerin."
Zudem stellte die Klägerin folgenden Verfahrensantrag:
" Die S. T. AG, Industriestrasse 38, 4415 Lausen, wird im Sinne der ein-
fachen Streitverkündung gemäss Art. 78 ZPO aufgefordert, die Klägerin und Widerbeklagte im vorliegenden Verfahren zu unterstützen. Das Gericht habe diese Erklärung der Streitberufenen mitzuteilen und sie über ihre Rechte und Pflichten zu orientieren."
Zur Begründung hielt die Klägerin im Wesentlichen an ihren Ausführun-
gen in der Klage und Replik fest. Zum Verfahrensantrag führt die Klägerin
aus, sie werde im Falle eines Unterliegens einen Anspruch gegen die S.
T. AG geltend machen, da diese die Transportleistungen für die Klägerin
erbracht habe.
10.
Mit Eingabe vom 8. November zeigte Dr. iur. Michael Hunziker an, dass er
das Mandat von Dr. Wolfgang Zarl übernommen habe.
11.
11.1.
Mit Verfügung vom 17. Dezember 2018 teilte der Vizepräsident der S. T.
AG die Streitverkündung der Klägerin mit und setzte ihr Frist bis zum
16. Januar 2019, um sich zur Streitverkündung zu erklären.
11.2.
Mit Verfügung vom 21. Januar 2019 informierte der Vizepräsident die Par-
teien, dass sich die streitberufene S. T. AG nicht vernehmen liess und der
Prozess ohne Rücksicht auf diese fortgesetzt werde.
12.
12.1.
Am 31. Januar 2019 verfügte der Vizepräsident:
" Die Parteien haben dem Handelsgericht bis 13. Februar 2019 mitzuteilen, ob sie a) an der Durchführung einer interessiert sind sowie b) falls keine durchgeführt wird, auf eine Hauptverhandlung verzichten (Art. 233 ZPO) bzw. die Einreichung schriftlicher Schlussvorträge (Art. 232 Abs. 2 ZPO).
Stillschweigen innert Frist gilt als Antrag auf Durchführung einer Haupt-verhandlung."
12.2.
Mit Eingabe vom 6. Februar 2019 teilte die Beklagte mit, sie sei an einer
Vergleichsverhandlung interessiert. Sollte sich kein Vergleich finden las-
- 7 -
sen, so halte sie an der Durchführung einer ordentlichen Hauptverhand-
lung fest.
12.3.
Mit Eingabe vom 11. Februar 2019 verzichtete die Klägerin sowohl auf die
Durchführung einer Vermittlungs- als auch einer Hauptverhandlung.
13.
13.1.
Mit Verfügung vom 12. Februar 2019 ordnete der Vizepräsident die
Durchführung einer Hauptverhandlung an.
13.2.
Mit Verfügung vom 19. Februar 2019 wurde die Streitsache ans Handels-
gericht überwiesen und die Zusammensetzung des Gerichts bekannt ge-
geben.
13.3.
Am 27 Februar 2019 lud der Vizepräsident die Parteien zur Hauptver-
handlung vor und erliess die Beweisverfügung.
14.
Am 7. Mai 2019 fand die Hauptverhandlung statt. Anlässlich dieser wies
sich MLaw Rebecca Wyniger mit einer gültigen Substitutionsvollmacht als
Rechtsvertreterin der Klägerin aus.
Die Parteien hielten ihre Schlussvorträge und konnten sich dabei je zwei
Mal äussern.
15.
Daraufhin zog sich das Handelsgericht zur Beratung zurück und fällte das
Urteil.
Das Handelsgericht zieht in Erwägung:
1. Zuständigkeit
Das Gericht prüft die Prozessvoraussetzungen von Amtes wegen (Art. 60
ZPO). Darunter fallen insbesondere die örtliche und die sachliche Zustän-
digkeit des angerufenen Gerichts (Art. 59 Abs. 2 lit. b ZPO).
1.1. Örtliche Zuständigkeit
Die Beklagte lässt sich auf die Klage und die Klägerin auf die Widerklage
i.S.v. Art. 18 ZPO ein, weshalb die aargauischen Gerichte örtlich zustän-
dig sind.
- 8 -
1.2. Sachliche Zuständigkeit
Die sachliche Zuständigkeit des Handelsgerichts ergibt sich sowohl für die
Klage als auch die Widerklage aus Art. 6 Abs. 2 ZPO, da die geschäftliche
Tätigkeit beider Parteien betroffen ist, der Streitwert je über Fr. 30'000.00
liegt und die Prozessparteien im Handelsregister eingetragen sind.
2. Formelles
2.1. Vertretung der Klägerin
2.1.1. Parteibehauptungen
Die Beklagte führt aus, die Vertretung der Klägerin durch Dr. Wolfgang
Zarl sei unzulässig, da sie nicht mit den Bestimmungen des Anwaltsge-
setzes (BGFA) vereinbar sei. Auf die Klage sei demnach nicht einzutreten
(Klageantwort, Rz. 4). Die Klägerin bestreitet dies (Replik, Rz. 3.1 ff.).
2.1.2. Rechtliches
Angehörige von EU- oder EFTA-Mitgliedstaaten, die berechtigt sind, den
Anwaltsberuf in ihrem Herkunftsstaat auszuüben, sind im Rahmen des
freien Dienstleistungsverkehrs berechtigt, in der Schweiz Parteien vor den
Gerichtsbehörden zu vertreten (Art. 21 Abs. 1 BGFA i.V.m. Art. 5 Abs. 1
FZA). Dienstleistungserbringende Anwälte haben unter ihrer ursprüngli-
chen Berufsbezeichnung in der Amtssprache ihres Herkunftsstaates auf-
zutreten (Art. 24 BGFA). Eine Eintragung bei einer kantonalen Aufsichts-
behörde über die Anwältinnen und Anwälte ist nur bei ständiger Vertre-
tung vorausgesetzt (Art. 27 Abs. 1 BGFA). Ob die Anwaltstätigkeit "stän-
dig" i.S.v. Art. 27-29 BGFA oder lediglich vorübergehend im Rahmen des
Dienstleistungsverkehrs (Art. 21-26 BGFA) und damit ohne Eintragung
sowie ohne Aufenthaltserlaubnis ausgeübt werden kann, ist nach ihrer
Häufigkeit und Dauer zu beurteilen.1 Die Ausübung im Rahmen des
Dienstleistungsverkehrs zeichnet sich dadurch aus, dass sie nur punktuell
und vorübergehend erfolgt.2
2.1.3. Würdigung
Dr. Wolfgang Zarl ist als Rechtsanwalt in der Liste der Rechtsanwälte der
Salzburger Rechtsanwaltskammer eingetragen (KB 31). Er tritt, wie im
Anhang zum BGFA für Österreich vorgesehen, unter der Berufsbezeich-
nung "Rechtsanwalt" auf. Mit Eingaben vom 16. und 18. April 2018 erklär-
te Dr. Wolfang Zarl, er vertrete die Klägerin bereits seit Jahren. Seine an-
waltliche Tätigkeit übe er fast ausschliesslich in Österreich aus und er
werde in der Schweiz nur tageweise forensisch tätig, jedenfalls weniger
als 90 Tag pro Jahr (Eingabe vom 16. April 2018, Ziff. 2). Dass Dr. Wolf-
gang Zarl in der Schweiz noch anderweitig anwaltlich tätig ist, ist dem
Handelsgericht weder bekannt noch wird dies von der Beklagten vorge-
bracht. Zudem sind weder Anstalten von Dr. Wolfgang Zarl ersichtlich, die
1 BGer 2A.536/2003 vom 9. August 2004 E. 3.2.1 f. m.w.N. 2 DREYER, in: Fellmann/Zindel (Hrsg.), Kommentar zum Anwaltsgesetz, 2. Aufl. 2011, Art. 21 N. 5.
- 9 -
auf die Ausübung einer ständigen gerichtlichen Vertretung i.S.v. Art. 27-
29 BGFA hinweisen würden (Büroeinrichtung, ständige Adresse in der
Schweiz, etc.) noch wurden entsprechende Behauptungen von der Be-
klagten vorgebracht. Demnach liegt betreffend Dr. Wolfgang Zarl keine
ständige Vertretung i.S.v. Art. 27-29 BGFA vor. Da die ZPO keinen An-
waltszwang kennt,3 kommt Art. 23 BGFA, entgegen der Ansicht der Be-
klagten, vorliegend nicht zur Anwendung.
Die von Dr. Wolfgang Zarl vorgenommenen Verfahrenshandlungen sind
damit nicht zu beanstanden.
2.2. Formelle Anforderung an die Klageschrift
2.2.1. Parteibehauptungen
Die Beklagte behauptet, die Klage enthalte keine Tatsachenbehauptun-
gen, kein Beweismittelverzeichnis und keine genauen Verweise auf die
eingereichten Beilagen. Auf die Klage sei demnach nicht einzutreten (Kla-
geantwort, Rz. 4 f.).
2.2.2. Rechtliches
Nach Art. 221 Abs. 1 ZPO hat eine Klage die Bezeichnung der Parteien
und deren allfällige Vertreter, das Rechtsbegehren, die Angabe des
Streitwerts, die Tatsachenbehauptungen, die Bezeichnung der einzelne
Beweismittel zu den behaupteten Tatsachen, das Datum und die Unter-
schrift zu enthalten. Als Beilagen sind zudem a) bei einer Vertretung die
Vollmacht, b) die verfügbaren Urkunden, die als Beweismittel dienen sol-
len, und c) ein Verzeichnis der Beweismittel einzureichen (Art. 221 Abs. 2
ZPO). Bei Einreichung einer mangelhaften Klage kann der Klägerin eine
Nachfrist zur Verbesserung angesetzt werden, innert der die Mängel zu
beheben sind. Bei Säumnis gilt die Eingabe als nicht erfolgt (Art. 132
Abs. 1 ZPO).
Betreffend die Anforderung an die Behauptungs- und Substantiierungslast
und die Frage der Beweismittelverbindung wird auf die Ausführungen un-
ten in E. 3 verwiesen. Ein nicht schlüssiger oder nicht substantiierter Tat-
sachenvortrag führt zur Abweisung der Klage und nicht zu einem Nicht-
eintreten.
2.2.3. Würdigung
Die Klage vom 28. März 2018 enthält sämtliche in Art. 221 ZPO geforder-
ten Elemente. Zwar fehlte anfänglich ein Beweismittelverzeichnis. Dieses
wurde jedoch mit Eingabe vom 16. April 2018 nachgereicht. Was die Tat-
sachenbehauptungen angeht, so sind diese zwar äusserst kurz gehalten,
doch beziehen sie sich auf die mit den Rechtsbegehren geltend gemach-
ten Forderungen.
3 BK ZPO I-STERCHI, 2012, Art. 68 N. 8.
- 10 -
Die Klage erfüllt demnach die formellen Anforderungen.
2.3. Zulässigkeit der Widerklage
Die Widerklage der Beklagten ist zulässig, da sie in der gleichen Verfah-
rensart wie die Hauptklage zu beurteilen ist (ordentliches Verfahren;
Art. 224 Abs. 1 ZPO) und die Beurteilung der Widerklage angesichts des
Streitwertes von Fr. 60'690.25 (Klageantwort, Rechtsbegehren Ziff. 3),
des Eintrags der Klägerin im Handelsregister (KB 28) sowie der Betrof-
fenheit deren geschäftlichen Tätigkeit in die sachliche Zuständigkeit des
Handelsgerichts fällt.4
2.4. Zulässigkeit der Klageänderung
2.4.1. Rechtliches
Eine Klageänderung ist nach Art. 227 Abs. 1 ZPO zulässig, sofern der
geänderte oder neue Anspruch nach der gleichen Verfahrensart zu beur-
teilen ist und a) mit dem bisherigen Anspruch in einem sachlichen Zu-
sammenhang (sog. Konnexität) steht oder b) die Gegenpartei zustimmt.
Zur Beurteilung des für die anwendbare Verfahrensart relevanten Streit-
werts wird bei der Klageänderung auf den Gesamtstreitwert abgestellt,
wie er sich nach der Erhöhung des Streitwerts ergibt.5 Der sachliche Zu-
sammenhang eines geänderten Rechtsbegehrens ist dann gegeben,
wenn die beiden prozessualen Ansprüche dem gleichen oder benachbar-
ten Lebensvorgang entstammen. Zu fragen ist, a) ob die prozessualen
Ansprüche dem gleichen (identischen) Lebensvorgang entstammen, b) ob
sie aus verschiedenen, aber immerhin gleichartigen (konnexen) Klage-
gründen hergeleitet werden oder c) ob bloss eine enge rechtliche Bezie-
hung zwischen den Parteien besteht, ohne dass sich die Ansprüche im
ursprünglichen eingeklagten Sachverhalt berühren, wobei im letzten Fall
der sachliche Zusammenhang zu verneinen wäre.6
Wird die Klageänderung erst nach Aktenschluss vorgenommen, so muss
sie zudem auf neuen Tatsachen oder Beweismitteln beruhen (Art. 230
Abs. 1 lit. b ZPO).
2.4.2. Würdigung
2.4.2.1. Änderung in der Widerklagereplik
Die Beklagte erweitert in der Widerklagereplik ihr in der Widerklage ge-
stelltes Rechtsbegehren dahingehend, dass die Klägerin zusätzlich zu ei-
nem "Schadenersatz von mindestens CHF 11'750.-- an die Beklagte [...],
mit einem mittleren Verzugszinsdatum 1.1.2014 zu 5 % [...]" zu verpflich-
ten sei. Auch dieser Schadenersatzanspruch wäre unter Berücksichtigung
4 Vgl. VETTER, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen
Zivilprozessordnung (ZPO), 3. Aufl. 2016, Art. 6 N. 40 m.w.N. 5 BSK ZPO-WILLISEGGER, 3. Aufl. 2017, Art. 227 N. 38. 6 BSK ZPO-WILLISEGGER (Fn. 5), Art. 227 N. 29 ff.
- 11 -
des Gesamtstreitwertes im ordentlichen Verfahren zu behandeln. Sowohl
der widerklageweise geltend gemachte Anspruch (Klageantwort, Rechts-
begehren Ziff. 3) als auch die geänderten Widerklageansprüche (Duplik,
Rechtsbegehren Ziff. 2) sind auf die Speditionsleistungen der Klägerin zu-
rückzuführen (Klageantwort, Rz. 27; Duplik, Rz. 36). Damit ist auch der
erforderliche sachliche Zusammenhang gegeben.
Die Änderung der Widerklage ist demnach zulässig.
2.4.2.2. Änderungen anlässlich der Hauptverhandlung
Die Beklagte ändert in ihrem ersten Parteivortrag anlässlich der Haupt-
verhandlung ihre in der Klageantwort und Widerklage gestellten Rechts-
begehren Ziff. 2 und 3 wie folgt: "Ziffer 2: Klageabweisung aufgrund von
Verrechnung basierend auf den widerklageweise beantragten Teilforde-
rungen und der eventualiter erhobenen Verrechnu[n]gsforderung von
mindestens 11'750.-- gemäss Ziffer 2 der Klageduplik/Widerklagereplik."
und "Ziffer 3:Gutheissung der Widerklage soweit diese nicht bereits auf-
grund der Verrechnung gemäss Ziff. 2 berücksichtigt/getilgt worden sind
(Eventualbegehren)." (Plädoyernotizen S. 1 f. [Bestandteil des Protokolls
der Hauptverhandlung vom 7. Mai 2019]).
Zwar liegt auch hier der erforderliche sachliche Zusammenhang vor
(Art. 230 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 227 Abs. 1 lit. a ZPO). Die Beklagte führt
allerdings nirgends aus und es ist auch nicht ersichtlich, gestützt auf wel-
che neuen Tatsachen oder Beweismittel diese Klageänderungen fussen.
Entsprechend sind die Anforderungen an eine Klageänderung nach Ak-
tenschluss nicht erfüllt (Art. 230 Abs. 1 lit. b ZPO).
Die anlässlich der Hauptverhandlung vorgebrachten Klageänderungen
sind demnach unzulässig.
2.5. Auslegung der beklagtischen Rechtsbegehren
Soweit die Beklagte anlässlich der Hauptverhandlung Hinweise zur Aus-
legung ihrer Rechtsbegehren Ziff. 4 der Klageantwort und Ziff. 3 der Kla-
geduplik betreffend die Parteientschädigung gibt (Plädoyernotizen S. 2
[Bestandteil des Protokolls der Hauptverhandlung vom 7. Mai 2019]), ist
hiergegen nichts einzuwenden. Da es sich in beiden Fällen um offensicht-
lich irrtümliche Bezeichnungen handelt, sind diese Rechtsbegehren nach
Treu und Glauben so auszulegen, dass die Parteientschädigung zuguns-
ten der Beklagten und Widerklägerin und zulasten der Klägerin und Wi-
derbeklagten auszusprechen wären.
2.6. Noven anlässlich der Hauptverhandlung
Die Beklagte reicht in ihrem ersten Parteivortrag anlässlich der Hauptver-
handlung drei neue Dokumente ein (aktualisierte Fehlliste per 07.05.2019,
Aufnahme einer Verpackungseinheit zum (bildlichen) Verständnis des
- 12 -
Geschäftsprozesses und Auszug der "J. " Website – Standorte) (Protokoll
der Hauptverhandlung vom 7. Mai 2019, S. 3).
Es wird weder behauptet, dass die eingereichten Fotographien und der
Auszug der klägerischen Website erst nach Abschluss des Schriften-
wechsels entstanden sind noch weshalb es der Beklagten trotz zumutba-
rer Sorgfalt nicht möglich gewesen sein soll, diese vor Aktenschluss vor-
zubringen. Diese Noven sind daher nicht zulässig. Dasselbe gilt für die
neu vorgetragenen Tatsachenbehauptungen, soweit diese nicht bereits in
den Rechtsschriften enthalten waren. Die aktualisierte "Fehlliste" ist so-
dann für den Ausgang des vorliegenden Verfahrens alleine schon deshalb
irrelevant, weil sie sich auf eine vorliegend nicht relevante Zeitperiode be-
zieht. Die Frage, ob sie in zulässiger Weise vorgebracht wurde, braucht
daher nicht beantwortet zu werden.
3. Verhandlungsmaxime
Vorliegend gilt die Verhandlungsmaxime (Art. 55 Abs. 1 ZPO). Auf die
sich daraus ergebenden Obliegenheiten der Parteien ist vorab einzuge-
hen:
3.1. Behauptungslast
Gemäss Art. 55 Abs. 1 ZPO haben die Parteien dem Gericht die Tatsa-
chen, auf die sie ihre Begehren stützen, darzulegen und die Beweismittel
anzugeben. Den Prozessparteien obliegt die Behauptungslast.7 Die Auf-
teilung der Behauptungslast zwischen den Parteien folgt der Beweislast-
verteilung nach Art. 8 ZGB.8 Somit trägt die Behauptungslast für rechtser-
zeugende Tatsachen, wer ein Recht oder Rechtsverhältnis behauptet; für
rechtsaufhebende Tatsachen, wer die Aufhebung oder den Untergang ei-
nes Rechts behauptet (z.B. Verwirkung, Erlass etc.) und für rechtshin-
dernde Tatsachen, wer sich darauf beruft (z.B. Verjährung, Stundung
etc.).9 Dementsprechend hat das Bestehen einer vertraglichen Verpflich-
tung zu behaupten, wer einen vertraglichen Anspruch erhebt.10
Eine Tatsachenbehauptung hat nicht alle Einzelheiten zu enthalten; es
genügt, wenn die Tatsachen, die unter die das Begehren stützenden
rechtlichen Normen zu subsumieren sind, in einer den Gewohnheiten des
Lebens entsprechenden Weise in ihren wesentlichen Zügen oder Umris-
sen behauptet werden.11 Was offensichtlich in anderen, ausdrücklich vor-
gebrachten Parteibehauptungen enthalten ist, muss nicht explizit behaup-
7 Vgl. BGer 4A_264/2015 vom 10. August 2015 E. 4.2.2, 4A_210/2009 vom 7. April 2010 E. 3.2. 8 BGE 132 III 186 E. 4. 9 Vgl. SUTTER-SOMM/SCHRANK, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Fn. 4), Art. 55 N. 18. 10 BGE 128 III 271 E. 2.a.aa. 11 BGer 4A_443/2017 vom 30. April 2018 E. 2.1, 4A_195/2014 und 4A_197/2014 vom 27. November
2014 E. 7.3.2 m.w.N. (nicht publ. in BGE 140 III 602).
- 13 -
tet werden (sog. implizite bzw. mitbehauptete Tatsachen).12 Blosse Mut-
massungen stellen jedoch keine rechtsgenüglichen Tatsachenbehaup-
tungen dar.13 Ist ein Tatsachenvortrag im erwähnten Sinne vollständig, so
wird er als schlüssig bezeichnet, da er bei Unterstellung, er sei wahr, den
Schluss auf die anbegehrte Rechtsfolge zulässt.14
Tatsachenbehauptungen sind grundsätzlich in den Rechtsschriften aufzu-
stellen (Art. 221 Abs. 1 lit. d und Art. 222 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Der bloss
pauschale Verweis auf Beilagen genügt in aller Regel nicht.15 Durch einen
Verweis auf Urkunden können Sachverhaltselemente jedoch ausnahms-
weise als behauptet gelten, wenn es überspitzt formalistisch wäre, eine
Übernahme des Urkundeninhalts in die Rechtsschrift zu verlangen. Das
ist jedoch nicht bereits dann der Fall, wenn die verlangten Informationen
in einer Beilage in irgendeiner Form vorhanden sind. Weil ein Verweis auf
Akten nicht dazu führen darf, dass die Gegenpartei und das Gericht die
relevanten Tatsachen aus der Beilage selbst zusammensuchen müssen,
muss auf die fragliche Information bzw. Tatsache problemlos zugegriffen
werden können und es darf kein Interpretationsspielraum bestehen.16 Der
entsprechende Verweis in der Rechtsschrift muss spezifisch ein bestimm-
tes Aktenstück nennen und aus dem Verweis muss selbst klar werden,
welche Teile des Aktenstücks als Parteibehauptung gelten sollen.17 Ein
problemloser Zugriff ist gewährleistet, wenn eine Beilage selbsterklärend
ist und genau die verlangten (bzw. in der Rechtsschrift bezeichneten) In-
formationen enthält. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, kann ein
Verweis nur genügen, wenn die Beilage in der Rechtsschrift derart kon-
kretisiert und erläutert wird, dass die Informationen ohne weiteres zugäng-
lich werden und nicht interpretiert und zusammengesucht werden müs-
sen.18 Die in der Praxis beliebten Pauschalverweise auf eingereichte Ak-
ten bzw. die allgemeine Erklärung, diese würden "integrierenden Bestand-
teil" der Rechtsschrift bilden, stellen deshalb keine hinreichenden Be-
hauptungen dar bzw. können fehlende Behauptungen nicht ersetzen.19
3.2. Bestreitungslast
Die Kehrseite der Behauptungslast ist die sog. Bestreitungslast: Bestreitet
eine Partei eine Tatsachenbehauptung ihres Gegners nicht, gilt diese als
unbestritten und die betreffende Tatsache kann dem Entscheid ohne wei-
teres zugrunde gelegt werden, da über nicht bestrittene Tatsachen kein
12 BGer 4A_625/2015 vom 29. Juni 2016 E. 4.1, 5P.445/2004 vom 9. März 2005 E. 2.3.2, 5C.26/1991
vom 30. September 1991 E. 3a. 13 BGer 4A_667/2014 vom 12. März 2015 E. 3.2.2. 14 BGer 4A_443/2017 vom 30. April 2018 E. 2.1, 4A_195/2014 und 4A_197/2014 vom 27. November
2014 E. 7.3.2 m.w.N. (nicht publ. in BGE 140 III 602). 15 BGer 4A_443/2017 vom 30. April 2018 E. 2.2.1 m.w.N. 16 BGer 4A_443/2017 vom 30. April 2018 E. 2.2.2, 4A_281/2017 vom 22. Januar 2018 E. 5.2 f. 17 BGer 4A_443/2017 vom 30. April 2018 E. 2.2.2. 18 BGer 4A_443/2017 vom 30. April 2018 E. 2.2.1 m.w.N. 19 BK ZPO I-HURNI, 2012 Art. 55 N. 21 m.w.N.
- 14 -
Beweis geführt zu werden braucht (vgl. Art. 150 Abs. 1 ZPO).20 Art. 222
Abs. 2 ZPO verlangt von der beklagten Partei, darzulegen, welche Tatsa-
chenbehauptungen der klagenden Partei im Einzelnen anerkannt oder
bestritten werden. Es ist deshalb empfehlenswert, die Tatsachenbehaup-
tungen der Klägerin detailliert, d.h. Punkt für Punkt zu bestreiten. Bestrei-
tungen sind dabei so konkret zu halten, dass sich bestimmen lässt, wel-
che einzelnen Behauptungen damit bestritten werden; die Bestreitung
muss ihrem Zweck entsprechend so bestimmt sein, dass die Gegenpartei
weiss, welche einzelne Tatsachenbehauptung sie beweisen muss. Der
Grad der Substantiierung einer Behauptung beeinflusst insofern den er-
forderlichen Grad an Substantiierung einer Bestreitung; je detaillierter ein-
zelne Tatsachen eines gesamten Sachverhalts behauptet werden, desto
konkreter muss die Gegenpartei erklären, welche dieser einzelnen Tatsa-
chen sie bestreitet. Je detaillierter mithin ein Parteivortrag ist, desto höher
sind die Anforderungen an eine substantiierte Bestreitung. Diese sind
zwar tiefer als die Anforderungen an die Substantiierung einer Behaup-
tung; pauschale Bestreitungen reichen indessen selbst dann nicht aus,
wenn sie explizit erfolgen. Erforderlich ist eine klare Äusserung, dass der
Wahrheitsgehalt einer bestimmten gegnerischen Behauptung infrage ge-
stellt wird.21 Auch ein implizites Bestreiten genügt unter diesen Voraus-
setzungen den Anforderungen der rechtsgenügenden Bestreitung.22
3.3. Substantiierungslast
Bestreitet aber der Prozessgegner den schlüssigen Tatsachenvortrag der
behauptungsbelasteten Partei in rechtsgenüglicher Weise, so greift eine
über die Behauptungslast hinausgehende Substantiierungslast. Die Vor-
bringen sind diesfalls nicht nur in den Grundzügen, sondern in Einzeltat-
sachen zergliedert so umfassend und klar darzulegen, dass darüber Be-
weis abgenommen oder dagegen der Gegenbeweis angetreten werden
kann.23 Das Beweisverfahren darf nicht dazu dienen, ein ungenügendes
Parteivorbringen zu vervollständigen.24 Der nicht oder nicht substantiiert
vorgebrachte Sachverhalt ist im Geltungsbereich der Verhandlungsmaxi-
me dem nicht bewiesenen Sachverhalt gleichzusetzen.25
3.4. Bezeichnung der Beweismittel
Die Parteien haben im Rahmen der Verhandlungsmaxime die einzelnen
Beweismittel zu bezeichnen (vgl. Art. 221 Abs.1 lit. e ZPO, wonach die
20 BK ZPO I-HURNI (Fn. 19), Art. 55 N. 37 mit Verweis auf Art. 150 Abs. 1 ZPO. 21 BGE 141 III 433 E. 2.6; BGer 4A_443/2017 vom 30. April 2018 E. 4.1, 4A_284/2017 vom 22. Janu-
ar 2018 E. 3.3. 22 SCHMID/HOFER, Bestreitung von neuen Tatsachenbehauptungen in der schriftlichen Duplik, ZZZ
2016, S. 285 m.w.N. 23 BGer 4A_443 vom 30. April 2018 E. 2.1, 4A_195/2014 und 4A_197/2014 vom 27. November 2014
E. 7.3.2 m.w.N. (nicht publ. in BGE 140 III 602). 24 DOLGE, Anforderungen an die Substanzierung, in: Dolge (Hrsg.), Substantiieren und Beweisen,
2013, S. 21; vgl. auch BGE 108 II 337 E. 3. 25 BGer 4A_210/2009 vom 7. April 2010 E. 3.2; KUKO ZPO-OBERHAMMER, 2. Aufl. 2013, Art. 55 N. 12.
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Klage die Tatsachenbehauptungen sowie die Bezeichnung der einzelnen
Beweismittel zu den behaupteten Tatsachen zu enthalten hat). Dazu ge-
hört auch, dass aus dem Zusammenhang klar wird, inwiefern die angeru-
fenen Beweismittel den angestrebten Beweis erbringen sollen. Es genügt
nicht, in der Klage Behauptungen aufzustellen und pauschal auf die Kla-
gebeilagen zu verweisen.26 Ein Beweismittel ist nur dann formgerecht an-
geboten, wenn sich die Beweisofferte eindeutig der damit zu beweisenden
Tatsachenbehauptung zuordnen lässt und umgekehrt.27 Deshalb sind die
einzelnen Beweisofferten unmittelbar im Anschluss an die entsprechen-
den Tatsachenbehauptungen aufzuführen, welche durch sie bewiesen
werden sollen ("Prinzip der sog. Beweismittelverbindung").28 Es ist hinge-
gen unzureichend, einen ganzen Sachverhaltskomplex zu behaupten und
lediglich pauschal auf eine Vielzahl von Urkunden oder eine Anzahl Zeu-
gen zu verweisen.29 Bei umfangreichen Urkunden ist zudem die für die
Beweisführung erhebliche Stelle zu bezeichnen (Art. 180 Abs. 2 ZPO).30
4. Klage
4.1. Offene Rechnungen
4.1.1. Parteibehauptungen
Die Klägerin behauptet, die Beklagte habe sie mit der Ausführung spediti-
oneller Leistungen beauftragt. Diese habe die Klägerin auftrags- und ord-
nungsgemäss erbracht und dafür insgesamt Fr. 34'809.50 in Rechnung
gestellt. Die Rechnungen seien sogleich (Klage, Rz. 3) bzw. binnen 30
Tagen (Replik, Rz. 4.11) zur Zahlung fällig gewesen. Die Beklagte habe
trotz Mahnung nicht bezahlt (Klage, Rz. 3; Replik, Rz. 4.11).
Die Beklagte bestreitet pauschal sämtliche klägerischen Behauptungen
(Klageantwort, Rz. 3 und 23; Duplik, Rz. 4 und 35). Weiter bestreitet die
Beklagte, dass die Klägerin den Vertrag ordnungsgemäss und sorgfältig
ausgeführt habe (Klageantwort, Rz. 25). Ferner habe sie der Klägerin im
Jahre 2016 bereits Zahlungen von über Fr. 40'000.00 geleistet (Kla-
geantwort, Rz. 7) sowie am 9. März 2016 eine Zahlung von Fr. 4'188.35.
Diese finde sich nirgends in den Gutschriften (Duplik, Rz. 35).
26 BGer 4A_195/2014 und 4A_197/2014 vom 27. November 2014 E. 7.3.3 m.w.N. (nicht publ. in BGE
140 III 602). 27 BGer 4A_370/2016 vom 13. Dezember 2016 E. 3.3 m.w.N. 28 BK ZPO II-KILLIAS, 2012, Art. 221 N. 29; PAHUD, in: Brunner/Gasser/Schwander, Schweizerische
Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 2016, Art. 221 N. 16. ff. Das "Prinzip der sog. Beweismittelverbindung" galt auch schon in der aarg. Zivilprozessordnung (EDELMANN, in: Bühler/Edelmann/Killer, zur aargauischen Zivilprozessordnung, 2. Aufl. 1998, § 167 N. 5).
29 BK ZPO II-KILLIAS (Fn. 28), Art. 221 N. 29. 30 BK ZPO II-RÜETSCHI (Fn. 28), Art. 180 N. 17 ff.; WEIBEL, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger
(Fn. 4), Art. 180 N. 10 ff. je m.w.N.
- 16 -
4.1.2. Rechtliches
Für die rechtsaufhebende Einwendung der Tilgung trägt jene Partei die
Beweislast, welche die Tilgung einwendet.31 Zum Entlastungsbeweis ge-
hört der Nachweis der Erfüllung der eingeklagten Forderung, nicht ein-
fach, dass etwas geleistet wurde.
4.1.3. Würdigung
Die Parteien standen unbestrittenermassen in einem Vertragsverhältnis
zueinander, das die Besorgung des Transports von Gaszylindern umfass-
te.
Die Klägerin behauptet knapp, dass sie ihren vertraglichen Pflichten
nachgekommen sei, diese in Rechnung gestellt, gemahnt bzw. die Be-
klagte betreiben lassen habe und die Beklagte nicht geleistet habe. Ein
solcher Tatsachenvortrag gilt als schlüssig, weil sämtliche Tatbestandse-
lemente des materiellen Anspruchs abgedeckt sind.
Was die Beklagte hiergegen vorbringt, überzeugt nicht: Soweit sie nur
pauschal bestreitet, werden die prozessualen Anforderungen nicht erfüllt
(vgl. oben E. 3). Ist die Beklagte der Ansicht, es könne ihr keine still-
schweigende Anerkennung i.S.v. Art. 222 Abs. 2 ZPO entgegengehalten
werden, so verkennt sie, dass die Bestreitungslast ihr die Obliegenheit
aufbürdet, die von der Klägerin ausgeführten Tatsachenbehauptungen, im
Einzelnen zu bestreiten. Erforderlich ist eine klare Äusserung, dass der
Wahrheitsgehalt einer bestimmten gegnerischen Behauptung infrage ge-
stellt wird. Diese Anforderung kann eine pauschale Bestreitung nicht erfül-
len (vgl. oben E. 3.2). Damit gelten die von der Klägerin behaupteten
massgebenden Tatsachen (Vertragsbestand, Erfüllung der vertraglichen
Pflichten, Rechnungstellung, Fälligkeit zum heutigen Zeitpunkt, Mahnung,
Betreibung) als unbestritten und können dem Entscheid ohne Weiteres
zugrunde gelegt werden.
Soweit die Beklagte behauptet, sie habe der Klägerin bereits
Fr. 40'000.00 und Fr. 4'188.35 bezahlt, unterlässt sie es zu behaupten,
welche der klägerischen Forderungen sie damit bezahlt habe bzw. aus
"auftragsrechtlicher Sorgfaltspflicht" verrechnet werden soll (Duplik
Rz. 35). Ihr Vortrag ist diesbezüglich nicht schlüssig.
Somit ist betreffend die Klage von einem schlüssigen und nicht bestritte-
nen Tatsachenvortrag auszugehen, weshalb der Klägerin die eingeklag-
ten Forderungen im Umfang von Fr. 34'809.50 zuzusprechen sind.
31 Vgl. BSK ZGB I-LARDELLI/VETTER, 6. Aufl. 2018, Art. 8 N. 58.
- 17 -
4.2. Verzugszins
4.2.1. Parteibehauptungen
4.2.1.1. Zum Verzugszins
Die Klägerin verlangt für die eingeklagten Forderungen von insgesamt
Fr. 34'809.50 ab dem 30. Juni 2016 einen Verzugszins von 14.4 % p.a.
Sie behauptet einerseits, die von ihr gestellten Rechnungen seien so-
gleich (Klage, Ziff. 3) bzw. gemäss Art. 27 AB SPEDLOGSWISS (AB
Sped) mit Rechnungsstellung (Replik, Ziff. 4.11) zur Zahlung fällig gewe-
sen, und anderseits, die Rechnungen seien vereinbarungsgemäss innert
30 Tagen zur Zahlung fällig gewesen (Replik, Ziff. 4.11). Ab Inverzugset-
zung sei gemäss Art. 27 AB Sped pro angebrochenem Monat 1.2 %
(14.4 % p.a.) Verzugszins geschuldet. Die Beklagte habe trotz Fälligkeit
und Mahnungen keine Zahlung geleistet (Klage, Rz. 3; Replik Rz. 4.11).
Zur Fälligkeit und zu den behaupteten Mahnungen der Klägerin äussert
sich die Beklagte nicht.
4.2.1.2. Zur Geltung der AB Sped
Zur Geltung der AB Sped behauptet die Klägerin, diese seien zwischen
den Parteien vereinbart worden (Klage, Ziff. 3). Auf die Verwendung der
AB Sped als Geschäftsgrundlage sei während der mehrere Jahre dauern-
den Geschäftsbeziehung zwischen den Parteien gut lesbar auf sämtlichen
Offerten, Rechnungen und E-Mails hingewiesen worden. Der Geltung der
AB Sped habe die Beklagte nie widersprochen (Replik, Rz. 4.2). Die AB
Sped gälten auch aufgrund stillschweigender Vereinbarung, wenn in einer
Geschäftsbeziehung Aufträge laufend unter Hinweis auf die Einbeziehung
dieser Bestimmungen erteilt würden. Dies sei hier der Fall (Replik,
Rz. 4.3).
Die Beklagte bestreitet, dass die AB Sped Vertragsbestandteil geworden
seien (Klageantwort, Rz. 24; Duplik, Rz. 33). Die von der Klägerin aufge-
führte Offerte vom 22. Dezember 2015, die in der Periode 2016 zur An-
wendung gelangt sei (KB 1), erwähne die AB Sped nicht. Diese seien nie
Gegenstand der Vertragsverhandlungen und der Offerten gewesen (Kla-
geantwort, Rz. 24; Duplik, Rz. 33).
4.2.2. Rechtliches
Nach Art. 104 Abs. 1 OR hat der Schuldner Verzugszins zu leisten, wenn
er sich mit der Zahlung der Geldschuld im Verzug befindet. Der gesetzli-
che Verzugszins beträgt 5 % p.a. (Art. 104 Abs. 1 OR). Falls die Parteien
einen höheren Zinssatz als 5 % p.a. vereinbart haben, kann gemäss
Art. 104 Abs. 2 OR dieser auch während des Verzugs gefordert werden.32
32 BK OR-WEBER, 2000, Art. 104 N. 71 m.w.N.
- 18 -
Der Schuldnerverzug setzt die Fälligkeit der Forderung voraus (Art. 102
Abs. 1 OR). Fällig ist eine Forderung dann, wenn deren Gläubiger die
Leistung fordern und einklagen darf.33 Dabei gilt der Grundsatz, dass eine
Forderung sofort fällig wird, sofern nichts anderes verabredet wurde oder
sich aus der Natur des Rechtsverhältnisses ergibt (Art. 75 OR). Ist eine
Verbindlichkeit fällig, wird der Schuldner grundsätzlich durch Mahnung
des Gläubigers in Verzug gesetzt (Art. 102 Abs. 1 OR), sofern nicht be-
reits ein bestimmter Verfalltag verabredet wurde (Art. 102 Abs. 2 OR). Die
Mahnung ist eine an den Schuldner gerichtete Erklärung des Gläubigers,
durch die er in unmissverständlicher Weise, die unverzügliche Erbringung
der fälligen Leistung beansprucht.34 In der Mahnung muss der Gläubiger
den Schuldner daher unmissverständlich zur Leistung auffordern35 und
klar angeben, in welchem Umfang er Leistung fordert. Geldforderungen
sind daher zu beziffern.36 Ohne vorgängige Mahnung laufen die Zinsen
erst ab Zustellung des Zahlungsbefehls, dem dann die Funktion einer
Mahnung zukommt.37
Bei den AB Sped handelt es sich um sog. Allgemeine Geschäftsbedin-
gungen (AGB).38 Diese sind Vertragsbestimmungen, die im Hinblick auf
eine Vielzahl von Verträgen eines bestimmten Typs generell vorformuliert
wurden.39 AGB können nur Geltung erlangen, wenn sie von den Parteien
übernommen wurden ("Keine Geltung ohne Übernahme"). Der Einbezug
der AGB bedarf folglich des Konsenses durch die Parteien.40 Die Abrede
über den Einbezug der AGB muss jedoch nicht zwingend ausdrücklich,
sondern kann auch stillschweigend erfolgen. Ein stillschweigender Einbe-
zug ist dann anzunehmen, wenn beide Parteien die Geltung der betref-
fenden AGB als selbstverständlich voraussetzen. Unter Kaufleuten gilt in-
dessen der aus Treu und Glauben (Art. 2 Abs. 1 ZGB) ergehende Grund-
satz, dass AGB, auf die Bezug genommen wird, jeweils Vertragsinhalt
werden, wobei dies selbst bei grundsätzlich regelmässig erfolgter, im Ein-
zelfall aber unterbliebener Verwendung der AGBs gelte. Bei einem Kauf-
mann, welcher regelmässig die Beförderungswirtschaft in Anspruch nimmt
und um den Bestand solcher AGB weiss, darf gar erwartet werden, dass
er diese selbst wegbedingt, wenn er sie nicht zur Anwendung kommen
lassen will.41 Nach SCHULER ist deshalb der Kunde, der vom Verwei-
33 GAUCH/SCHLUEP/SCHMID, Schweizerisches Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, Band 1, 10. Aufl.
2014, N. 45; GAUCH/SCHLUEP/ EMMENEGGER, Schweizerisches Obligationenrecht Allgemeiner Teil, Band 2, 10. Aufl. 2014, N. 2153 ff.
34 BSK OR I-WIEGAND, 6. Aufl. 2015, Art. 102 N. 5. 35 GAUCH/SCHLUEP/EMMENEGGER (Fn. 33), N. 2705. 36 GAUCH/SCHLUEP/EMMENEGGER (Fn. 33), N. 2708. 37 GUHL/KOLLER, Das Schweizerische Obligationenrecht mit Einschluss des Handels- und Wertpapier-
rechts, 9. Aufl. 2000, § 32 N. 11. 38 Vgl. BGE 77 II 154; ISLER, ZSR 1982, S. 379. 39 GAUCH/SCHLUEP/SCHMID (Fn. 33), N. 1117. 40 GAUCH/SCHLUEP/SCHMID (Fn. 33), N. 1128. 41 ISLER (Fn. 38), S. 384, unter Verweis auf BGE 77 II 154 E. 4.
- 19 -
sungswillen auf die betreffenden AGB Kenntnis haben musste, gehalten,
den Widerspruch dem Verweisenden zu erklären, wenn er die Geltung der
AGB verhindern will.42 Was deren Inhalt angeht, genügt es, dass die an-
dere Partei, die in nicht zu übersehender Weise, auf das Bestehen allge-
meiner Geschäftsbedingungen aufmerksam gemacht wird, die Möglichkeit
hat, sich von deren Inhalt Kenntnis zu verschaffen. Ob sie sich dazu die
Mühe macht, ist rechtlich bedeutungslos.43
4.2.3. Würdigung
4.2.3.1. Geltung AB Sped
Soweit die Klägerin in ihrer Klage in allgemeiner Weise auf "Aufträge",
"Rechnungen", "Transportunterlagen", "Kontoauszug", "AB SPEDLOG-
SWISS", "Zeugen" und "Parteienvernehmung" als Beweismittel verweist,
um die Geltung der AB Sped zu beweisen, genügt sie ihrer Obliegenheit,
die Beweismittel mit den zu beweisenden Tatsachen in eine sinnvolle
Verbindung zu bringen ("Prinzip der sog. Beweismittelverbindung"; vgl.
oben E. 3.4), nicht: Es ist weder die Aufgabe des Gerichts noch der Ge-
genpartei, aus einer solchen Vielzahl an Beweismitten jene herauszusu-
chen, welche die klägerischen Behauptungen beweisen sollen. Aus der
Klage kann die Geltung der AB Sped somit nicht nachgewiesen werden.
In ihrer Replik führt die Klägerin aus, Hinweise auf die AB Sped hätten
sich gut lesbar während der mehrere Jahre dauernden Geschäftsbezie-
hung auf sämtlichen Offerten sowie auf allen Rechnungen, E-Mails etc.
der Klägerin befunden. Als Beweismittel nennt sie auch hier nur pauschal
"AB SPEDLOGSWISS", "Offerte", "Rechnungen", "Korrespondenz der
Klägerin", "Zeuge G.G.", "Parteienbefragung". Auch hier handelt es sich
um einen pauschalen Verweis auf zahlreiche Beweismittel, womit die Klä-
gerin ihrer Obliegenheit zur Bezeichnung der Beweismittel nicht nach-
kommt. Es ist weder die Aufgabe des Gerichts noch der Gegenpartei,
herauszufinden, welche konkreten Beweismittel die Klägerin mit solch
pauschalen Bezeichnungen meint. In Bezug auf den Zeugen G.G. ver-
passt es die Klägerin ferner auszuführen, inwiefern dieser Hinweise zur
Vereinbarung der AB Sped liefern können soll. Kommt hinzu, dass die
Parteien bereits mit Verfügung vom 12. Juli 2018 eingehend auf die aus
der Verhandlungsmaxime folgenden Obliegenheiten aufmerksam ge-
macht wurden.
Weil die Beklagte besonders auf die Offerte für das Jahr 2016 (KB 1) ein-
geht, sei an dieser im Sinne eines Beispiels zudem festgehalten, dass
diese keinen Verweis auf die AB Sped enthält. Diese Offerte kann daher
den Einbezug der AB Sped für das Jahr 2016 nicht beweisen. Im Übrigen
42 SCHULER, Über Grund und Grenzen von AGB, 1978, S. 26 f. 43 BGE 77 II 154 E. 4; ISLER (Fn. 38), S. 383.
- 20 -
behauptet die Klägerin auch nicht, dass die Beklagte um das Bestehen
der AB Sped wusste oder hätte wissen müssen.
Soweit die Klägerin in ihrer Widerklageduplik weitere Ausführungen zur
Geltung der AB Sped macht und zusätzliche Beweismittel einreicht, ist sie
nicht zu hören: Der Aktenschluss fiel für die Klage mit Erstattung der Dup-
lik durch die Beklagte. Später können Tatsachen und Beweismittel nur
noch unter den Einschränkungen des Novenrechts nach Art. 229 ZPO
vorgebracht werden. Es ist weder ersichtlich noch begründet die Klägerin,
weshalb es sich bei den neuen Tatsachenbehauptungen und Beweismit-
teln in der Widerklageduplik um zulässige echte oder unechte Noven
handeln soll. Die entsprechenden Behauptungen in der Widerklageduplik
sind daher für die Klage nicht zu beachten.
Es kann damit festgehalten werden, dass die AB Sped im Zusammen-
hang mit den vorliegend zu beurteilenden Forderungen der Klägerin nicht
Vertragsbestandteil geworden sind.
4.2.3.2. Verzugszins
Die Klägerin behauptet nur in widersprüchlicher Weise, wann ihre in
Rechnung gestellten Forderungen fällig geworden sein sollen. Damit liegt
für die behauptete Parteiabrede kein schlüssiger Tatsachenvortrag vor.
Da die AB Sped nicht gültig einbezogen wurden (vgl. oben E. 4.2.3.1),
richtet sich die Fälligkeit nach dispositivem Recht, womit die Forderungen
gemäss Art. 75 OR sofort fällig wurden, d.h. die letzte Rechnung am
31. Januar 2017. Auf weitere Ausführungen zu den Fälligkeiten der davor
gestellten einzelnen Rechnungen der Klägerin kann daher verzichtet wer-
den.
Ein Anspruch auf Verzugszins entsteht jedoch erst per Verzugseintritt
(vgl. Art. 104 OR). Die Klägerin erwähnt zwar, dass sie die Beklagte ge-
mahnt habe, behauptet jedoch nicht, wann diese Mahnung ausgespro-
chen wurde bzw. der Beklagten zugegangen ist. Daran vermag der offe-
rierte Beweis "Mahnungen" nach Rz. 4.12 der Replik nichts zu ändern:
Weder genügte die Beweisofferte dem Erfordernis des Prinzips der Be-
weismittelverbindung (vgl. oben E. 3.4) noch lässt die Beweisbezeichnung
einen zweifellosen Schluss auf das betreffende Dokument in den Beweis-
unterlagen zu.
Demnach wurde die Beklagte erst mit Zustellung des Zahlungsbefehls am
28. April 2017 in Verzug gesetzt. Ein gesetzlicher Verzugszins im Umfang
von 5 % ist damit erst ab dem 28. April 2017 geschuldet.
- 21 -
4.3. Mahn- und Betreibungskosten
4.3.1. Parteibehauptungen
Die Klägerin macht neben der Forderung aufgrund erbrachter Speditions-
leistungen und den Verzugszinsen Mahnkosten von Fr. 674.64 und für
den Verzug vereinbarte Betreibungskosten von Fr. 716.85, jeweils zzgl.
14.4 % Zinsen seit dem 9. März 2017 bzw. dem 7. April 2017 geltend
(Klage, Rechtsbegehren Ziff. 1 und Rz. 3).
Die Beklagte bestreitet diese Forderungen nur pauschal (vgl. dazu oben
E. 4.1.3).
4.3.2. Rechtliches und Würdigung
4.3.2.1. Mahnkosten
Befindet sich der Schuldner im Verzuge, so hat er Schadenersatz wegen
verspäteter Erfüllung zu leisten (Art. 103 Abs. 1 OR). Er kann sich von
dieser Haftung durch den Nachweis befreien, dass der Verzug ohne jedes
Verschulden von seiner Seite eingetreten ist (Art. 103 Abs. 2 OR). Hat der
Gläubiger einen grösseren Schaden erlitten, als ihm durch die Verzugs-
zinsen vergütet wird, so ist der Schuldner zum Ersatze auch dieses Scha-
dens verpflichtet, wenn er nicht beweist, dass ihm keinerlei Verschulden
zur Last falle (Art. 106 Abs. 1 OR). Art. 103 OR und Art. 106 OR sind dis-
positives Recht.44
Da der Schuldner erst mit Mahnung in Verzug fällt, sind die mit der Mah-
nung verbundenen Kosten vom Gläubiger selber zu tragen. Ist der
Schuldner jedoch in Verzug, muss er die Kosten für weitere Mahnungen
tragen, es sei denn, diese erscheinen überflüssig oder aussichtslos.45
Die Klägerin behauptet nicht, wofür die Mahnkosten geschuldet sein sol-
len. Es ist nicht ersichtlich, ob diese sich auf Kosten vor oder nach Ver-
zugseintritt der Beklagten beziehen. Der klägerische Tatsachenvortrag ist
daher nicht schlüssig, weshalb die Klage insoweit abzuweisen ist.
4.3.2.2. Betreibungskosten
Gemäss Art. 68 Abs. 1 SchKG trägt der Schuldner die Betreibungskosten;
der Gläubiger hat diese lediglich vorzuschiessen. Der Gläubiger ist be-
rechtigt, von den Zahlungen des Schuldners die Betreibungskosten vorab
zu erheben (Art. 68 Abs. 2 SchKG). Diese Bestimmung ist so zu verste-
hen, dass diese Kosten im Ergebnis zur Schuld geschlagen werden und
vom Schuldner zusätzlich zu dem dem Gläubiger zugesprochenen Betrag
zu bezahlen sind. Da die Betreibungskosten dem Gläubiger bei erfolgrei-
cher Betreibung von Gesetzes wegen zustehen, bedarf es zur Durchset-
44 BK OR-WEBER (Fn. 32), Art. 103 N. 8 und Art. 106 N. 8. 45 CHK OR-FURRER/WEY, 3. Aufl. 2016, Art. 102 N. 32, m.w.N.
- 22 -
zung der Kostenersatzpflicht weder eines Urteils noch eines Rechtsöff-
nungsentscheids.46
Entsprechend steht der Klägerin kein Anspruch auf Ersatz der Betrei-
bungskosten zu, den sie mittels Klage durchsetzen könnte.
4.4. Verrechnungsforderung
Die Beklagte macht im Sinne einer Eventualverrechnung für jede noch of-
fene Fehlmengenposition einen pauschalen Schadenersatz von
Fr. 250.00, insgesamt Fr. 11'750.00, aufgrund von Umtrieben, Imagever-
lust, Kundenverlust etc. geltend (Klageantwort Rz. 22). Die Beklagte bleibt
dabei jedoch jegliche diesbezüglichen Ausführungen schuldig. Sie zeigt
nicht auf, welche Kunden ihr abgesprungen sein sollen, wie hoch der
ausgebliebene Gewinn pro abgesprungenem Kunden gewesen sei und
weshalb dies in irgendeiner Relation zur Menge an fehlendem Leergut
stehen sollte. Ebenso unklar bleibt, weshalb der Ruf der Beklagten durch
das allenfalls nicht zurücktransportierte Leergut geschädigt worden sein
soll. Auf die Verrechnungsforderung der Beklagten ist daher nicht weiter
einzugehen.
5. Widerklage
5.1. Parteibehauptungen
Die Beklagte behauptet, aufgrund der unsorgfältigen Arbeitsweise der
Klägerin sei es regelmässig zu grösseren Fehlmengen im Leergut der Be-
klagten gekommen. Die Klägerin habe es teilweise unterlassen, von den
Kunden der Beklagten zum Rücktransport bereitgestelltes Leergut wieder
zurückzunehmen. Weiter sei Leergut verloren gegangen. Dies sei der
Klägerin zuzuschreiben und diese habe ihr den daraus entstandenen
Schaden zu ersetzen (Widerklage, Rz. 16). Der Betrag der Fehlmenge für
die Jahre 2013-2016 belaufe sich auf gesamthaft Fr. 53'762.50 (Wider-
klage, Rz. 19). Weiter behauptet die Beklagte, sie habe Listen mit fehlen-
den Retouren geführt. Diese seien laufend aktualisiert und zusammen mit
Fehlmeldungen und Reklamationen der Klägerin zugestellt worden (Dup-
lik- und Widerklagereplikbeilagen [DRB] 13-21). Vor diesem Hintergrund
beantragt die Beklagte in ihrer Widerklage, die Klägerin sei zur Zahlung
von gesamthaft Fr. 48'940.25 (zzgl. jeweils 5 % Zinsen auf den einzelnen
Teilforderungen) zu verpflichten (Widerklage, Rechtsbegehren 3).
Die Beklagte macht in ihrer Widerklageänderung ein zusätzliches Rechts-
begehren geltend, wonach die Klägerin zur Zahlung von Fr. 11'750.00
zzgl. 5 % Zinsen seit mittlerem Verzugszinsdatum 1.1.2014 zu verpflich-
ten sei. In der Widerklagereplik führt sie dazu aus, die Korrespondenz
aufgrund der unsorgfältigen Ausführung der Fracht zähle über 550 Positi-
onen (Widerklagereplik, Rz. 36; DRB 33). Für jede Position sei durch-
46 BSK SchKG I-EMMEL, 2. Aufl. 2010, Art. 68 N. 16 m.w.N.
- 23 -
schnittlich ein Arbeitsaufwand von 30 Minuten für die Entgegennahme der
Reklamation, die Recherche, das Telefonat an die Klägerin etc. zu rech-
nen. Damit ergebe sich ein Administrativaufwand von 275 Stunden, der,
mit einem Sachbearbeiterstundenlohn von Fr. 48.00 multipliziert, ein Total
von Fr. 13'200.00 ergebe (Widerklagereplik, Rz. 36).
Die Klägerin bestreitet die Forderungen der Beklagten und behauptet, es
seien sämtliche Aufträge der Beklagten ordnungsgemäss ausgeführt wor-
den (Replik, Rz. 5.1 und Rz. 5.27 ff.). Während der Geschäftsbeziehung
sei es oftmals vorgekommen, dass sie bei den Kunden der Beklagten
zwar Leergut habe mitnehmen wollen, dies jedoch nicht habe tun können,
weil der betreffende Kunde kein Leergut zum Abtransport bereitgestellt
habe. Solche Zylinder seien sodann in der Liste der Beklagten als Fehl-
position eingebucht bzw. bei tatsächlicher Rückgabe als Sollstand nicht
wieder ausgebucht worden. Dementsprechend zeige die beklagtische Lis-
te lediglich eine vorübergehende Fehlmenge, die ohnehin nicht korrekt
sei; die fehlenden Zylinder seien jeweils zum erstmöglichen Zeitpunkt
wieder zurückgeführt worden. Somit sei der Beklagten gar kein Schaden
entstanden (Widerklageduplik, Rz. 17 ff.). Ohnehin würde sie allenfalls
gemäss Art. 21 AB Sped nur für die sorgfältige Auswahl und Instruktion
der von ihr unterbeauftragten S. T. AG haften. Sie habe dieses Unter-
nehmen mit höchstmöglicher Sorgfalt ausgewählt (Widerklageduplik,
Rz. 62 f.). Hinzu komme, dass die Forderungen der Beklagten aufgrund
deren vorbehaltlosen Annahme der Güter und Bezahlung der Fracht nach
Art. 452 OR verwirkt seien, da die Beklagte bis 2016 die Fehlmengen
niemals fristgerecht – bei äusserlich erkennbaren Mängeln also innert
8 Tagen – gerügt und zudem vorbehaltlos bezahlt habe (Widerklagedup-
lik, Rz. 64 ff.). Zudem seien sämtliche geltend gemachten Ansprüche
längst verjährt (Widerklageduplik, Rz. 67 ff.).
In Bezug auf das geänderte Rechtsbegehren der Widerklage führt die
Klägerin aus, es sei nicht ersichtlich, wer Empfänger bzw. Absender der
Nachrichten sei. Zudem sei weder klar, dass die Lieferungen von ihr aus-
geführt worden seien noch dass die Korrespondenz auf ihr Verschulden
zurückzuführen sei (Replik, Rz. 5.14; Widerklageduplik, Rz. 59 ff.).
5.2. Würdigung
Die Beklagte genügt ihren prozessualen Obliegenheiten zur Geltendma-
chung eines Schadenersatzanspruchs nicht: Soweit sie behauptet, die
Klägerin habe es häufig unterlassen, Leergut zurückzunehmen, und die
Dienstleistungen der Klägerin hätten regelmässig grosse Ausfälle und
Fehlmengen verursacht, bleibt sie unbestimmt und substantiiert ihren Tat-
sachenvortrag, obwohl bestritten, in keiner Weise (vgl. oben E. 3.3). Es
kann auf folgendes Beispiel aus der Widerklage hingewiesen werden:
- 24 -
Es ist weder die Aufgabe des Gerichts noch der Gegenpartei, die als
Sammelbeilage eingereichten Lieferscheine zu durchsuchen und die sich
daraus ergebenden Verluste an Leergut zusammenzurechnen (vgl. oben
E. 3.1). Es hätte der Beklagten oblegen, mindestens zu behaupten, wann
die Klägerin für sie Transportaufträge ausführte oder ausführen liess, wie-
viel Leergut dabei pro Transportauftrag hätte mitgenommen werden sollen
und wieviel Leergut tatsächlich bei der Beklagten angekommen ist, und
diese Behauptungen im Einzelnen mit tauglichen Beweismitteln zu unter-
mauern. Soweit die Beklagte in ihrem Parteivortrag anlässlich der Haupt-
verhandlung vorträgt, dies obliege nicht ihr, sondern der Klägerin, da es
ihre Vertragspflicht gewesen sei, über das Leergut Listen zu führen (Pro-
tokoll der Hauptverhandlung vom 7. Mai 2019, S. 6 f.), verwechselt sie die
allfälligen materiellrechtlichen Vertragspflichten mit der Beweislast. Es ist
die Beklagte, die aus dem Umstand des fehlenden Leerguts Ansprüche
ableitet, weshalb auch ihr und nicht der Klägerin der diesbezügliche Be-
weis obliegt (vgl. auch Ziff. 4.1 der Beweisverfügung vom 27. Februar
2019).
Auch soweit die Beklagte behauptet, aufgrund der von ihr geführten Lis-
ten ergebe sich betreffend die Jahre 2013-2016 eine Fehlmenge im Um-
fang von Fr. 53'762.50, und auf andere Sammelbeilagen verweist, genügt
sie ihrer Behauptungsobliegenheit nicht. Tatsachenbehauptungen sind
grundsätzlich in den Rechtsschriften aufzustellen. Der bloss pauschale
Verweis auf Beilagen genügt nicht. Es ist weder die Aufgabe des Gerichts
noch der Gegenpartei, sich die erforderlichen Tatsachen aus Beilagen zu-
sammenzusuchen (vgl. oben E. 3.1). In diese Kategorie gehört auch fol-
gendes Beispiel aus der Widerklagereplik, wobei zu beachten ist, dass die
Sammelbeilagen DRB 13-21 über hundert Seiten enthalten:
- 25 -
Weil die Beklagte damit nicht substantiiert behauptet, für welches fehlen-
de Leergut die Klägerin verantwortlich ist, sind dazu auch keine Beweise
abzunehmen. Im Geltungsbereich der Verhandlungsmaxime ist der nicht
oder nicht substantiiert vorgebrachte Sachverhalt dem nicht bewiesenen
Sachverhalt gleichzusetzen (vgl. oben E. 3.3). Bei diesem Aktenstand
kann von einer unsorgfältigen Tätigkeit der Klägerin keine Rede sein.
Insoweit die Beklagte behauptet, die von der Klägerin beauftragten Per-
sonen hätten kriminell gehandelt, indem sie für Druckbehälter ein Depot
verlangt hätten, lässt sie jegliche Ausführung zu dem ihr dadurch entstan-
den Schaden vermissen.
Auch in Bezug auf das angeblich fehlende Leergut unterlässt es die Be-
klagte, substantiierte Ausführungen zur Schadenshöhe zu machen: Sie
führt zwar aus, diese betrage Fr. 53'762.50. Obwohl bestritten, finden sich
aber nirgends Ausführungen zur Anzahl Leergut, das fehlt, und zum Wert
des Leerguts, sodass auch hier eine Beweisabnahme zu unterbleiben hat.
Kommt hinzu, dass die Beklagte selbst ausführt, die in der entsprechen-
den Liste genannten Totalsummen und Bezeichnungen könnten Unge-
nauigkeiten enthalten, die Einzeleinträge seien jedoch korrekt. Es ist we-
der die Aufgabe des Gerichts noch der Gegenpartei, fehlerhafte Scha-
denslisten nachzurechnen und von Amtes wegen zu korrigieren, was die
Beklagte in Rz. 8 ihrer Klageantwort selbst festhält. Was die Beklagte in
- 26 -
Rz. 32 der Widerklagereplik mit der Behauptung, der Warenwert sei mit
den vorhandenen Unterlagen ausgewiesen, aufzeigen will, bleibt unklar.
Es ist nicht ersichtlich, auf welche Unterlagen sich die Beklagte hier be-
ziehen will. Selbst wenn daher die unsorgfältige Tätigkeit der Klägerin
nachgewiesen wäre, mangelte es jedenfalls am Nachweis des behaupte-
ten Schadens.
Soweit die Beklagte widerklageweise eine Schadenersatzforderung für ei-
nen Administrativaufwand von 275 Stunden à Fr. 48.00 geltend macht,
führt sie gleich selbst aus, dieser Aufwand sei nur geschätzt. Dabei unter-
lässt sie aber erneut jegliche Ausführungen zu den konkreten Positionen.
Weiter unterlässt es die Beklagte auch jene Behauptungen aufzustellen,
welche es dem Gericht ermöglichen würden, einen Schaden nach Art. 42
Abs. 2 OR schätzen zu können.47
Die Widerklage ist demnach vollumfänglich abzuweisen.
6. Prozesskosten
6.1. Verlegung und Streitwert
Die Prozesskosten bestehen aus den Gerichtskosten und der Parteient-
schädigung (Art. 95 Abs. 1 ZPO). Die Prozesskosten werden der unterlie-
genden Partei auferlegt. Hat keine Partei vollständig obsiegt, werden die
Prozesskosten nach Ausgang des Verfahrens verteilt (Art. 106 Abs. 1 und
2 ZPO).
Der Klägerin obsiegt mit ihrer Klage zu mehr als 96 % (Fr. 34'809.50 /
Fr. 36'200.99). Zugleich unterliegt die Beklagte mit ihrer Widerklage voll-
umfänglich, weshalb es sich rechtfertigt, sämtliche Prozesskosten der Be-
klagten aufzuerlegen.
Sofern sich Klage und Widerklage nicht gegenseitig ausschliessen, wer-
den die Streitwerte zur Bestimmung der Prozesskosten zusammenge-
rechnet (Art. 94 Abs. 2 ZPO). Vorliegend schliessen sich Klage und Wi-
derklage nicht gegenseitig aus, da beide unabhängig voneinander hätten
gutgeheissen bzw. abgewiesen werden können. Die klägerischen
Rechtsbegehren weisen einen Streitwert von Fr. 36'200.99 auf (Art. 91
Abs. 1 i.V.m. Art. 93 Abs. 1 ZPO) und die Widerklage einen Streitwert von
Fr. 60'690.25 (Art. 91 Abs. 1 i.V.m. Art. 93 Abs. 1 ZPO). Zusammenge-
rechnet resultiert ein Gesamtstreitwert von Fr. 96'891.24.
6.2. Gerichtskosten
Die Gerichtskosten bestehen einzig aus der Entscheidgebühr (Art. 95
Abs. 2 lit. b ZPO). Diese bemisst sich nach dem Streitwert. Der Grundan-
satz für die Gerichtsgebühr beträgt bei einem Streitwert von Fr. 96'891.24
47 Vgl. zu den Anforderungen von Art. 42 Abs. 2 OR BGE 143 III 297 E. 8.2.5.2.
- 27 -
gemäss § 7 Abs. 1 Zeile 5 VKD rund Fr. 7'550.00. Die Gerichtskosten von
Fr. 7'550.00 werden im Umfang von Fr. 4'225.00 mit dem von der Beklag-
ten geleisteten und im Umfang von Fr. 3'325.00 mit dem von der Klägerin
geleisteten Kostenvorschuss verrechnet (Art. 111 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Die
Beklagte hat dem Kläger den Betrag von Fr. 3'325.00 direkt zu ersetzen
(Art. 111 Abs. 2 ZPO). Ein allfälliger Überschuss steht der Klägerin zu.
6.3. Parteientschädigung
Die Klägerin reicht anlässlich der Hauptverhandlung eine Kostennote ein.
Diese basiert grundsätzlich auf dem AnwT, weshalb die Parteientschädi-
gung nach diesem zu berechnen ist. Soweit die Klägerin Barauslagen im
Umfang von Fr. 1'870.10 geltend macht, unterlässt sie es darzulegen, für
welche Tätigkeiten diese notwendig wurden (bspw. Anzahl Kopien zu
welchem Preis pro Blatt, Porti für welche Eingaben), sodass sie nicht
nachvollziehbar sind. Einzig für die Kosten des DHL-Kurierdienst im Um-
fang von Fr. 215.30 gibt die Klägerin das Datum des 7. Dezembers 2018
an. An diesem Tag hat die Klägerin allerdings lediglich ein Fristerstre-
ckungsgesuch eingereicht, weshalb nicht nachvollziehbar ist, weshalb
hierfür derart hohe Kosten angefallen sein sollen, zumal das Büro der
Rechtsvertreter der Klägerin bloss ca. 200 Meter vom Handelsgericht ent-
fernt liegt.
Bei einem Streitwert von Fr. 96'891.24 bemisst sich die Parteientschädi-
gung nach § 3 Abs. 1 lit. a Ziff. 5 AnwT. Die Grundentschädigung beträgt
rund Fr. 12‘790.00. Damit sind gemäss § 6 Abs. 1 AnwT unter anderem
eine Rechtsschrift und die Teilnahme an einer Verhandlung abgegolten.
Für die zusätzliche Rechtsschrift infolge doppelten Schriftenwechsels ist
praxisgemäss ein Zuschlag von 20 % gerechtfertigt (vgl. § 6 Abs. 3
AnwT). Sowohl im Klage- als auch im Widerklageverfahren wurde je ein
zweiter Rechtsschriftenwechsel angeordnet, weshalb grundsätzlich von
einem Zuschlag von 40 % auszugehen ist. Jedoch war die Klageschrift
derart kurz und konnten die Klagereplik und Widerklageantwort in einer
Rechtsschrift zusammengefasst werden, sodass sich ein Zuschlag von
maximal 30 % rechtfertigen lässt. Zusätzlich der Kleinkostenpauschale
von praxisgemäss 3 % (vgl. § 13 Abs. 1 AnwT) resultiert damit eine Par-
teientschädigung von gerundet Fr. 17'125.80. Soweit die Klägerin eine
höhere Parteientschädigung bzw. einen Mehrwertsteuerzuschlag geltend
macht, sind diese abzuweisen. Die Klägerin ist selbst mehrwertsteuer-
pflichtig48 und damit auch für eine allfällige Bezugssteuer vorsteuerab-
zugsberechtigt.49
48 https://www.uid.admin.ch/_ (zuletzt besucht am 7. Mai 2019). 49 Merkblatt zur Frage der Berücksichtigung der Mehrwertsteuer bei der Bemessung der Parteient-
schädigung der Gerichte des Kantons Aargau vom 11. Januar 2016: https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/obergerichte/handelsgericht/Merkblatt_M wSt.pdf (zuletzt besucht am 7. Mai 2019).
https://www.uid.admin.ch/_ https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/obergerichte/handelsgericht/Merkblatt_MwSt.pdf https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/obergerichte/handelsgericht/Merkblatt_MwSt.pdf
- 28 -
Das Handelsgericht erkennt:
1.
1.1.
In teilweiser Gutheissung der Klage wird die Beklagte und Widerkläge-
rin verpflichtet, der Klägerin und Widerbeklagten Fr. 34'809.50 zzgl. 5 %
Zins p.a. seit dem 28. April 2017 zu bezahlen.
1.2.
Der Rechtsvorschlag in der Betreibung Nr. _ des Betreibungsamtes
S. (Zahlungsbefehl vom 24. April 2017) wird im Umfang von Fr. 34'809.50
zzgl. 5 % Zins p.a. seit 28. April 2017 beseitigt.
2.
Die Widerklage wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 7'550.00 werden der Beklagten und Widerklä-
gerin auferlegt und im Umfang von Fr. 4'225.00 mit dem von dieser ge-
leisteten und im Umfang von Fr. 3'325.00 mit dem von der Klägerin und
Widerbeklagten geleisteten Kostenvorschuss verrechnet. Die Beklagte
und Widerklägerin hat der Klägerin und Widerbeklagten den Betrag von
Fr. 3'325.00 direkt zu ersetzen.
4.
Die Beklagte und Widerklägerin hat der Klägerin und Widerbeklagten eine
gerichtliche festgesetzte Parteientschädigung in Höhe von Fr. 17'125.80
zu bezahlen.
Zustellung an:
die Klägerin (Vertreter; zweifach mit Abrechnung und Protokoll der
Hauptverhandlung vom 7. Mai 2019)
die Beklagte (Vertreter; zweifach mit Abrechnung und Protokoll der
Hauptverhandlung vom 7. Mai 2019)
1.
Rechtsmittelbelehrung für die Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 ff.,
Art. 90 ff. BGG)
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen, von der schriftlichen Er-
öffnung der vollständigen Ausfertigung des Entscheides an gerechnet, die
Beschwerde an das Schweizerische Bundesgericht erhoben werden.
- 29 -
Die Beschwerde ist schriftlich oder in elektronischer Form beim Schweize-
rischen Bundesgericht einzureichen. Die Beschwerdeschrift ist in einer
Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit
Angabe der Beweismittel und die Unterschriften bzw. eine anerkannte
elektronische Signatur zu enthalten. In der Begründung ist in gedrängter
Form darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid Recht (Art. 95 ff.
BGG) verletzt. Die Urkunden, auf die sich die Partei als Beweismittel be-
ruft, sind beizulegen, soweit die Partei sie in den Händen hat; ebenso ist
der angefochtene Entscheid beizulegen (Art. 42 BGG).
Aarau, 7. Mai 2019
Handelsgericht des Kantons Aargau
2. Kammer
Der Vizepräsident: Der Gerichtsschreiber:
Vetter Schneuwly | 16,208 | 11,972 | AG_HG_002 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_002_-Handelsrecht-Forder_2019-05-07 | https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/gesetze___entscheide/gesetze_2/handelsrecht/Entscheid_07-05-19.pdf | null | nan |
||
c31b45f1-c2ec-5275-9202-ff1ff67f07da | 1 | 417 | 869,864 | 991,353,600,000 | 2,001 | de | 2001
Zivilprozessrecht
57
[...]
14
§ 284 ZPO. Res iudicata.
Mit einem Vergleich können Parteien auch Streitfragen rechtskräftig er-
ledigen, welche nicht Prozessgegenstand bilden. Deshalb muss sich ein
Kläger einen in einem früheren gerichtlichen Verfahren geschlossenen
Vergleich entgegenhalten lassen, der in Überschreitung des damaligen
Streitgegenstandes den mit der zweiten Klage ins Recht gesetzten An-
spruch mit erfasste, dies selbst dann, wenn jenes frühere Verfahren als
2001
Obergericht/Handelsgericht
58
zufolge Klagerückzugs statt Vergleichs erledigt abgeschrieben wurde.
Denn der Charakter eines Endentscheides (Sachurteil, Abschreibungsbe-
schluss, Prozessurteil) richtet sich nach der wirklichen Rechtslage und
nicht nach der allenfalls falschen Formulierung im Dispositiv.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 1. Zivilkammer, vom 29. Juni 2001 in
Sachen W. M.-R. gegen A. K.
Aus den Erwägungen
2. Der Kläger macht mit der Appellation geltend, die Vorinstanz
sei zu Unrecht wegen Vorliegens einer res iudicata nicht auf die
Klage eingetreten. Das frühere Verfahren sei zufolge Klagerückzugs
und nicht zufolge Vergleichs erledigt worden.
Der Klagerückzug ist wie die Klageanerkennung eine einseitige
Parteierklärung an eine gerichtliche Instanz, welcher zivilrechtliche
wie prozessuale Wirkungen zukommt. Ein Prozessvergleich ist dem-
gegenüber die gegenseitige Einigung der Parteien über die im
Rechtsstreit auszutragende Differenz nach Prozesseinleitung (Wal-
der, Zivilprozessrecht, 4. A. Zürich 1996, § 25 Rz. 14 ff.; ders. Pro-
zesserledigung ohne Anspruchsprüfung, Zürich 1966, S. 142 Fn 2).
Gegenseitiges Nachgeben gilt als Begriffsmerkmal des Vergleichs
(Bühler/Edelmann/Killer, Kommentar zur aargauischen Zivilpro-
zessordnung, 2.A. Aarau 1998, N 1 zu § 285; Leuch/Marbach/Keller-
hals/Sterchi, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Bern, 5. A.
Bern 2000, N 2b zu Art. 207 BE ZPO; Vogel, Grundriss des
Zivilprozessrechts, 6.A. Bern 1999, 9. Kap. N. 52; BGE 121 III 404
Erw. 2c; 105 II 277 Erw. 3a). Der Vergleich als gegenseitige
Parteierklärung macht die Fortsetzung des Prozesses und den
richterlichen Entscheid unnötig. Ein zivilrechtlicher Vertrag tritt an
dessen Stelle, erfährt aber deshalb, weil der Prozess eingeleitet ist,
die Bekräftigung durch einen gerichtlichen Beschluss. Materiell liegt
kein Vergleich vor, wenn eine Klage zurückgezogen oder anerkannt
wird, die Parteien aber eine Abweichung mit Bezug auf die
Kostentragung vereinbaren (Walder, Prozesserledigung, a.a.O.,
2001
Zivilprozessrecht
59
S. 142 Fn. 2). Der Vergleich ist nicht auf den Gegenstand des Pro-
zesses beschränkt, es können damit vielmehr auch gleichzeitig vor-
handene Pendenzen erledigt werden (BGE 110 II 49 f.; Büh-
ler/Edelmann/Killer, a.a.O., N 7 zu Art. 285 ZPO; Guldener, Schwei-
zerisches Zivilprozessrecht, 3. A., Zürich 1979, S. 393). Der auf
Grund eines Vergleichs ergangene Abschreibungsbeschluss des Ge-
richts schafft einen Vollstreckungstitel für jede einzelne Verpflich-
tung des Vergleichs, unabhängig davon, ob sie Gegenstand des
Rechtsstreits gebildet hat oder nicht (Walder, Prozesserledigung,
a.a.O., S. 155). Auch einer solchen Verpflichtung in einem gerichtli-
chen Vergleich kommt die volle Rechtskraftwirkung eines gerichtli-
chen Vergleichs zu (Walder, Prozesserledigung, a.a.O., S. 142
Fn. 1a).
b) In der von den Parteien vor Gerichtspräsidium K. abge-
schlossenen Vereinbarung vom 19. Februar 1998 ist der Passus ent-
halten, dass der Kläger die Klage und die Betreibung vorbehaltlos
zurückziehe. Des Weitern erklären die Parteien gegenseitig Verzicht
auf weitere Ansprüche aus den Arbeiten am Ausbau des klägerischen
Dachgeschosses, soweit es sich nicht um verdeckte Mängel handelt.
Die Vereinbarung regelt schliesslich die Tragung der Prozesskosten.
Im Dispositiv des Abschreibungsbeschlusses und zweimal in
den Erwägungen (Ziff. 5.2 und Ziff. 5.3) ist immer nur die Rede von
Klagerückzug. Es wurde auch von keiner Partei eine Berichtigung
des Urteilsdispositivs verlangt. Aufgrund des Wortlauts liegt ein
Klagerückzug vor. Materiell handelt es sich demgegenüber um einen
Vergleich, da nicht nur die Klage zurückgezogen wurde, sondern die
Parteien darüber hinaus vereinbarten, dass sie aus den Arbeiten be-
treffend Dachgeschoss in der Liegenschaft des Klägers keinerlei
gegenseitige Ansprüche mehr haben. Dadurch haben die Parteien
eine Vereinbarung in einem Streitpunkt getroffen, der nicht Gegen-
stand des Prozesses gewesen ist. Ausserdem haben sie eine Regelung
betreffend Tragung der Prozesskosten getroffen. Inhaltlich wurde
demnach mehr vereinbart als ein blosser Klagerückzug. Es handelt
sich deshalb materiell klarerweise um einen Vergleich und keinen
Klagerückzug.
2001
Obergericht/Handelsgericht
60
Aus den obigen Ausführungen ergibt sich, dass eine Divergenz
zwischen dem Dispositiv des Abschreibungsbeschlusses (Klage-
rückzug) und den Erwägungen (Vergleich) vorliegt, wobei es sich bei
der Bezeichnung im Dispositiv als Klagerückzug um einen klaren
Fehler handelt. Ein solcher Fehler rein formaler Art bezüglich des
Grundes des Abschreibungsbeschlusses ändert nichts am Charakter
des Beschlusses vom 19. Februar 1998 als Abschreibungsbeschluss
infolge gerichtlichen Vergleichs. In diesem Sinn hat auch das Bun-
desgericht bei der Beurteilung einer ähnlichen Problematik entschie-
den, indem es ausführte, dass nicht die Bezeichnung des Entscheides
massgeblich sei, ob ein Prozess- oder ein Sachurteil vorliege, son-
dern allein der Gehalt des Entscheides. Ein Prozessurteil ändere sei-
nen Charakter nicht, wenn im Dispositiv eine Klage fälschlicherwei-
se abgewiesen, anstatt wegen Fehlens einer Prozessvoraussetzung
auf sie nicht eingetreten werde (BGE 115 II 187 E. 3b). Gleich ver-
hält es sich im vorliegenden Fall, so dass die fehlerhafte Bezeich-
nung "Klagerückzug" nichts daran ändert, dass das Verfahren infolge
Vergleichs abgeschrieben wurde. | 1,350 | 1,081 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2001-14_2001-06-01 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-14.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-14.pdf | AGVE_2001_14 | null | nan |
c3fc795f-5899-55dd-8638-a190f31b97df | 1 | 417 | 871,544 | 986,256,000,000 | 2,001 | de | 2001
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
45
II. Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
6
Art. 80 ff. SchKG, Art. 265a SchKG; Rechtsöffnung
Die Einrede "kein neues Vermögen" ist zu beseitigen, bevor über die
Rechtsöffnung entschieden werden kann. Das Betreibungsamt muss den
Rechtsvorschlag von Amtes wegen dem dafür zuständigen Richter
vorlegen. Der Rechtsöffnungsrichter hat nicht vorfrageweise zu prüfen,
ob die Einrede in formeller Hinsicht zulässig ist (Peter Stücheli, Die
Rechtsöffnung, Zürich 2000, S. 88 f.; ZR 96 Nr. 56; a.M.
Staehelin/Bauer/Staehelin, Basler Kommentar, Basel 1998, N 8 zu Art. 84
SchKG).
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 3. Zivilkammer, vom 23. April 2001
i.S. W.G. gegen H.J. | 189 | 148 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2001-6_2001-04-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2001-6.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2001-6.pdf | AGVE_2001_6 | null | nan |
c416c3e5-746f-54b2-9ccb-26b04528283d | 1 | 417 | 869,987 | 1,041,465,600,000 | 2,003 | de | 2004
Strafprozessrecht
95
[...]
25 § 134 StPO, endgültiger Entscheid des Untersuchungsrichters über
Anträge auf Ergänzung der Untersuchung. Ausnahmsweise Zulässigkeit
der Beschwerde dagegen.
Seit der Teilrevision der StPO vom 2. Juli 2002 (in Kraft seit 1. Januar
2003) entscheidet der Untersuchungsrichter endgültig über Anträge auf
Ergänzung der Untersuchung. Dennoch ist das Beschwerderecht insbe-
sondere dann zu gewähren, wenn der Entscheid gegen grundlegende ge-
setzliche Bestimmungen verstösst oder willkürlich ist.
Aus dem Urteil des Obergerichtes, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom
13. Mai 2004 i.S. W gegen Verfügung des Bezirksamtes Aarau
Aus den Erwägungen
2. Nach altem Recht konnten die Parteien die nach der Aktener-
öffnung durch den Untersuchungsrichter ergangenen Verfügungen
über Anträge auf Ergänzung der Untersuchung mit Beschwerde an-
fechten. Seit der Teilrevision der StPO vom 2. Juli 2002 (in Kraft seit
1. Januar 2003) entscheidet indessen der Untersuchungsrichter end-
gültig über solche Ergänzungsanträge (§ 134 StPO). Die Beschwerde
ist demnach in solchen Fällen ausdrücklich ausgeschlossen worden.
Ein solcher Ausschluss kann jedoch nur für den Regelfall und nicht
ausnahmslos gelten. Bei Rechtsverweigerung, insbesondere, wenn
der Entscheid gegen grundlegende gesetzliche Bestimmungen ver-
stösst oder willkürlich ist, kann das Beschwerderecht nicht ausge-
schlossen werden. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn ver-
sucht wird, die Strafuntersuchung nur noch rudimentär zu führen und
wichtige Untersuchungshandlungen ins Gerichtsverfahren zu verla-
gern. Solches verletzt den Anspruch des Beschuldigten auf Beurtei-
lung der Strafsache durch ein unabhängiges und unparteiisches Ge-
2004
Obergericht/Handelsgericht
96
richt (Art. 30 Abs. 1 BV, a. Art. 58 Abs. 1 BV, 6 Ziff. 1 EMRK; vgl.
AGVE 1993 Nr. 49 139 ff. mit der Verweisung auf BGE 115 Ia 222
f.). Auch in der Botschaft des Regierungsrates vom 21. März 2001
zur Teilrevision der KV und der StPO wird ausgeführt (S. 27,
Ziff. 2.15), da die Parteien ihren Antrag jederzeit vor dem urteilen-
den Gericht wiederholen könnten, sei ihre Rechtsposition kaum be-
rührt, auch wenn nicht übersehen werden dürfe, "dass faktisch in
gewissen Fällen der Entscheid des Gerichts durch das Ergebnis der
Untersuchung vorgespurt" werde. Die dann weiter implizit geäus-
serte Auffassung (Botschaft, a.a.O.), bei Gutheissung der Beweisan-
träge durch das Gericht bestehe die Möglichkeit, die Akten an die
Untersuchungsbehörden zurückzuweisen, ist nicht richtig, denn nach
erfolgter Anklageerhebung ist allein das Gericht für die weiteren
Beweismassnahmen zuständig, und eine Rückweisung ist nicht mehr
möglich (mit Ausnahme von § 162 Abs. 3 StPO, wonach eine Ergän-
zung der Untersuchung angeordnet werden kann, wenn dringender
Verdacht auf das Vorliegen einer weiteren, in der Anklage nicht ge-
nannten Straftat besteht; selbstverständlich kann die Beschwerde-
kammer des Obergerichts auch gemäss § 141 Abs. 2 StPO auf Be-
schwerde hin eine Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft
aufheben und die Fortführung der Untersuchung anordnen).
3. Eine solche Rechtsverweigerung liegt hier nicht vor. Die
Untersuchung ist eingehend geführt worden, und die Akten bieten
eine genügende Entscheidungsgrundlage, ob das Verfahren einge-
stellt oder Anklage erhoben werden soll. Im Falle einer gerichtlichen
Beurteilung kann es dem Gericht überlassen bleiben, ob es weitere
beantragte Beweismassnahmen zulassen will oder nicht. Auf die
Beschwerde ist demnach nicht einzutreten. | 770 | 640 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2004-25_2003-01-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2004-25.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2004-25.pdf | AGVE_2004_25 | null | nan |
c42ed073-f24e-4103-af76-1184a32593a3 | 1 | 414 | 1,497,527 | 1,592,611,200,000 | 2,020 | de | Urteil/Entscheid
Handelsgericht
2. Kammer
HSU.2020.48
Entscheid vom 20. Juli 2020
Besetzung Oberrichter Vetter, Vizepräsident
Gerichtsschreiber Schneuwly
Gesuchstellerin R. GmbH, _
vertreten durch lic. iur. Reto Diggelmann, Rechtsanwalt, Neugasse 14,
9401 Rorschach
Gesuchsgegne-
rin
A. AG, _
vertreten durch MLaw Lukas Müller, Rechtsanwalt, Bahnhofplatz 1, Post-
fach, 5400 Baden
Gegenstand Summarisches Verfahren betreffend Bauhandwerkerpfandrecht
- 2 -
Der Vizepräsident entnimmt den Akten:
1.
Die Gesuchstellerin ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in R. (SG). Sie be-
zweckt insbesondere das Führen eines General- und Totalunternehmungs-
betriebes [...] (Gesuchsbeilage [GB] 2).
2.
Die Gesuchsgegnerin ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in L. (AG). Sie hat
im Wesentlichen den Kauf, den Verkauf, die Vermietung und die Verwal-
tung von Immobilien und Grundstücken sowie [...] zum Zweck (GB 3).
Die Gesuchsgegnerin ist Alleineigentümerin der Grdst.-Nrn. [...] (E-GRID:
CH [...]; GB 1).
3.
Mit Gesuch vom 16. Juni 2020 (persönlich überbracht am 16. Juni 2020)
stellte die Gesuchstellerin die folgenden Rechtsbegehren:
" 1. Das Grundbuchamt Baden sei gerichtlich anzuweisen, auf den
im Eigentum der Gesuchsgegnerin stehenden Grundstücken Nr. [...] (E-GRID CH [...]) und [...] (E-GRID [...]), [...], zugunsten der Gesuchstellerin Bauhandwerkerpfandrechte in Höhe vorläufig einzutragen:
- Zulasten Grundstück Nr. 1850: CHF 22'619.22 nebst Zins zu
5 % seit 3. Juli 2020;
- Zulasten Grundstück Nr. 2117: CHF 52'303.98 nebst Zins zu 5 % seit 3. Juli 2020.
2. Die Anweisung sei superprovisorisch, das heisst sofort nach
Eingang des Gesuches und ohne Anhörung der Gegenpartei, im Sinne von Art. 265 ZPO zu verfügen und dem Grundbuchamt die vorläufige Eintragung im Grundbuch mitzuteilen.
3. Der Gesuchstellerin sei eine angemessene Frist, gerechnet ab
Rechtskraft des Entscheides betreffend vorläufige Vormerkung, anzusetzen, um Klage auf definitive Eintragung des gemäss Ziff. 1 hiervor zulasten der der Gesuchsgegnerin einzureichen.
Alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zulasten der Ge-
suchsgegnerin. "
- 3 -
4.
Am 16. Juni 2020 erliess der Vizepräsident folgende Verfügung:
1.
In Gutheissung des Gesuchs um Erlass superprovisorischer Mas-
snahmen vom 16. Juni 2020 wird der Gesuchstellerin die Vormer-
kung je einer vorläufigen Eintragung eines Bauhandwerker-
pfandrechts gemäss Art. 837/839 i.V.m. Art. 961 ZGB wie folgt
Fr. 22'619.22 zuzüglich. Zins zu 5 % seit 3. Juli 2020 auf Grdst.-
Nr. [...] (E-GRID: [...])
Fr. 52'303.98 zuzüglich Zins zu 5 % seit 3. Juli 2020 auf Grdst.-
Nr. [...] (E-GRID: [...]).
superprovisorisch bewilligt.
2.
Das Grundbuchamt Baden wird angewiesen, die Vormerkung ge-
mäss vorstehender Dispositiv-Ziff. 1 sofort einzutragen.
3.
Die Gesuchstellerin hat mit beiliegendem Einzahlungsschein bis
zum 30. Juni 2020 einen Gerichtskostenvorschuss von Fr. 2'00.00
zu leisten.
4.
Zustellung des Doppels des Gesuchs (inkl. Beilagen) vom 16. Juni
2020 an die Gesuchsgegnerin zur Erstattung einer schriftlichen
Antwort bis zum 30. Juni 2020.
5.
Fristerstreckungen werden grundsätzlich nicht gewährt. Aus-
nahmsweise ist eine Fristerstreckung beim Vorliegen zureichender
Gründe möglich (Art. 144 Abs. 2 ZPO). Als solche gelten die Zustim-
mung der Gegenpartei oder von der Partei nicht vorhersehbare oder
nicht beeinflussbare Hinderungsgründe.
6.
Der Stillstand der Fristen gemäss Art. 145 Abs. 1 ZPO gilt nicht
(Art. 145 Abs. 2 lit. b ZPO).
5.
Das Grundbuchamt Baden merkte die vorläufigen Eintragungen am
16. Juni 2020 (Tagebuchnummer 2020/[...]) im Tagebuch vor.
- 4 -
6.
Mit Gesuchsantwort vom 30. Juni 2020 stellte die Gesuchsgegnerin fol-
gende Rechtsbegehren:
" 1a. Das Gesuch sei abzuweisen.
1b.
Eventualiter sei ein Bauhandwerkerpfandrecht wie folgt im Grundbuch einzutragen:
- CHF 16'000.00 auf dem Grundstück Nr. [...] des [...] (E-GRID: [...]).
2. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen, zzgl. MWST, zu der Gesuchstellerin."
Der Vizepräsident zieht in Erwägung:
1. Zuständigkeit
Der Einzelrichter am Handelsgericht ist örtlich und sachlich zur Beurteilung
der im summarischen Verfahren zu behandelnden Streitigkeit zuständig
(vgl. dazu E. 4 der Verfügung vom 16. Juni 2020).
2. Allgemeine Voraussetzungen der vorläufigen Eintragung
2.1.
Die Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts setzt im Wesentlichen
die Forderung eines Bauhandwerkers oder Unternehmers für die Leistung
von Arbeit und allenfalls von Material zugunsten des zu belastenden
Grundstücks sowie die Wahrung der viermonatigen Eintragungsfrist voraus
(Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 und 839 Abs. 2 ZGB).
2.2.
Die Eintragungsvoraussetzungen sind im Verfahren betreffend vorläufige
Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts lediglich glaubhaft zu ma-
chen. An diese Glaubhaftmachung werden zudem weniger strenge Anfor-
derungen gestellt, als es diesem Beweismass für vorsorgliche Massnah-
men (Art. 261 ff. ZPO) sonst entspricht.1 Die vorläufige Eintragung darf nur
verweigert werden, wenn der Bestand des Pfandrechts ausgeschlossen o-
der höchst unwahrscheinlich erscheint. Im Zweifelsfall, bei unklarer Be-
weis- oder Rechtslage, ist die vorläufige Eintragung zu bewilligen und die
1 BGE 137 III 563 E. 3.3, 86 I 265 E. 3; vgl. auch SCHUMACHER, Das Bauhandwerkerpfandrecht,
3. Aufl. 2008, N. 1394; BSK ZGB II-THURNHERR, 6. Aufl. 2019, Art. 839/840 N. 37.
- 5 -
Entscheidung dem Richter im ordentlichen Verfahren zu überlassen.2 Letzt-
lich läuft es darauf hinaus, dass der gesuchstellende Unternehmer nur die
blosse Möglichkeit eines Anspruchs auf ein Bauhandwerkerpfandrecht
nachzuweisen hat.3
3. Pfandsumme
3.1. Parteibehauptungen
3.1.1. Gesuchstellerin
Die Gesuchstellerin behauptet, die Gesuchsgegnerin habe auf den beiden
Grundstücken Nrn. [...]je ein Einfamilienhaus nach dem Konzept eines Fer-
tighaustyps der albanischen Unternehmung [...] bauen wollen. Zunächst
habe die Gesuchsgegnerin hierfür im Jahr 2019 bei der deutschen A.
GmbH eine Offerte eingeholt (Gesuch Rz. III/2; GB 4). Mangels eigener Ka-
pazitäten habe die A. GmbH der Gesuchsgegnerin vorgeschlagen, die
Häuser von der Gesuchstellerin erstellen zu lassen, woraufhin diese der
Gesuchsgegnerin am 21. März 2019 das Angebot 2019-13 über ein Haus
zu Fr. 242'858.90 (exkl. MwSt.) gesandt habe (Gesuch Rz. III/3; GB 6).
Zwar habe die Gesuchsgegnerin dieses Angebot nie unterzeichnet, die bei-
den Häuser aber mündlich bestellt, von der Gesuchstellerin errichten las-
sen und dieser auch entsprechende Geldbeträge überwiesen (Gesuch
Rz. III/4 ff.; GB 7 ff.). Auf die Mehrwertsteuer habe die Gesuchstellerin ent-
gegenkommenderweise verzichtet (Gesuch Rz. III/6). Von den Pauschal-
beträgen seien derzeit noch Fr. 24'455.90 für das Haus 2 (Grdst.-Nr. [...])
offen (Gesuch Rz. III/7).
Darüber hinaus habe die Gesuchsgegnerin die Gesuchstellerin mit Regie-
arbeiten beauftragt. Für das Haus 1 (Grdst.-Nr. [...]) seien Arbeiten für das
Dachgeschoss (Fr. 12'000.00), den Sockel (Fr. 2'197.08), den Umbau
Wand/Dachgeschoss (Fr. 1'098.54) sowie die Vorbereitung Elektro und
Heizung (Fr. 7'323.60) angefallen. Für das Haus 2 (Grdst.-Nr. [...]) seien
Arbeiten für das Dachgeschoss (Fr. 12'000.00), den Sockel (Fr. 2'197.08),
den Umbau Wand/Dachgeschoss (Fr. 1'098.54), die Vorbereitung Elektro
und Heizung (Fr. 7'323.60), die Aussenfassade (Fr. 5'000.00) sowie die
Vorbereitungen für Wasserzuleitungen (Fr. 228.86) angefallen (Gesuch
Rz. III/8 f.).
Kurz vor der Fertigstellung der beiden Häuser sei es dann zu einer Ausei-
nandersetzung zwischen den Parteien gekommen und der Gesuchstellerin
seien die Arbeiten entzogen worden (Gesuch Rz. III/10 ff.; GB 13 ff.).
2 BGE 86 I 265 E. 3, 102 Ia 81 E. 2b.bb; BGer 5A_426/2015 vom 8. Oktober 2015 E. 3.4,
5A_924/2014 vom 7. Mai 2015 E. 4.1.2; SCHUMACHER, Das Bauhandwerkerpfandrecht, zur 3. Auflage, 2011, N. 628.
3 SCHUMACHER (Fn. 1), N. 1395.
- 6 -
3.1.2. Gesuchsgegnerin
Die Gesuchsgegnerin macht geltend, sie sei nicht mit der Gesuchstellerin,
sondern mit der deutschen A. GmbH ein Vertragsverhältnis eingegangen
(Antwort Rz. 5 und 7). Die seitens der Gesuchstellerin als GB 6 einge-
reichte Offerte befinde sich nicht in ihren Akten (Antwort Rz. 6). Richtig sei
zwar, dass die Gesuchstellerin für die deutsche A. GmbH – wohl als Sub-
unternehmerin – Arbeiten an den umstrittenen Grundstücken ausführte. Mit
den Zahlungen verhalte es sich allerdings so, dass die Gesuchsgegnerin
sämtliche Arbeiter auf der eigenen Baustelle selbst habe bezahlen wollen,
unabhängig davon, ob sie mit den entsprechenden Unternehmen in einem
Vertragsverhältnis gestanden habe (Antwort Rz. 7).
Die Gesuchstellerin habe unstrittig bereits EUR 427'567.05 und damit mehr
erhalten, als ihr nach Art. 377 OR zustehe (Antwort Rz. 7). Die Gesuchstel-
lerin selbst habe mitgeteilt, die offene Forderung belaufe sich noch auf
Fr. 16'000.00 (Antwort Rz. 7; Antwortbeilage [AB] 6), was als Schulderlass
zu qualifizieren sei (Antwort Rz. 12).
Die Gesuchstellerin mache ihre Arbeiten nicht glaubhaft. So habe sie im
Haus 2 keine Trockenbauarbeiten geleistet. Diese seien von der L. GmbH
erbracht und von der Gesuchsgegnerin bezahlt worden (Antwort Rz. 10;
AB 7 f.). Die Gesuchsgegnerin habe die Gesuchstellerin nicht mit Regiear-
beiten beauftragt. Solche seien auch nicht von der A. GmbH in Auftrag ge-
geben worden. Die Gesuchstellerin könne ihre angeblichen Regiearbeiten
nicht nachweisen. Sie habe im Dachgeschoss der beiden Häuser keine von
der Offerte der A. GmbH abweichende Arbeiten ausgeführt. Die Sockelar-
beiten seien zudem Teil des Pauschalpreises gewesen und nicht regiebe-
rechtigt. Die XPS-Platten seien von der L. GmbH angebracht worden. Die
Elektroarbeiten seien von der F. GmbH erledigt worden, die Heizungsar-
beiten und die Wasseranschlüsse von der A. H. GmbH. An den Hausfas-
saden seien keine von der Offerte abweichenden Arbeiten vorgenommen
worden. Mit der Wasserzuleitung zum Haus 2 habe die Gesuchstellerin
nichts zu tun gehabt, da die Sanitärarbeiten von der A. H. GmbH und die
Wasserzuleitungen von der R. GmbH erledigt worden seien (Antwort
Rz. 11, AB 9 ff.).
3.2. Rechtliches
Pfandberechtigt sind die Forderungen der Handwerker oder Unternehmer,
die auf einem Grundstück zu Bauten oder anderen Werken, zu Abbruchar-
beiten, zum Gerüstbau, zur Baugrubensicherung oder dergleichen Material
und Arbeit oder Arbeit allein geliefert haben (Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB).
Die mit dem Bauhandwerkerpfand zu sichernde bzw. die gesicherte Forde-
rung besteht entsprechend in der Vergütungsforderung des Handwerkers
oder Unternehmers. Sie ist mit dieser identisch. Für die Eintragung des
Bauhandwerkerpfandrechts im Grundbuch ist daher nach Art. 794 Abs. 1
- 7 -
i.V.m. Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB eine bestimmte Pfandsumme anzuge-
ben.4 Der Eintragungsanspruch richtet sich gegen diejenige Person, die im
fraglichen Zeitpunkt Eigentümerin des zu belastenden Grundstücks ist.5
Werden auf mehreren Grundstücken pfandberechtigte Leistungen er-
bracht, so ist die Pfandsumme auf die einzelnen Parzellen zu verteilen.6
Die Aufteilung hat derart zu erfolgen, dass jedes einzelne Grundstück nur
mit demjenigen Anteil belastet wird, der dem Anteil an den Bauarbeiten
entspricht, die tatsächlich für das betreffende Grundstück erbracht worden
sind. Die sich aus der Aufteilung ergebenden Teilbeträge sind in der Folge
als Teilpfandrechte i.S.v. Art. 798 Abs. 2 ZGB einzutragen.7 Der Unterneh-
mer hat grundsätzlich nachzuweisen, welche konkreten Leistungen an Ar-
beit und Material er zu welchen Preisen für jedes einzelne Grundstück er-
bracht hat.8 Im Verfahren betreffend vorläufige Eintragung ist indes – auf-
grund der drohenden Verwirkung bei Nichteintragung innerhalb der Frist
von Art. 839 Abs. 2 ZGB – eine Aufteilung auf die einzelnen Liegenschaften
nach Bruchteilen (etwa auf der Grundlage von Quadrat- oder Kubikmeter-
zahlen) statthaft. Die im Grundbuch vorläufig eingetragenen Teilpfandsum-
men sind dann im Verfahren betreffend definitive Eintragung aufgrund kon-
kreter Nachweise der auf den verschiedenen Grundstücken erbrachten
Leistungen zu berichtigen.9
3.3. Würdigung
Die Frage, ob die Gesuchstellerin mit der Gesuchsgegnerin oder mit der A.
GmbH in einem Vertragsverhältnis stand, kann vorliegend offenbleiben, da
die Gesuchsgegnerin als Grundstückeigentümerin auch dann passivlegiti-
miert ist (Drittpfandverhältnis), wenn die Gesuchstellerin nicht mit ihr, son-
dern mit einer anderen Gesellschaft in einem Vertragsverhältnis stand.10
3.3.1. Regiearbeiten
Die Gesuchstellerin substantiiert in ihrem Gesuch nirgends, wann und von
wem sie mit Regiearbeiten beauftragt worden sein soll und welche Arbeiten
sie genau an den beiden umstrittenen Häusern in Regie ausgeführt haben
will und wie sich diese zum Hauptauftrag verhalten. Die Gesuchsgegnerin
bestreitet eine solche Arbeitsausführung detailliert und behauptet und be-
legt, dass die entsprechenden Arbeiten von anderen Unternehmen ausge-
führt wurden (AB 10 ff.) oder unter den Hauptvertrag fielen. Die von der
4 SCHUMACHER (Fn. 1), N. 436, 438 und 547.
5 BGE 134 III 147 E. 4.3; BSK ZGB II-THURNHERR (Fn. 1), Art. 839/840 N. 22. 6 BSK ZGB II-THURNHERR (Fn. 1), Art. 839/840 N. 18 m.w.N. 7 SCHUMACHER (Fn. 1), N. 593, 837; vgl. BRITSCHGI Das belastete Grundstück beim Bauhandwerker-
pfandrecht, Luzerner Beiträge zur Rechtswissenschaft, Band/Nr. 30, 2008, S. 103-118, 105, 113 f.; vgl. auch MATHIS, Das Bauhandwerkerpfandrecht in der Gesamtüberbauung und im , 1988, S. 150, 152.
8 SCHUMACHER (Fn. 1), N. 593; BRITSCHGI (Fn. 7), S. 114; MATHIS (Fn. 7), S. 152. 9 Vgl. SCHUMACHER (Fn. 1), N. 840; BRITSCHGI (Fn. 7), S. 115; MATHIS (Fn. 7), S. 150 f.
10 BSK ZGB II-THURNHERR (Fn. 1), Art. 839/840 N. 10 m.w.N.
- 8 -
Gesuchstellerin geltend gemachten Ansprüche aus Regiearbeiten müssen
daher aufgrund des im vorliegenden Verfahren behaupteten Tatsachenfun-
daments als geradezu aussichtslos oder zumindest als höchst unwahr-
scheinlich bezeichnet werden, sodass das Gesuch in diesem Umfang ab-
zuweisen ist.
3.3.2. Pauschalpreis
Demgegenüber ist unbestritten, dass die Gesuchstellerin für die Erstellung
der beiden Häuser ursprünglich beauftragt wurde und hierfür ein Werkpreis
von Fr. 242'858.90 (exkl. MwSt.) pro Haus (vgl. GB 6), d.h. total
Fr. 485'717.80, vereinbart wurde. Unbestritten ist auch, dass die Zahlungen
in Euro zu erfolgen hatten und vom Pauschalpreis EUR 22'821.00 noch
unbezahlt blieben. Sowohl die Umrechnung in Schweizer Franken als auch
der Wechselkurs blieben unbestritten, weshalb von einem noch unbezahl-
ten Betrag von Fr. 24'455.90 ausgegangen werden kann. Die Gesuchsgeg-
nerin argumentiert zwar, der Gesuchstellerin stünde dieser Betrag gestützt
auf Art. 377 OR nicht zu, weil die Trockenbauarbeiten am Haus 2 nicht von
der Gesuchstellerin, sondern von der L. GmbH ausgeführt worden seien.
Im Gegensatz zu den Regiearbeiten ist betreffend diese Position immerhin
unbestritten, dass die Gesuchstellerin mit besagten Arbeiten ursprünglich
beauftragt wurde. Demnach kann nicht ausgeschlossen werden, dass der
Gesuchstellerin diesbezüglich noch eine Restforderung zusteht, womit das
Gesuch in diesem Umfang gutzuheissen ist. Über den genauen Umfang
der Restforderung und damit der Pfandsumme werden sich die Parteien im
Hauptsacheverfahren auseinanderzusetzen haben.
Die Gesuchsgegnerin macht zwar geltend, die Gesuchstellerin habe ihre
Forderung vorprozessual selbst nur auf Fr. 16'000.00 beziffert. Allerdings
kann die E-Mail vom 19. Februar 2020, 10:07 Uhr (AB 6) nicht ohne jene
vom 19. Februar 2020, 12:43 Uhr (GB 15) betrachtet werden. Daraus wird
klar, dass die Gesuchstellerin die Fr. 16'000.00 als Vergleichsangebot of-
feriert hatte und dass die E-Mails auch als solches verstanden werden
mussten. Da die Gesuchsgegnerin nicht behauptet, auf dieses Ver-
gleichsangebot eingegangen zu sein, wurde die Gesuchstellerin diesbe-
züglich wieder frei (Art. 5 OR) und kann vorliegend die gesamten
Fr. 24'455.90 als Pfandsumme geltend machen.
Der Behauptung der Gesuchstellerin, die Fr. 24'455.90 würden sich auf das
Haus Nr. 2 (Grdst.-Nr. [...]) beziehen, hält die Gesuchsgegnerin nichts mit
Substanz entgegen. Ihr Antrag, die allenfalls einzutragende Summe dem
Grundstück Nr. [...] zuzuweisen, blieb unbegründet genauso wie der Hin-
weis, mit einer hälftigen Zuweisung auf beiden Grundstücken eventualiter
einverstanden zu sein (Antwort Rz. 12). Die Vormerkung des Bauhandwer-
kerpfandrechts ist somit auf dem beantragten Grundstück Nr. [...] aufrecht-
zuerhalten.
- 9 -
3.4. Verzugszinsen
Gegen die Berücksichtigung der Verzugszinsen bringt die Gesuchsgegne-
rin nichts vor, weshalb es vorläufig bei der Würdigung gemäss der Erwä-
gung 5.3 der Verfügung vom 16. Juni 2020 bleibt. Im Grundbuch sind dem-
nach 5 % Verzugszinsen seit dem 3. Juli 2020 vorzumerken.
4. Eintragungsfrist
Die Einhaltung der viermonatigen Eintragungsfrist wird von der Gesuchs-
gegnerin nicht bestritten, weshalb es vorläufig bei der Würdigung gemäss
der Erwägung 5.2 der Verfügung vom 16. Juni 2020 bleibt.
5. Ergebnis
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Voraussetzungen für die vorläufige
Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts für eine Pfandsumme von
Fr. 24'455.90 zuzüglich Zins zu 5 % ab dem 3. Juli 2020 auf dem Grund-
stück Nr. [...] erfüllt sind und die mit Verfügung vom 16. Juni 2020 super-
provisorisch angeordnete Vormerkung der vorläufigen Eintragung eines
Bauhandwerkerpfandrechts in diesem Umfang zu bestätigen ist.
6. Prosequierung
Ist eine Klage auf definitive Eintragung des Bauhandwerkerpfandrechts
noch nicht rechtshängig, ist der gesuchstellenden Partei nach Art. 263 ZPO
eine Frist zur Einreichung der Klage mit der Androhung anzusetzen, dass
die Vormerkung der vorläufigen Eintragung im Grundbuch bei ungenutztem
Ablauf der Frist ohne Weiteres und ersatzlos gelöscht werde.11 Die Prose-
quierungsfrist beträgt nach handelsgerichtlicher Praxis bei Fällen der vor-
liegenden Grösse rund drei Monate. Der Fristenstillstand gemäss Art. 145
Abs. 1 ZPO ist bei der Prosequierungsfrist nach Art. 263 ZPO i.V.m.
Art. 961 Abs. 3 ZGB ausgeschlossen.12
7. Prozesskosten
Die Prozesskosten, bestehend aus Gerichtskosten und Parteientschädi-
gung, werden der unterliegenden Partei auferlegt (Art. 95 Abs. 1 und
Art. 106 Abs. 1 ZPO). Ausgangsgemäss sind sie zu zwei Dritteln von der
Gesuchstellerin und zu einem Drittel von der Gesuchsgegnerin zu tragen
(Fr. 24'455.90 / Fr. 74'923.20 [Fr. 22'619.22 + Fr. 52'303.98]).
7.1.
Unter Berücksichtigung des verursachten Aufwands sowie des Umfangs
der Streitigkeit werden die Gerichtskosten auf Fr. 2'000.00 festgesetzt (§ 8
VKD; SAR 221.150). Gestützt auf Art. 111 Abs. 1 Satz 1 ZPO werden sie
vorab mit dem von der Gesuchstellerin geleisteten Gerichtskostenvor-
schuss in Höhe von Fr. 2'000.00 verrechnet. Die Gesuchsgegnerin hat der
11 SCHUMACHER (Fn. 1), N. 672 ff. 12 BGE 143 III 554 E. 2.5.2 m.w.H.; vgl. auch SCHUMACHER (Fn. 1), N. 688.
- 10 -
Gesuchstellerin ihren Anteil an den Gerichtskosten, d.h. gerundet
Fr. 666.65, direkt zu ersetzen (vgl. Art. 111 Abs. 2 ZPO).
7.2.
Die Gesuchstellerin hat der Gesuchsgegnerin zudem eine Parteientschä-
digung zu bezahlen (Art. 106 Abs. 1 ZPO). Die Parteientschädigung wird
nach dem Streitwert – vorliegend Fr. 74'923.20 – bemessen (vgl. § 3 AnwT;
SAR 291.150). Ausgehend von einer Grundentschädigung von
Fr. 10'813.09 (§ 3 Abs. 1 lit. a Ziff. 9 AnwT) resultiert nach Vornahme eines
Summarabzugs von 75 % (§ 3 Abs. 2 AnwT) ein Betrag von rund
Fr. 2'703.27. Damit sind insbesondere eine Rechtsschrift und die Teil-
nahme an einer behördlichen Verhandlung abgegolten (vgl. § 6 Abs. 1
AnwT). Nach einem weiteren Abzug von 20 % wegen der nicht durchge-
führten Verhandlung (§ 6 Abs. 2 AnwT) und Hinzurechnung der Auslagen-
pauschale (§ 13 Abs. 1 AnwT) von praxisgemäss 3 %, resultiert ein Betrag
in Höhe von gerundet Fr. 2'227.50. Nach Verrechnung der Anteile am Ob-
siegen hat die Gesuchstellerin der Gesuchsgegnerin hiervon einen Drittel,
d.h. Fr. 742.50, als Parteientschädigung zu bezahlen hat.
Die Gesuchsgegnerin beantragt zudem einen Mehrwertsteuerzuschlag.
Dieser ist ihr zuzusprechen, da sie gemäss UID-Register13 über keine
Mehrwertsteuernummer verfügt und folglich nicht vorsteuerabzugsberech-
tigt ist.14
7.3.
Eine abweichende Verlegung der Prozesskosten im allenfalls vor Handels-
gericht stattfindenden Hauptprozess im ordentlichen Verfahren oder auf-
grund separater Verfügung bleibt vorbehalten.
13 Vgl. [...] (zuletzt besucht am 20. Juli 2020). 14 Vgl. Merkblatt zur Frage der Berücksichtigung der Mehrwertsteuer bei der Bemessung der Partei-
entschädigung der Gerichte des Kantons Aargau vom 11. Januar 2016: https://www.ag.ch//kanton_aargau/jb/dokumente_6/obergerichte/handelsgericht/Merkblatt_MwSt.pdf (letztmals am 20. Juli 2020).
https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/obergerichte/handelsgericht/Merkblatt_MwSt.pdf https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/obergerichte/handelsgericht/Merkblatt_MwSt.pdf
- 11 -
Der Vizepräsident erkennt:
1.
In teilweiser Gutheissung des Gesuchs vom 16. Juni 2020 werden die mit
Verfügung vom 16. Juni 2020 zugunsten der Gesuchstellerin wie folgt
Fr. 22'619.22 zuzüglich. Zins zu 5 % seit 3. Juli 2020 auf Grdst.-
Nr. [...] (E-GRID: [...]), und
Fr. 52'303.98 zuzüglich Zins zu 5 % seit 3. Juli 2020 auf Grdst.-
Nr. [...] (E-GRID: [...]).
superprovisorisch angeordneten Vormerkungen vorsorglich teilweise wie
folgt bestätigt:
Fr. 24'455.90 zuzüglich Zins zu 5 % seit 3. Juli 2020 auf Grdst.-
Nr. [...] (E-GRID: [...]).
2.
Das Grundbuchamt Baden wird gemäss Dispositiv-Ziff. 1 angewiesen,
die Vormerkung auf dem Grdst.-Nr. [...] (E-GRID: [...]) vollständig
zu löschen, und
die Vormerkung auf dem Grdst.-Nr. [...] (E-GRID: [...]) im Umfang
von Fr. 24'455.90 zuzüglich Zins zu 5 % seit 3. Juli 2020 aufrecht-
zuerhalten und im darüber hinausgehenden Umfang zu löschen.
3.
3.1.
Die Gesuchstellerin hat bis zum 21. Oktober 2020 beim zuständigen Ge-
richt im ordentlichen Verfahren Klage auf definitive Eintragung des Bau-
handwerkerpfandrechts anzuheben.
3.2.
Im Säumnisfall fällt die in der vorstehenden Dispositiv-Ziff. 1 angeordnete
vorsorgliche Massnahme dahin, wobei die Vormerkung im Grundbuch nur
auf entsprechendes Gesuch hin gelöscht wird.
3.3.
Es gilt kein Stillstand der Fristen.
4.
4.1.
Die Gerichtskosten in Höhe von Fr. 2'000.00 sind zu zwei Dritteln von der
Gesuchstellerin und zu einem Drittel von der Gesuchsgegnerin zu tragen
- 12 -
und werden mit dem von der Gesuchstellerin geleisteten Gerichtskosten-
vorschuss in Höhe von Fr. 2'000.00 verrechnet. Die Gesuchsgegnerin hat
die von ihr zu tragenden Gerichtskosten im Umfang von Fr. 666.65 der Ge-
suchstellerin direkt zu ersetzen.
4.2.
Die Gesuchstellerin hat der Gesuchsgegnerin deren Parteikosten in rich-
terlich festgesetzter Höhe von Fr. 742.50 (zzgl. MwSt.) zu ersetzen.
4.3.
Eine abweichende Verlegung der Prozesskosten mittels separater Verfü-
gung oder im ordentlichen Verfahren bleibt vorbehalten, falls dieses vor
dem Handelsgericht stattfindet.
Zustellung an:
die Gesuchstellerin (Vertreter; zweifach mit Abrechnung)
die Gesuchsgegnerin (Vertreter; zweifach)
Zustellung an:
das Grundbuchamt Baden (nach Ablauf der Rechtsmittelfrist)
Rechtsmittelbelehrung für die Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 ff.,
Art 90 ff. BGG)
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen, von der schriftlichen Eröff-
nung der vollständigen Ausfertigung des Entscheids an gerechnet, die Be-
schwerde an das Schweizerische Bundesgericht erhoben werden.
Die Beschwerde ist schriftlich oder in elektronischer Form beim Schweize-
rischen Bundesgericht einzureichen. Die Beschwerdeschrift ist in einer
Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit An-
gabe der Beweismittel und die Unterschriften bzw. eine anerkannte elekt-
ronische Signatur zu enthalten. In der Begründung ist in gedrängter Form
darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid verfassungsmässige
Rechte (Art. 98 ff. BGG) verletzt. Die Urkunden, auf die sich die Partei als
Beweismittel beruft, sind beizulegen, soweit die Partei sie in den Händen
hat; ebenso ist der angefochtene Entscheid beizulegen (Art. 42 BGG).
- 13 -
Aarau, 20. Juli 2020
Handelsgericht des Kantons Aargau
2. Kammer
Der Vizepräsident: Der Gerichtsschreiber:
Vetter Schneuwly | 6,558 | 4,634 | AG_HG_002 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_002_-Handelsrecht-Bauhan_2020-06-20 | https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/gesetze___entscheide/gesetze_2/handelsrecht/Entscheid_des_Handelsgerichts_vom_20._Juni_2020.pdf | null | nan |
||
c4e8c54e-c238-52e5-bf1b-024061cfb7b7 | 1 | 417 | 871,700 | 1,057,276,800,000 | 2,003 | de | 2003
Zivilprozessrecht
59
14
§ 9 ZPO.
Privatrechtliche Streitsache.
Der Streit um die Ausweisung des Wohnungsinhabers aus einer diesem
durch die Gemeinde im Rahmen der Sozialhilfe zur unentgeltlichen Be-
nutzung zugewiesenen Wohnung ist keine privatrechtliche Streitsache
und nicht durch Mietausweisungsentscheid des Zivilrichters, sondern
durch beschwerdefähigen Räumungsentscheid der Sozialbehörde der
Gemeinde (§ 44 Abs. 2 SPG) zu erledigen.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 4. Zivilkammer, vom 11. Juli 2003 in
Sachen Gemeinde R. gegen R. S.
Sachverhalt
Die Gemeinde R. wies vor zehn Jahren der damals bedürftigen
Beklagten St. im Rahmen der Sozialhilfe eine gemeindeeigene Woh-
nung zur unentgeltlichen Benutzung zu. Sie erachtete anfangs 2000
die Bedürftigkeit nicht mehr als gegeben und forderte die Beklagte
zur Räumung der Wohnung und Bezahlung eines monatlichen Woh-
nungskostenanteils von Fr. 100.-- bis zum Auszug auf, kündigte, als
die Beklagte der Räumungsaufforderung nicht nachkam, am 28. Ok-
tober 2002 mit amtlichem Formular (Art. 266l Abs. 2 OR) die Woh-
nung auf den 31. März 2003 und reichte am 1. Mai 2003 beim Ge-
richtspräsidium B. ein Mietausweisungsbegehren ein.
Das Gerichtspräsidium B. erledigte dieses Begehren in Erwä-
gung, dass kein privatrechtliches Mietverhältnis vorliege und daher
der Rechtsweg nicht offen stehe, durch Nichteintretensentscheid vom
21. Mai 2003. Das Obergericht, 4. Zivilkammer, hat diesen Nichtein-
tretensentscheid in Abweisung der Beschwerde der Gemeinde R. mit
Entscheid vom 11. Juli 2003 bestätigt.
2003
Obergericht/Handelsgericht
60
Aus den Erwägungen
1. Die Zivilgerichte sind zuständig, privatrechtliche Streitigkei-
ten zu entscheiden (§ 9 Abs. 1 ZPO). Die Zulässigkeit des Rechts-
wegs ist als Prozessvoraussetzung von Amtes wegen zu prüfen (§ 72
Abs. 2 ZPO; Bühler/Edelmann/Killer, Kommentar Zivilprozessord-
nung, N 29 zu § 9 und N 8 zu § 72).
2. Die Gemeinde R. hat der Beklagten die Wohnung auf Grund-
lage und im Rahmen der Sozialhilfegesetzgebung zugewiesen.
a) Materielle Hilfe wird regelmässig durch Geldleistungen ge-
währt (§ 9 Abs. 1 des Gesetzes vom 6. März 2001 über die öffentli-
che Sozialhilfe und die soziale Prävention [Sozialhilfe- und Präven-
tionsgesetz, SPG; SAR 851.200]; § 14 altSozialhilfegesetz vom
2. März 1982 [altSHG; AGS Bd. 11 Nr. 5]), kann aber unter besonde-
ren Umständen auch auf andere Weise erbracht werden (§ 9 Abs. 2
SPG; § 14 altSHG), namentlich durch Direktzahlungen oder Sach-
leistungen (§ 8 Abs. 3 der Sozialhilfe- und Präventionsverordnung
vom 28. August 2002 [SPV; SAR 851.211]; § 16 altSozialhilfever-
ordnung vom 18. April 1983 [altSHV; AGS 11 Nr. 6]). In der Regel
wird der Anspruch auf Obdach (§ 3 Abs. 1 SPV) als Teil des An-
spruchs auf Existenzsicherung (Kathrin Amstutz, Das Grundrecht auf
Existenzsicherung, Diss. Bern 2002, S. 212 ff.) dadurch sicherge-
stellt, dass die Sozialbehörde die erforderlichen Kosten für die Miete
einer Wohnung bei der Bemessung der materiellen Hilfe berücksich-
tigt und Geldleistungen gewährt, welche der unterstützten Person die
Miete einer angemessenen Wohnung auf dem Wohnungsmarkt erlau-
ben.
b) Möglich ist aber auch die Unterbringung in einer gemeinde-
eigenen Wohnung. Dabei ist denkbar, dass die Gemeinde einerseits
einen privatrechtlichen Mietvertrag mit der unterstützten Person mit
einem marktkonformen Mietzins abschliesst und andererseits die
Mietkosten im Sozialhilfebudget berücksichtigt. Diesfalls läge ein
Mietverhältnis vor, das dem Obligationenrecht unterliegt. Davon ab-
gekoppelt würde die Sozialhilfe durch Geldleistung erbracht, was der
unterstützten Person die Bezahlung der Miete in der gemeindeeige-
nen Wohnung erlaubt. Wenn in einem solchen Fall die Voraussetzun-
2003
Zivilprozessrecht
61
gen der materiellen Hilfe nicht mehr gegeben sind, so hätte dies kei-
nen Einfluss auf das Mietverhältnis, das fortbestehen würde und nur
unter den mietrechtlichen Voraussetzungen des Obligationenrechts
geändert oder gekündigt werden könnte.
c) Vorliegend wurde mit der Beklagten aber kein Mietvertrag
abgeschlossen. Vielmehr wurde ihr eine Wohnung zugewiesen, ohne
dass sie dafür eine Entschädigung leisten musste. Sozialhilferechtlich
wurde der Beklagten Obdach durch Sachleistung gewährt. Ein pri-
vatrechtliches Vertragsverhältnis wurde nicht begründet. Einen An-
teil an die Nebenkosten verlangte die Klägerin erst, nachdem sie die
Beklagte aufgefordert hatte, sich nach einer neuen Wohnung umzuse-
hen, weil die Voraussetzungen der Gewährung von materieller Hilfe
nicht mehr erfüllt seien.
d) Damit aber liegt, wie das Gerichtspräsidium B. zutreffend er-
kannt hat, keine zivilrechtliche Streitigkeit über die Beendigung ei-
nes Mietvertrags vor, sondern ein öffentlich-rechtlicher Streit da-
rüber, ob die Klägerin der Beklagten weiterhin Obdach zu gewähren
hat und ob, falls dies nicht mehr der Fall ist, die Beklagte die Woh-
nung räumen muss. Darüber aber hat die Sozialbehörde zu entschei-
den (§ 44 Abs. 2 SPG), deren Entscheid beim Bezirksamt und dem
Verwaltungsgericht angefochten werden kann (§ 58 SPG). | 1,194 | 939 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2003-14_2003-07-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2003-14.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2003-14.pdf | AGVE_2003_14 | null | nan |
c6231dfb-5a2d-5838-b1d4-33a2ec928199 | 1 | 417 | 871,565 | 1,141,344,000,000 | 2,006 | de | 2006
Strafprozessrecht
57
IV. Strafprozessrecht
12
§ 67 Abs. 2 StPO; § 76 Abs. 3 StPO; § 213 StPO
Gegen die Anordnung von Haft zur Sicherung des Strafvollzugs gemäss
§ 67 Abs. 2 StPO durch das Bezirksamt ist das Rechtsmittel der Be-
schwerde nicht gegeben. Vielmehr ist beim Präsidenten der Beschwerde-
kammer ein Haftentlassungsgesuch zu stellen (Erw. 1).
Ist ein Strafbefehl in Rechtskraft erwachsen und ist der Verurteilte in
Haft, sind für die Entlassung die Vollzugsbehörden zuständig (Erw. 2).
Aus dem Entscheid des Obergerichts, Beschwerdekammer in Straf-
sachen, vom 3. März 2006 i.S. M.C.
Sachverhalt
1. M.C. wurde mit Strafbefehl des Bezirksamts X. vom 1. Feb-
ruar 2006 wegen rechtswidrigen Aufenthalts gemäss Art. 23 Abs. 1
ANAG mit 90 Tagen Gefängnis unbedingt, unter Anrechnung von ei-
nem Tag Untersuchungshaft, bestraft. Der Strafbefehl wurde ihm am
1. Februar 2006 zugestellt und ist in Rechtskraft erwachsen.
2. Am 1. Februar 2006 verfügte das Bezirksamt X. zudem:
"1.
Der Beschuldigte wird gemäss § 67 Abs. 2 StPO zur Sicherung des
Strafvollzugs in Haft gesetzt.
2.
Diese sicherheitspolizeiliche Anordnung folgt im Anschluss an die
Untersuchungshaft mit Beginn am 01.02.2006, 18:00 Uhr.
3.
Erhebt der Verurteilte gegen den die Sicherheitshaft begründenden
Strafbefehl Einsprache, bleibt die bisherige Untersuchungshaft beste-
hen.
2006
Obergericht
58
4.
[Zustellung]"
3. Gegen die Verfügung vom 1. Februar 2006 betreffend Anord-
nung von Haft zur Sicherung des Strafvollzugs reichte M.C. am
3. Februar 2006 innert gesetzlicher Frist Beschwerde ein mit den An-
trägen:
"1.
Unter der Bedingung, die Schweiz sofort zu verlassen, umgehende
Entlassung aus der Haft.
2.
[...]."
Aus den Erwägungen
1. Entgegen der Rechtsmittelbelehrung auf der Verfügung des
Bezirksamts X. vom 1. Februar 2006 ist gegen die Haftanordnung
des Bezirksamts der Beschwerdeweg nicht gegeben, und der Be-
schuldigte wäre gehalten gewesen, beim Präsidenten der Beschwer-
dekammer ein Haftentlassungsgesuch zu stellen. Auf seine Be-
schwerde ist folglich nicht einzutreten.
2. Nachdem in der Zwischenzeit der Strafbefehl in Rechtskraft
erwachsen ist, sind für Haftfragen nicht mehr der Präsident der Be-
schwerdekammer, sondern die Vollzugsbehörden zuständig. Es erüb-
rigt sich demnach eine Überweisung der Eingabe des Verurteilten als
Haftentlassungsgesuch an den Präsidenten der Beschwerdekammer.
Der Verurteilte hat allfällige Haftentlassungsgesuche beim Departe-
ment für Volkswirtschaft und Inneres, Sektion Straf- und Massnah-
menvollzug, zu stellen. | 608 | 481 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2006-12_2006-03-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2006-12.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2006-12.pdf | AGVE_2006_12 | null | nan |
c67a4c31-6586-5811-9952-afd7159cd51a | 1 | 417 | 869,674 | 1,025,654,400,000 | 2,002 | de | 2002
Zivilrecht
33
C. Erbrecht
4
Art. 517 ZGB; Willensvollstrecker
Dem Willenvollstrecker kann auch eine Erbbescheinigung als Legitima-
tionsurkunde dienen. Wird die Willensvollstreckerstellung bestritten, ist
ein entsprechender Hinweis aufzunehmen. Die ausstellende Behörde hat
keine Kognitionsbefugnis, ob die Ernennung des Willensvollstreckers
rechtsgültig ist.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 3. Zivilkammer, vom 9. Juli 2002 i.S.
T.B.
Sachverhalt
Im Erbvertrag zwischen M.A. (Erblasser) und seiner Ehefrau,
E.A. vom 18. April 1985 wurde Notar L. als Willensvollstrecker und
Erbschaftsliquidator bestimmt. Am 11. November 2001 schloss der
Erblasser mit Frau R. ebenfalls einen Erbvertrag ab. In Ziffer III.1.
des Vertrages hoben die Parteien sämtliche, allfällig errichteten
Verfügungen von Todes wegen auf und setzten in Ziffer IV als Wil-
lensvollstrecker je einzeln und letztwillig den Beschwerdeführer ein.
Der Beschwerdeführer rügt die Einsetzung von L. in der Erbgangsur-
kunde.
Aus den Erwägungen
3. a) Im Erbfall ist dem Willensvollstrecker seine Ernennung
von Amtes wegen mitzuteilen. Dieser hat sich binnen 14 Tagen, von
der Mitteilung an gerechnet, über die Annahme des Auftrages zu
erklären, wobei sein Stillschweigen als Annahme gilt (Art. 517
Abs. 2 ZGB). Die behördliche Mitteilung ist nicht konstitutiv, da die
Ernennung bereits durch die Verfügung von Todes wegen erfolgt. Die
2002
Obergericht/Handelsgericht
34
behördliche Mitteilung setzt lediglich das ordentliche Annahmever-
fahren in Gang (Karrer, Basler Kommentar, Basel 1996, N 14 zu
Art. 517 ZGB). Die handelnde Behörde hat dabei keine Kog-
nitionsbefugnis, ob die Einsetzung des Willensvollstreckers rechts-
gültig ist oder nicht. Die Mitteilung hat daher auch dann zu erfolgen,
wenn die Behörde die letztwillige Verfügung als ungültig oder an-
fechtbar erachtet oder wenn mehrere Verfügungen vorliegen und in
einer jüngeren die frühere Ernennung eines Willensvollstreckers wi-
derrufen wird (Karrer, a.a.O., N 11 zu Art. 517 ZGB mit Hinweis auf
BGE 74 I 423 ff. und 91 II 177 ff.). Die Behörde darf daher auch
nicht prüfen, welche von mehreren Verfügungen rechtsgültig ist,
wenn
der
Erblasser
nacheinander
oder
gleichzeitig
mehrere
Willensvollstrecker eingesetzt hat; dies ist Sache des ordentlichen
Richters. Sie hat vielmehr allen eingesetzten Willensvollstreckern
von deren Ernennung Mitteilung zu machen. Die Vorinstanz hat da-
her zu Recht sowohl L. als auch den Beschwerdeführer auf ihre
Ernennung hingewiesen.
b) Der eingesetzte Willensvollstrecker hat Anspruch auf ein
Willensvollstreckerzeugnis, d.h. auf eine behördliche Legitimations-
urkunde über seine Stellung. Das Willensvollstreckerzeugnis hat nur
deklaratorischen Charakter und dient dem Willensvollstrecker zum
Beweis für seine Ernennung und seine Annahme (Karrer, a.a.O.,
N 18 zu Art. 517 ZGB). Wird die Willensvollstreckung bestritten, so
ist die Bescheinigung nicht vorbehaltlos auszustellen. Es sind darin
vielmehr die bestrittenen Punkte zu vermerken, damit der Ausweis
Dritten nicht eine unumstrittene und rechtskräftige Willensvoll-
streckerstellung vortäuscht (Karrer, a.a.O., N 19 zu Art. 517 ZGB mit
Hinweis auf BGE 91 II 177 ff.; Piotet, Erbrecht, in: SPR IV/1, Basel
1978, S. 158; Wetzel, Interessenskonflikte des Willensvollstreckers,
Zürich 1985, N 120 f.). Dies hat zur Folge, dass sich die Aufgabe des
(bestrittenen) Willensvollstreckers auf sichernde und sonstige zur or-
dentlichen Verwaltung gehörende Massnahmen beschränkt (Wetzel,
a.a.O., N 120 f.; Studer, Beginn, Abwicklung und Beendigung des
Willensvollstreckermandats, in: Druey/Breitschmid [Hrsg.], Willens-
vollstreckung, Bern/Stuttgart/Wien 2001, S. 73).
2002
Zivilrecht
35
Neben dem Willensvollstreckerausweis kann dem Willensvoll-
strecker auch die Erbbescheinigung nach Art. 559 ZGB zur Legiti-
mation dienen, da diese notwendigerweise die Willensvollstreckung
und den Namen des Willensvollstreckers enthalten muss (Karrer,
a.a.O., N 20 zu Art. 517 ZGB). Wie das Willensvollstreckerzeugnis
hat auch die Erbbescheinigung bei bestrittener Stellung des Willens-
vollstreckers einen entsprechenden Hinweis zu enthalten.
c) In der - in der Erbgangsurkunde integrierten - Erbbescheini-
gung vom 20. März 2002 hielt das Gerichtspräsidium B. fest, dass als
Willensvollstrecker Notar L. designiert wurde und dieser sein Amt
stillschweigend angenommen habe. Den Beschwerdeführer erwähnt
die Erbbescheinigung trotz seiner Ernennung durch den Erblasser im
Erbvertrag bzw. in der letztwilligen Verfügung vom 11. November
2001 nicht. Nach dem vorstehend Ausgeführten ist dieser aber eben-
falls als Willensvollstrecker aufzunehmen und zwar mit dem Hin-
weis, dass die Person des Willensvollstreckers bestritten wird. Die
Vorinstanz hat daher die Erbbescheinigung vom 20. März 2002 zu-
rückzuziehen und durch eine neue, korrigierte bzw. ergänzte zu erset-
zen (vgl. auch Karrer, a.a.O., N 47 zu Art. 559 ZGB). | 1,223 | 922 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2002-4_2002-07-03 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2002-4.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2002-4.pdf | AGVE_2002_4 | null | nan |
c69b9092-4fd2-582c-aa5b-a7d47c43cdce | 1 | 417 | 870,547 | 970,617,600,000 | 2,000 | de | 2000
Obergericht
42
[...]
8
Art. 84 SchKG.
Der Gesetzgeber hat mit dem in Art. 84 SchKG statuierten Beschleuni-
gungsgebot eine Einschränkung des rechtlichen Gehörs vorgesehen, so
2000
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
43
dass der Rechtsöffnungsrichter nach Einholung der schriftlichen Stel-
lungnahme des Betriebenen ohne Ansetzung einer Verhandlung und ohne
Berücksichtigung nachträglich eingereichter Beweismittel seinen Ent-
scheid fällen darf.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, 4. Zivilkammer, vom 19. Oktober
2000 in Sachen N.A.B. gegen S. L.
Aus den Erwägungen
1. a) Gemäss Art. 84 Abs. 2 SchKG gibt der Rechtsöffnungs-
richter dem Betriebenen sofort nach Eingang des Gesuches Gelegen-
heit zur mündlichen oder schriftlichen Stellungnahme und eröffnet
danach innert fünf Tagen seinen Entscheid. Diese Regelung lässt den
Kantonen die Wahl zwischen dem schriftlichen und dem mündlichen
Verfahren (Daniel Staehelin, Kommentar zum Bundesgesetz über
Schuldbetreibung und Konkurs, Basel/Genf/München 1998, N. 41 zu
Art. 84 SchKG mit Hinweisen). Aus der Formulierung geht klar her-
vor, dass der Bundesgesetzgeber für das im Summarverfahren abzu-
wandelnde Rechtsöffnungsverfahren im Vergleich zum ordentlichen
Verfahren auch in Bezug auf den Gehörsanspruch Einschränkungen
vornehmen wollte. Hätte der Bundesgesetzgeber den Parteien das
volle rechtliche Gehör gewähren wollen, so hätte er den Rechtsöff-
nungsrichter nicht dazu angehalten, seinen Entscheid in der kurzen
Frist von fünf Tagen zu erlassen. Der Anspruch auf Gewährung des
vollen rechtlichen Gehörs und das Beschleunigungsgebot gemäss
Art. 84 Abs. 2 SchKG sind nicht miteinander vereinbar. In diesem
Interessenkonflikt hat sich der Gesetzgeber klar für die zeitliche Be-
schleunigung und damit die Beschränkung des rechtlichen Gehörs
ausgesprochen. Darauf weist auch die Verwendung des Wortes "da-
nach" in der erwähnten Bestimmung hin. Nach Eingang des Gesuchs
ist der Gegenpartei Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme zu
geben oder es ist zu einer mündlichen Verhandlung vorzuladen. Das
2000
Obergericht
44
kantonale summarische Verfahren stellt dem Ermessen des Summar-
richters anheim, welchen dieser beiden Wege er wählt (§ 292 ZPO).
b) Bei der gesetzlich genannten Frist von fünf Tagen zur Eröff-
nung des Entscheids handelt es sich um eine Ordnungsvorschrift, die
gemäss Lehre und Praxis nur dahin ausgelegt werden kann, dass
Art. 84 SchKG jeden Verfahrensaufschub verbietet (Staehelin, a.a.O.,
N. 62 zu Art. 84 SchKG mit Hinweisen). Damit im Einklang steht
auch Art. 82 Abs. 2 SchKG, gemäss welchem der Betriebene Ein-
wendungen, welche die Schuldanerkennung entkräften,
sofort
glaub-
haft zu machen hat. Unter diesem Aspekt sind die Beweismittel, die
von den Parteien angerufen werden können, beschränkt (Staehelin,
a.a.O., N. 56 zu Art. 84 SchKG mit Hinweisen). Im provisorischen
Rechtsöffnungsverfahren gelangen von Bundesrechts wegen grund-
sätzlich alle Beweismittel zur Verwertung, soweit das Rechtsöff-
nungsverfahren dadurch keine Verzögerung erfährt. Der Rechtsöff-
nungsrichter wird aber aufgrund des Rechtsöffnungsbegehrens oder
einer Stellungnahme des Betriebenen keine Beweisanordnung im
Sinne von § 205 ZPO erlassen und gestützt darauf Zeugen vorladen,
da ein derartiges Vorgehen wegen der damit verbundenen zeitlichen
Verzögerung Art. 84 SchKG verletzte. Hingegen hat er die an der
Gerichtsverhandlung oder im schriftlichen Verfahren offerierten und
sofort abnehmbaren Beweismittel zu berücksichtigen. Auf diese Wei-
se ist gewährleistet, dass der Betriebene Einwendungen im Sinne von
Art. 82 Abs. 2 SchKG sofort glaubhaft machen kann.
c) Aus vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass die Vorin-
stanz nach Einholung der Stellungnahme (Klageantwort) beim Be-
klagten auf die Ansetzung einer Verhandlung verzichten durfte. Das
rechtliche Gehör wurde dadurch nicht verletzt. Falls keine Verhand-
lung durchgeführt wird, hat der Schuldner, der seine Einwendungen
mit Zeugenbeweis führen will, in der Klageantwort schriftliche Er-
klärungen dieser Personen einzureichen (Staehelin, a.a.O., N. 56 zu
Art. 84 SchKG mit Hinweisen), auch wenn der Beklagte in der Be-
schwerde zu Recht darauf hinweist, dass die vorgängige Kontaktie-
2000
Schuldbetreibungs- und Konkursrecht
45
rung von Zeugen und Einholung von schriftlichen Erklärungen einen
negativen Einfluss auf den Beweiswert der Aussagen haben kann
(Beschwerde S. 5). Allerdings stellt diesbezüglich das Gewicht der
Zeugenaussage unter Strafdrohung in einem späteren Prozess nach
wie vor ein genügendes Gegengewicht dar. Ein Anspruch auf Durch-
führung einer Verhandlung unter Vorladung der angebotenen Zeugen
besteht wegen des Beschleunigungsgebotes nicht. | 1,024 | 840 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2000-8_2000-10-04 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2000-8.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2000-8.pdf | AGVE_2000_8 | null | nan |
c7d1ff60-0227-4210-b1e8-3fafb381e327 | 1 | 414 | 1,497,321 | 1,600,214,400,000 | 2,020 | de | Urteil/Entscheid
Handelsgericht
2. Kammer
HSU.2020.76 / as / mv
Entscheid vom 16. September 2020
Besetzung Oberrichter Vetter, Vizepräsident
Gerichtsschreiber-Stv. Stich
Gesuchstellerin M. AG, _
vertreten durch lic. iur. Christian Bär, Rechtsanwalt, Hintere Bahn-
hofstrasse 6, 5001 Aarau
Gesuchsgegne-
rin
I. AG, _
vertreten durch Rechtsanwalt Luc André, Av. Montbenon 2, 5475,
1002 Lausanne
Gegenstand Summarisches Verfahren betreffend Bauhandwerkerpfandrecht
- 2 -
Der Vizepräsident entnimmt den Akten:
1.
Die Gesuchstellerin ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in O. (SO). Sie be-
zweckt insbesondere die _ (Gesuchsbeilage [GB] 2).
2.
Die Gesuchsgegnerin ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in F. Sie hat fol-
genden Zweck: _" (GB 6).
Die Gesuchsgegnerin ist Alleineigentümerin der Grdst.-Nrn. 1 GB R. (E-
GRID: CH 123; GB 3), 2 GB R. (E-GRID: CH 456; GB 5) und 3 GB R. (E-
GRID: CH 789; GB 4).
3.
Mit Gesuch vom 31. August 2020 (am 31. August 2020 persönlich über-
bracht) stellte die Gesuchstellerin die folgenden Rechtsbegehren:
[...]
4.
Am 1. September 2020 erliess der Vizepräsident des Handelsgerichts
folgende Verfügung:
1.
Der Eingang des Gesuchs vom 31. August 2020 wird den Parteien bestä-
tigt.
2.
Die Streitsache gehört ins summarische Verfahren (Art. 248 ZPO).
3.
Das Gesuch um Erlass superprovisorischer Massnahmen vom 31. August
2020 wird abgewiesen.
4.
Die Gesuchsstellerin hat bis 15. September 2020 einen Kostenvorschuss
von Fr. 12'000.00 an die Obergerichtskasse mit beiliegendem Einzah-
lungsschein zu bezahlen (Art. 98 ZPO i.V.m. Art. 101 ZPO).
5.
Der Gesuchsgegnerin wird Frist bis 15. September 2020 für die Erstat-
tung einer schriftlichen Antwort angesetzt.
6.
Fristerstreckungen werden grundsätzlich nicht gewährt. Ausnahmsweise
ist eine Fristerstreckung beim Vorliegen zureichender Gründe möglich (Art.
144 Abs. 2 ZPO). Als solche gelten die Zustimmung der Gegenpartei oder
- 3 -
von der Partei nicht vorhersehbare oder nicht beeinflussbare Hinderungs-
gründe.
7.
Der Stillstand der Fristen gemäss Art. 145 Abs. 1 ZPO gilt nicht
(Art. 145 Abs. 2 lit. b ZPO).
5.
Am 15. September 2020 reichte die Gesuchstellerin eine (sprachlich
schwer verständliche) Gesuchsantwort ein. Sie stellte darin weder ein
Rechtsbegehren, noch bestritt sie den Tatsachenvortrag der Gesuchstelle-
rin.
Der Vizepräsident zieht in Erwägung:
1. Zuständigkeit
1.1.
Bei der vorläufigen Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts handelt
es sich um einen Anwendungsfall des vorsorglichen Rechtsschutzes i.S.v.
Art. 261 ff. ZPO.1 Für den Erlass superprovisorischer und vorsorglicher
Massnahmen ist deshalb das Gericht am Ort, an dem die Zuständigkeit für
die Hauptsache gegeben ist oder am Ort, wo die Massnahme vollstreckt
werden soll, zwingend örtlich zuständig (Art. 13 ZPO). Für Klagen auf Er-
richtung gesetzlicher Pfandrechte ist das Gericht am Ort, an dem das
Grundstück im Grundbuch aufgenommen ist, zuständig (Art. 29 Abs. 1 lit. c
ZPO). Die Grundstücke der Gesuchsgegnerin, auf welchen die Gesuchstel-
lerin Bauhandwerkerpfandrechte vorläufig eintragen lassen will, befinden
sich in R. (AG) (GB 3-5). Die örtliche Zuständigkeit der aargauischen Ge-
richte ist gegeben.
1.2.
Die sachliche Zuständigkeit des Einzelrichters am Handelsgericht für den
Erlass superprovisorischer und vorsorglicher Massnahmen ergibt sich aus
Art. 6 Abs. 2 und 3 ZPO i.V.m. Art. 6 Abs. 5 ZPO und § 13 Abs. 1 lit. a EG
ZPO AG, da die geschäftliche Tätigkeit mindestens einer Partei betroffen
ist, gegen den Entscheid – bei einem behaupteten Streitwert von zusam-
mengerechnet Fr. 6'785'318.45 (vgl. Art. 51-53 BGG) – die Beschwerde in
Zivilsachen an das Bundesgericht offensteht und die Parteien im schwei-
zerischen Handelsregister eingetragen sind.
1 BGE 137 III 563 E. 3.3.
- 4 -
2. Allgemeine Voraussetzungen der vorläufigen Eintragung
2.1.
Die Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts setzt im Wesentlichen
die Forderung eines Bauhandwerkers oder Unternehmers für die Leistung
von Arbeit und allenfalls von Material zugunsten des zu belastenden
Grundstücks sowie die Wahrung der viermonatigen Eintragungsfrist voraus
(Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 und 839 Abs. 2 ZGB).
2.2.
Die Eintragungsvoraussetzungen sind im Verfahren betreffend vorläufige
Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts lediglich glaubhaft zu ma-
chen. An diese Glaubhaftmachung werden zudem weniger strenge Anfor-
derungen gestellt, als es diesem Beweismass für vorsorgliche Massnah-
men (Art. 261 ff. ZPO) sonst entspricht.2 Die vorläufige Eintragung darf nur
verweigert werden, wenn der Bestand des Pfandrechts ausgeschlossen o-
der höchst unwahrscheinlich erscheint. Im Zweifelsfall, bei unklarer Be-
weis- oder Rechtslage, ist die vorläufige Eintragung zu bewilligen und die
Entscheidung dem Richter im ordentlichen Verfahren zu überlassen.3 Letzt-
lich läuft es darauf hinaus, dass der gesuchstellende Unternehmer nur die
blosse Möglichkeit eines Anspruchs auf ein Bauhandwerkerpfandrecht
nachzuweisen hat.4
3. Pfandsumme
3.1. Parteibehauptungen
3.1.1. Gesuchstellerin
Die Gesuchstellerin behauptet gestützt auf eine Endkostenprognose eine
Pfandsumme von total Fr. 5'654'432.06 (Gesuch Ziff. 1.10). Aufgeteilt auf
die drei Grundstücke würden sich die massgebenden Pfandsummen pro
Parzelle inklusive einer Sicherheitsmarge von 20 % wie folgt zusammen-
setzen (Gesuch Ziff. 1.11 und 2.9):
Grdst.-Nr. 2 GB R. Fr. 5'088'988.85
Grdst.-Nr. 3 GB R. Fr. 1'017'797.75
Grdst.-Nr. 1 GB R. Fr. 678'531.85
2 BGE 137 III 563 E. 3.3; 86 I 265 E. 3; vgl. auch SCHUMACHER, Das Bauhandwerkerpfandrecht, 3. Aufl.
2008, N. 1394; BSK ZGB II-THURNHERR, 6. Aufl. 2019, Art. 839/840 N. 37. 3 BGE 86 I 265 E. 3; 102 Ia 81 E. 2b.bb; BGer 5A_426/2015 vom 8. Oktober 2015 E. 3.4; 5A_924/2014
vom 7. Mai 2015 E. 4.1.2; SCHUMACHER, Das Bauhandwerkerpfandrecht, Ergänzungsband zur 3. Aufl., 2011, N. 628.
4 SCHUMACHER (Fn. 2), N. 1395.
- 5 -
3.1.2. Gesuchsgegnerin
Die Gesuchsgegnerin hält in ihrer Gesuchsantwort lediglich fest, dass sie
die Forderung der Gesuchstellerin "sowohl in seinem Grundsatz als auch
in ihrem Anteil völlig angefochten". Eine konkrete Bestreitung der einzelnen
von der Gesuchstellerin behaupteten Forderungen unterlässt sie.
3.2. Rechtliches
Art. 219 i.V.m. Art. 222 Abs. 2 ZPO verlangen von der gesuchsgegneri-
schen Partei, darzulegen, welche Tatsachenbehauptungen der gesuchstel-
lenden Partei im Einzelnen anerkannt oder bestritten werden. Es ist des-
halb empfehlenswert, die Tatsachenbehauptungen der Gesuchstellerin de-
tailliert d.h. Punkt für Punkt zu bestreiten.5 Bestreitungen sind dabei so kon-
kret zu halten, dass sich bestimmen lässt, welche einzelnen Behauptungen
damit bestritten werden; die Bestreitung muss ihrem Zweck entsprechend
so bestimmt sein, dass die Gegenpartei weiss, welche einzelne Tatsachen-
behauptung sie beweisen muss. Pauschale Bestreitungen reichen indes-
sen selbst dann nicht aus, wenn sie explizit erfolgen. Erforderlich ist eine
klare Äusserung, dass der Wahrheitsgehalt einer bestimmten gegneri-
schen Behauptung infrage gestellt wird.6
Pfandberechtigt sind die Forderungen der Handwerker oder Unternehmer,
die auf einem Grundstück zu Bauten oder anderen Werken, zu Abbruchar-
beiten, zum Gerüstbau, zur Baugrubensicherung oder dergleichen Material
und Arbeit oder Arbeit allein geliefert haben (Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB).
Die mit dem Bauhandwerkerpfand zu sichernde bzw. die gesicherte Forde-
rung besteht entsprechend in der Vergütungsforderung des Handwerkers
oder Unternehmers. Sie ist mit dieser identisch. Für die Eintragung des
Bauhandwerkerpfandrechts im Grundbuch ist daher nach Art. 794 Abs. 1
i.V.m. Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB eine bestimmte Pfandsumme anzuge-
ben.7
Werden auf mehreren Grundstücken pfandberechtigte Leistungen er-
bracht, so ist die Pfandsumme auf die einzelnen Parzellen zu verteilen.8
Die Aufteilung hat derart zu erfolgen, dass jedes einzelne Grundstück nur
mit demjenigen Anteil belastet wird, der dem Anteil an den Bauarbeiten
entspricht, die tatsächlich für das betreffende (belastete) Grundstück er-
bracht worden sind. Die sich aus der Aufteilung ergebenden Teilbeträge
5 Ähnlich DROESE, Bestreitungsbedürftige Beilagen – ein Hinweis zur bundesgerichtlichen Speise-
karte, Note zu Urteil 4A_11/2018, SZZP 2019, S. 19. 6 BGE 141 III 433 E. 2.6; BGer 4A_9/2018 vom 31. Oktober 2018 E. 2.3; SCHNEUWLY, Lange
Rechtsschriften – Wieso? und was tun?, Anwaltsrevue 2019, S. 445 f. 7 SCHUMACHER (Fn. 2), N. 436, 438 und 547. 8 BSK ZGB II-THURNHERR (Fn. 2), Art. 839/840 N. 18 m.w.H.
- 6 -
sind in der Folge als Teilpfandrechte i.S.v. Art. 798 Abs. 2 ZGB einzutra-
gen.9 Der Unternehmer hat grundsätzlich nachzuweisen, welche konkreten
Leistungen an Arbeit und Material er zu welchen Preisen für jedes einzelne
Grundstück erbracht hat.10 Im Verfahren betreffend vorläufige Eintragung
ist indes – aufgrund der drohenden Verwirkung bei Nichteintragung inner-
halb der Frist von Art. 839 Abs. 2 ZGB – eine Aufteilung auf die einzelnen
Liegenschaften nach Bruchteilen (etwa auf der Grundlage von Quadrat- o-
der Kubikmeterzahlen) statthaft. Die im Grundbuch vorläufig eingetragenen
Teilpfandsummen sind dann im Verfahren betreffend definitive Eintragung
aufgrund konkreter Nachweise der auf den verschiedenen Grundstücken
erbrachten Leistungen zu berichtigen.11 Ein Sicherheitszuschlag bzw. eine
Sicherheitsmarge von 10 bis 20 % ist im Rahmen der vorläufigen Eintra-
gung von Bauhandwerkerpfandrechten bei Gesamtüberbauungen von
Lehre und Rechtsprechung bei der Bemessung der Teilpfandsummen zu-
lasten der einzelnen Parzellen anerkannt.12
3.3. Würdigung
Mangels Bestreitung der Gesuchsgegnerin ist von folgenden Pfandsum-
men (inklusive Sicherheitsmarge von je 20 %) für die drei Grundstücke aus-
zugehen:
Grdst.-Nr. 2 GB R. Fr. 5'088'988.85
Grdst.-Nr. 3 GB R. Fr. 1'017'797.75
Grdst.-Nr. 1 GB R. Fr. 678'531.85
3.4. Verzugszinsen
3.4.1. Parteibehauptungen
Die Gesuchstellerin behauptet, ab dem Zugang der Kündigung des TU-
Vertrags am 15. Juli 2020 (GB 114) seien die jeweiligen Beträge fällig ge-
worden. Ab diesem Zeitpunkt sei somit der Verzugszins im Grundbuch ein-
zutragen (Gesuch Ziff. 2.10).
Die Gesuchsgegnerin äussert sich nicht zu den Verzugszinsen.
3.4.2. Rechtliches
Befindet sich der Forderungsschuldner in Verzug, können auch Verzugs-
zinsen eingetragen werden.13 Die pfandberechtigte Forderung erhöht sich
9 SCHUMACHER (Fn. 2), N. 593, 837; vgl. BRITSCHGI, Das belastete Grundstück beim Bauhandwerker-
pfandrecht, Luzerner Beiträge zur Rechtswissenschaft, Band/Nr. 30, 2008, S. 103-118, 105, 113 f.; vgl. auch MATHIS, Das Bauhandwerkerpfandrecht in der Gesamtüberbauung und im , 1988, S. 150, 152.
10 SCHUMACHER (Fn. 2), N. 593; BRITSCHGI (Fn. 9), S. 114; MATHIS (Fn. 9), S. 152. 11 Vgl. SCHUMACHER (Fn. 2), N. 840; BRITSCHGI (Fn. 9), S. 115; MATHIS (Fn. 9), S. 150 f. 12 Vgl. SCHUMACHER (Fn. 2), N. 850 f.; BRITSCHGI (Fn. 9), S. 110 je m.w.N. 13 SCHUMACHER (Fn. 2), N. 468; vgl. auch BGE 121 III 445 E. 5a; 142 III 73 E. 4.4.2.
- 7 -
entsprechend um die Verzugszinse ohne zeitliche Beschränkung. Bei der
vorläufigen Eintragung hat der Unternehmer seinen Vergütungsanspruch
und seine Forderung auf Verzugszins (inkl. Beginn des Zinsenlaufes)
glaubhaft zu machen (Art. 961 Abs. 3 ZGB).14 Der Schuldner einer fälligen
Forderung gerät entweder durch Mahnung (Art. 102 Abs. 1 OR) oder, so-
fern die Parteien einen bestimmten Verfalltag verabredet haben, schon mit
dessen Ablauf (Art. 102 Abs. 2 OR) in Verzug. Praxisgemäss gerät er auch
mit Ablauf einer in einer Rechnung gesetzten Zahlungsfrist, wie z.B. "zahl-
bar 30 Tage netto", ohne weitere Mahnung in Verzug.15
3.4.3. Würdigung
Voraussetzung für den Anspruch auf Verzugszins ist, dass der Forderungs-
schuldner sich in Verzug befindet. Die Fälligkeit ist eine Voraussetzung für
den Schuldnerverzug, ist jedoch mit diesem nicht gleichzusetzen.16 Für die-
sen ist vielmehr eine Mahnung oder ein bestimmter Verfalltag erforderlich.
Die Gesuchstellerin behauptet weder das eine noch das andere. Auch aus
den Akten ist dies nicht ersichtlich. Die Kündigung des TU-Vertrags am
15. Juli 2020 (GB 114) durch die Gesuchsgegnerin als Forderungsschuld-
nerin ist weder eine Mahnung noch löste sie einen Verfalltag aus.17 Folglich
trat der Verzug der Gesuchsgegnerin erst mit Zustellung des Gesuchs vom
31. August 2020 ein, d.h. am 2. September 2020.18
4. Eintragungsfrist
4.1. Parteibehauptungen
Die Gesuchstellerin behauptet, die Arbeiten gemäss TU-Vertrag und Pro-
jektänderungen seien noch nicht vollendet gewesen, als die Gesuchsgeg-
nerin den TU-Vertrag mit Schreiben vom 14. Juli 2020 gekündigt habe (Ge-
such Rz. 1.14). Die Viermonatsfrist von Art. 839 Abs. 2 ZGB sei damit ge-
wahrt (Gesuch Rz. 2.7).
Die Gesuchsgegnerin äussert sich nicht zur Eintragsfrist von Art. 839
Abs. 2 ZGB.
4.2. Rechtliches
Die Eintragung des Bauhandwerkerpfandrechts muss bis spätestens vier
Monate nach der Arbeitsvollendung erfolgen, andernfalls verwirkt der An-
spruch (Art. 839 Abs. 2 ZGB).19 Die Eintragungsfrist berechnet sich nach
14 SCHUMACHER (Fn. 2), N. 555. 15 AGVE 2003, S. 38; VETTER/BUFF, Verzugszinsen bei «zahlbar innert 30 Tagen», SJZ 2019,
S. 151 f. m.w.N.; BSK OR I-WIDMER LÜCHINGER/WIEGAND, 7. Aufl. 2019, Art. 102 N. 9b; KOLLER, Schweizerisches Obligationenrecht: Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2017, N. 55.32.
16 BK OR-WEBER/EMMENEGGER, 2020, Art. 102 N. 55; BSK OR I-WIDMER LÜCHINGER/WIEGAND (Fn. 15), Art. 102 N. 3 und 4 ff.
17 Siehe zur Kündigung des Forderungsgläubigers BK OR-WEBER/EMMENEGGER (Fn. 16), Art. 102 N. 123 ff. m.w.N.
18 Vgl. BSK OR I-WIDMER LÜCHINGER/WIEGAND (Fn. 15), Art. 102 N. 9. 19 BGE 126 III 462 E. 4c.aa; BSK ZGB II-THURNHERR (Fn. 2), Art. 839/840 N. 29.
- 8 -
Art. 7 ZGB i.V.m. Art. 77 Abs. 1 Ziff. 3 i.V.m. Abs. 2 OR. Sie endet somit an
demjenigen Tag des letzten Monats, der durch seine Zahl dem Tag der
Arbeitsvollendung entspricht.20
Zudem tritt der Fristenlauf gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung
auch vor der Vollendung der geschuldeten Arbeiten ein, wenn der Unter-
nehmer oder der Besteller den Vertrag vorzeitig auflösen,21 wobei es sei-
tens des Unternehmers genügt, wenn er die Arbeit endgültig einstellt.22 Da-
raus folgt, dass die Eintragungsfrist gemäss Art. 839 Abs. 2 ZGB ihren Lauf
grundsätzlich noch nicht mit Eintritt des Schuldnerverzugs des Unterneh-
mers nimmt,23 da die Vertragsauflösung neben dem Schuldnerverzug (von
Ausnahmen nach Art. 108 OR abgesehen) auch dem Ansetzen einer Nach-
frist sowie einer Rücktrittserklärung bedarf (Art. 107 OR). Demzufolge läuft
die Eintragungsfrist gemäss Art. 839 Abs. 2 ZGB vor Arbeitsvollendung all-
gemein nur mit einem rechtsgültigen Rücktritt vom Vertrag.24
Grundsätzlich hat der Unternehmer, welcher für mehrere Bauwerke auf ver-
schiedenen Grundstücken arbeitete, die Eintragungsfrist für jedes Grund-
stück gesondert einzuhalten. Die Frist beginnt deshalb für jedes Grund-
stück bzw. Bauwerk mit der Vollendung der dafür geleisteten Arbeiten se-
parat zu laufen, trotz einer allfälligen einheitlichen Vergebung in einem ein-
zigen Werkvertrag. Indessen gilt ausnahmsweise auch für mehrere Bau-
werke auf verschiedenen Grundstücken ein einheitlicher Fristbeginn, wenn
die Bauwerke oder die Arbeiten bzw. Leistungen hierzu eine funktionelle
Einheit bilden und die Bauarbeiten in einem Zug ausgeführt worden sind.25
4.3. Würdigung
Die Einhaltung der viermonatigen Eintragungsfrist gemäss Art. 839 Abs. 2
ZGB ist aufgrund des unbestritten gebliebenen Tatsachenvortrags der Ge-
suchstellerin nachgewiesen.
5. Ergebnis
Damit ergibt sich zusammenfassend, dass die Voraussetzungen für die
vorläufige Eintragung der Bauhandwerkerpfandrechte in der jeweils bean-
tragten Höhe nebst Zins zu 5 % seit dem 2. September 2020 erfüllt sind
und das Grundbuchamt Z. anzuweisen ist, diese Vormerkungen entspre-
chend ins Grundbuch einzutragen.
20 BSK ZGB II-THURNHERR (Fn. 2), Art. 839/840 N. 31a. 21 BGE 120 II 389 = Pra 84 (1995) Nr. 199 E. 1.a und b; BGE 102 II 206 = Pra 65 (1976) Nr. 220
E. 1.a. 22 BGer 5A_683/2010 vom 15. November 2011 E. 4.1; SCHUMACHER (Fn. 2), N. 1125. 23 Anderer Ansicht SCHUMACHER (Fn. 2), N. 1129 ff. 24 BGE 120 II 389 = Pra 84 (1995) Nr. 199 E. 1.a und b; BGE 102 II 206 = Pra 65 (1976) Nr. 220
E. 1.a. 25 SCHUMACHER (Fn. 2), N. 1204 ff.; BSK ZGB II-THURNHERR (Fn. 2), Art. 839/840 N. 30.; BRITSCHGI,
Das belastete Grundstück beim Bauhandwerkerpfandrecht, 2008, S. 55 f.
- 9 -
6. Prosequierung
Ist eine Klage auf definitive Eintragung des Bauhandwerkerpfandrechts
noch nicht rechtshängig, ist der gesuchstellenden Partei nach Art. 263 ZPO
eine Frist zur Einreichung der Klage mit der Androhung anzusetzen, dass
die Vormerkung der vorläufigen Eintragung im Grundbuch bei ungenutztem
Ablauf der Frist ohne weiteres und ersatzlos gelöscht werde.26 Die Prose-
quierungsfrist beträgt nach handelsgerichtlicher Praxis bei Fällen der vor-
liegenden Grösse rund drei Monate. Der Fristenstillstand gemäss Art. 145
Abs. 1 ZPO ist bei der Prosequierungsfrist nach Art. 263 ZPO i.V.m.
Art. 961 Abs. 3 ZGB ausgeschlossen.27
7. Prozesskosten
Die Prozesskosten, bestehend aus Gerichtskosten und Parteientschädi-
gung, werden der unterliegenden Partei auferlegt (Art. 95 Abs. 1 und
Art. 106 Abs. 1 ZPO). Ausgangsgemäss sind sie von der Gesuchsgegnerin
zu tragen.
7.1.
Unter Berücksichtigung des verursachten Aufwands sowie des Umfangs
der Streitigkeit werden die Gerichtskosten auf Fr. 8'000.00 festgesetzt (§ 8
VKD; SAR 221.150). Gestützt auf Art. 111 Abs. 1 Satz 1 ZPO werden sie
vorab mit dem von der Gesuchstellerin geleisteten Gerichtskostenvor-
schuss in Höhe von Fr. 12'000.00 verrechnet. Die Gesuchsgegnerin hat der
Gesuchstellerin die Gerichtskosten, d.h. Fr. 8'000.00, direkt zu ersetzen
(vgl. Art. 111 Abs. 2 ZPO). Ein allfälliger Überschuss steht der Gesuchstel-
lerin zu.
7.2.
Die Gesuchsgegnerin hat der Gesuchstellerin zudem eine Parteientschä-
digung zu bezahlen (Art. 106 Abs. 1 ZPO). Die Parteientschädigung wird
nach dem Streitwert – vorliegend Fr. 6'785'318.45 – bemessen (vgl. § 3
AnwT; SAR 291.150). Ausgehend von einer Grundentschädigung von rund
Fr. 136'933.20 (§ 3 Abs. 1 lit. a Ziff. 12 AnwT) resultiert nach Vornahme ei-
nes Summarabzugs von 75 % (§ 3 Abs. 2 AnwT) ein Betrag von rund
Fr. 34'233.30. Damit sind insbesondere eine Rechtsschrift und die Teil-
nahme an einer behördlichen Verhandlung abgegolten (vgl. § 6 Abs. 1
AnwT). Nach weiteren Abzügen von 20 % wegen der nicht durchgeführten
Verhandlung (§ 6 Abs. 2 AnwT) und von 50 % wegen der gemessen am
Streitwert nur geringfügigen Aufwendungen (§ 7 Abs. 2 AnwT), resultiert
ein Betrag in Höhe von Fr. 13'693.30. Nach Hinzurechnung einer Ausla-
26 SCHUMACHER (Fn. 2), N. 672 ff. 27 BGE 143 III 554 E. 2.5.2 m.w.H.; vgl. auch SCHUMACHER (Fn. 2), N. 688.
- 10 -
genpauschale (§ 13 Abs. 1 AnwT) von praxisgemäss 3 % resultiert ein Be-
trag in Höhe von gerundet Fr. 14'100.00, den die Gesuchsgegnerin der
Gesuchstellerin als Parteientschädigung zu bezahlen hat.
Dem gesuchstellerischen Antrag auf Zusprechung des Mehrwertsteuerzu-
schlags ist nicht zu entsprechen. Die Gesuchstellerin ist gemäss UID-Re-
gister28 selber mehrwertsteuerpflichtig. Sie kann die ihrem Anwalt bezahlte
Mehrwertsteuer als Vorsteuer von ihrer eigenen Mehrwertsteuerrechnung
in Abzug bringen (Art. 28 MWSTG).29 Die Mehrwertsteuer stellt somit kei-
nen zusätzlichen Kostenfaktor dar und ist bei der Bemessung der Partei-
entschädigung deshalb nicht zu berücksichtigen.
7.3.
Eine abweichende Verlegung der Prozesskosten im allenfalls vor Handels-
gericht stattfindenden Hauptprozess im ordentlichen Verfahren oder auf-
grund separater Verfügung im vorliegenden Verfahren bleibt vorbehalten.
Der Vizepräsident erkennt:
1.
In teilweiser Gutheissung des Gesuchs vom 31. August 2020 wird der
Gesuchstellerin die Vormerkung je einer vorläufigen Eintragung eines Bau-
handwerkerpfandrechts gemäss Art. 837/839 i.V.m. Art. 961 ZGB wie folgt
Fr. 678'531.85 zuzüglich Zins zu 5 % seit 2. September 2020 auf
Grdst.-Nr. 1 GB R. (E-GRID: CH 123)
Fr. 5'088'988.85 zuzüglich Zins zu 5 % seit 2. September 2020 auf
Grdst.-Nr. 2 GB R. (E-GRID: CH 456)
Fr. 1'017'797.75 zuzüglich Zins zu 5 % seit 2. September 2020 auf
Grdst.-Nr. 3 GB R. (E-GRID: CH 789)
bewilligt.
2.
Das Grundbuchamt Z. wird angewiesen, die Vormerkung gemäss vorste-
hender Dispositiv-Ziff. 1 sofort einzutragen.
28 Vgl. <https://www.uid.admin.ch/_> (zuletzt besucht am 16. September 2020). 29 Vgl. Merkblatt zur Frage der Berücksichtigung der Mehrwertsteuer bei der Bemessung der Partei-
entschädigung der Gerichte des Kantons Aargau vom 11. Januar 2016 <https://www.ag.ch//kanton_aargau/jb/dokumente_6/obergerichte/handelsgericht/Merkblatt_MwSt.pdf> (zuletzt am 16. September 2020).
- 11 -
3.
3.1.
Die Gesuchstellerin hat bis zum 17. Dezember 2020 beim zuständigen
Gericht im ordentlichen Verfahren Klage auf definitive Eintragung des Bau-
handwerkerpfandrechts anzuheben.
3.2.
Im Säumnisfall fällt die in der vorstehenden Dispositiv-Ziff. 1 angeordnete
vorsorgliche Massnahme dahin, wobei die Vormerkung im Grundbuch nur
auf entsprechendes Gesuch hin gelöscht wird.
3.3.
Es gilt kein Stillstand der Fristen.
4.
4.1.
Die Gerichtskosten in Höhe von Fr. 8'000.00 sind von der
Gesuchsgegnerin zu tragen und werden mit dem von der Gesuchstellerin
geleisteten Gerichtskostenvorschuss in Höhe von Fr. 12'000.00 verrech-
net. Die Gesuchsgegnerin hat die von ihr zu tragenden Gerichtskosten der
Gesuchstellerin direkt zu ersetzen.
4.2.
Die Gesuchsgegnerin hat der Gesuchstellerin deren Parteikosten in rich-
terlich festgesetzter Höhe von Fr. 14'100.00 (inkl. Auslagen) zu ersetzen.
4.3.
Eine abweichende Verlegung der Prozesskosten mittels separater Verfü-
gung oder im ordentlichen Verfahren bleibt vorbehalten, falls dieses vor
dem Handelsgericht stattfindet.
Zustellung an:
die Gesuchstellerin (Vertreter; zweifach mit Abrechnung und Doppel
der Gesuchsantwort vom 15. September 2020. Vorab per E-Mail:
[email protected])
die Gesuchsgegnerin (Vertreter; zweifach. Vorab per E-Mail:
[email protected])
Zustellung an:
das Grundbuchamt Z. (vorab per E-Mail: [email protected])
mailto:[email protected] mailto:[email protected] mailto:[email protected]
- 12 -
Rechtsmittelbelehrung für die Beschwerde in Zivilsachen (Art. 72 ff.,
Art 90 ff. BGG)
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen, von der schriftlichen Eröff-
nung der vollständigen Ausfertigung des Entscheids an gerechnet, die Be-
schwerde an das Schweizerische Bundesgericht erhoben werden.
Die Beschwerde ist schriftlich oder in elektronischer Form beim Schweize-
rischen Bundesgericht einzureichen. Die Beschwerdeschrift ist in einer
Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit An-
gabe der Beweismittel und die Unterschriften bzw. eine anerkannte elekt-
ronische Signatur zu enthalten. In der Begründung ist in gedrängter Form
darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid verfassungsmässige
Rechte (Art. 98 ff. BGG) verletzt. Die Urkunden, auf die sich die Partei als
Beweismittel beruft, sind beizulegen, soweit die Partei sie in den Händen
hat; ebenso ist der angefochtene Entscheid beizulegen (Art. 42 BGG).
Aarau, 16. September 2020
Handelsgericht des Kantons Aargau
2. Kammer
Der Vizepräsident: Der Gerichtsschreiber-Stv.:
Vetter Stich | 6,501 | 4,488 | AG_HG_002 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_002_-Handelsrecht-Bauhan_2020-09-16 | https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/jb/dokumente_6/gesetze___entscheide/gesetze_2/handelsrecht/Entscheid_des_Handelsgerichts_vom_15.09.2020.pdf | null | nan |
||
c83fa58a-4c3a-5f64-afca-43f2bf2ca64c | 1 | 417 | 870,786 | 1,303,948,800,000 | 2,011 | de | 2011
Jugendstrafrecht
49
V. Jugendstrafrecht
12
Art. 25 Abs. 2 lit. b JStG, Art. 156 Ziff. 3 i.V.m. 140 Ziff. 3 Abs. 3 StGB
Der erhöhte Strafrahmen von Art. 25 Abs. 2 lit. b JStG findet aufgrund
des Verweises in Art. 156 Ziff. 3 StGB auf die Bestrafung nach Art. 140
StGB auch auf die räuberische Erpressung gemäss Art. 156 Ziff. 3 i.V.m.
Art. 140 Ziff. 3 StGB Anwendung, sofern der Jugendliche zur Zeit der Tat
das 16. Altersjahr vollendet hat und die Tat mit besonderer Skrupel-
losigkeit begangen hat.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, Jugendstrafkammer, vom 28. April
2011 i.S. Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau gegen M.H. (SJU.2010.1).
Aus den Erwägungen
5.3.
5.3.1.
Der Strafrahmen eines Freiheitsentzuges reicht bei Jugendlichen
über 15 Jahren von einem Tag bis zu einem Jahr (Art. 25 Abs. 1
JStG), gemäss Art. 25 Abs. 2 lit. b JStG jedoch bis zu vier Jahren, so-
fern der Jugendliche zum Zeitpunkt der Tat über 16 Jahre alt war,
besonders skrupellos gehandelt hat und sich unter anderem des Rau-
bes gemäss Art. 140 Ziff. 3 StGB strafbar gemacht hat.
Nach dem Gesagten ist der Angeklagte nicht wegen Raubes,
sondern wegen räuberischer Erpressung gemäss Art. 156 Ziff. 3
StGB schuldig zu sprechen. Die Strafe für räuberische Erpressung
gemäss Art. 156 Ziff. 3 StGB richtet sich nach jener des Raubes ge-
mäss Art. 140 StGB, was auch die Qualifikationen von Art. 140
Ziff. 2 und 3 StGB miteinschliesst. Der Gesetzgeber wollte mit die-
ser Gleichsetzung der Strafen bei beiden Tatbeständen erreichen,
dass räuberische Erpressung aufgrund ihres gleichen Unrechtsgehalts
mit der gleichen Härte bestraft wird wie Raub. Begeht somit ein dem
2011
Obergericht
50
Erwachsenenstrafrecht unterstellter Angeklagter eine räuberische
Erpressung und erfüllt er eine Qualifikationen von Art. 140 Ziff. 2-4
StGB, gilt für ihn der erweiterte Strafrahmen, wie wenn er einen
Raub begangen hätte. Im Jugendstrafrecht kann nichts anderes gel-
ten: Aufgrund des Verweises von Art. 156 Ziff. 3 StGB auf die Be-
strafung nach Art. 140 StGB inklusive der erhöhten Strafrahmen für
die qualifizierte Begehung ist der auf vier Jahre erhöhte Strafrahmen
von Art. 25 Abs. 2 lit. b JStG auch auf eine räuberische Erpressung
anzuwenden, sofern der Täter die Tat in qualifizierter Weise begeht.
Es wäre nicht einzusehen und würde dem Willen des Gesetzgebers,
Taten nach den beiden Tatbeständen aufgrund ihres gleichen Un-
rechtsgehalts mit der gleichen Härte zu bestrafen, widersprechen,
wenn für dieselbe Tat aufgrund der rechtlichen Qualifikation als räu-
berische Erpressung anstatt als Raub ein Strafrahmen von einem Tag
bis zu einem Jahr anstatt bis zu vier Jahren gelten würde. Daran än-
dert auch der Umstand nichts, dass die Liste der in Art. 25 Abs. 2
lit. b JStG genannten Tatbestände eine abschliessende ist und die Be-
stimmung restriktiv gehandhabt werden soll. Die Anwendung von
Art. 25 Abs. 2 lit. b JStG wird hierdurch nicht um den Tatbestand der
Erpressung gemäss Art. 156 StGB ergänzt, sondern er findet auf-
grund des Verweises in Art. 156 Ziff. 3 auf die Bestrafung nach
Art. 140 Ziff. 3 StGB Anwendung.
Der erhöhte Strafrahmen von Art. 25 Abs. 2 lit. b JStG ist somit
auch auf die mit besonderer Skrupellosigkeit begangene besonders
gefährliche räuberische Erpressung gemäss Art. 156 Ziff. 3 i.V.m.
Art. 140 Ziff. 3 Abs. 3 StGB anwendbar. | 852 | 692 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2011-12_2011-04-28 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2011-12.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2011-12.pdf | AGVE_2011_12 | null | nan |
c94b6b8a-eae9-5ef4-b4fa-75d3050f855f | 1 | 417 | 870,582 | 1,241,222,400,000 | 2,009 | de | 2009
Strafprozessrecht
53
IV. Strafprozessrecht
10
§§ 164 Abs. 1, 169, 217 Abs. 2 StPO; § 94 Abs. 1 GOG, § 33 Abs. 1 lit. g
GOD
Gegen den Entscheid eines Gerichts, mit welchem es einem Veruteilten
nach Rechtskraft des Urteils zusätzliche Verfahrenskosten auferlegt, steht
dem Verurteilten nicht die Kostenbeschwerde im Sinne von § 94 Abs. 1
GOG i.V.m. § 33 Abs. 1 lit. g GOD, sondern die Berufung im Sinne von
§ 217 Abs. 2 StPO zur Verfügung.
Muss das Gericht im Zeitpunkt der Urteilsfällung damit rechnen, dass zu
einem späteren Zeitpunkt weitere Verfahrenskosten anfallen werden, so
muss es einen entsprechenden Vorbehalt im Urteilsdispositiv anbringen.
Anderfalls können diese Kosten dem Veruteilten nachträglich nicht mehr
auferlegt werden.
Nach Rechtskraft des Urteils können einem Veruteilten nicht Kosten
auferlegt werden, welche durch das Rechtsmittelverfahren eines Mitver-
urteilten entstanden sind.
Aus dem Urteil des Obergerichts, 2. Strafkammer, vom 12. Mai 2009, i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau gegen R.S. (SST.2009.14).
Sachverhalt
In einem Strafverfahren gegen mehrere Angeklagte auferlegte
das Bezirksgericht X. mit Urteil vom 12. Juni 2003 dem Angeklagten
R.S. u.a. 15% der gesamten Verfahrenskosten. Dieses Urteil erwuchs
in Rechskraft. Einer der Mitverurteilten, R.B., erhob gegen das gegen
ihn ausgesprochene Urteil Berufung. Bestimmte beschlagnahmte Ge-
genstände mussten während dieses Rechtsmittelverfahrens weiterhin
aufbewahrt werden, wodurch zusätzliche Mietkosten entstanden.
Nach dessen Abschluss auferlegte das Bezirksgericht mit Ergän-
zungsurteil vom 28. August 2008 die zusätzlichen Kosten anteils-
2009
Obergericht
54
mässig auf alle Mitverurteilten. Gegen dieses Ergänzungsurteil erhob
R.S. Beschwerde.
Aus den Erwägungen
2.
2.1.
Die Vorinstanz versah ihr Urteil vom 28. August 2008 mit einer
Rechtsmittelbelehrung gemäss § 94 GOG (Gerichtsorganisationsge-
setz; Gesetz über die Organisation der ordentlichen richterlichen Be-
hörden vom 11. Dezember 1984).
Gemäss § 94 GOG können u.a. Verfügungen und Entscheide
des Bezirksgerichts über die Festsetzung der Höhe von Gerichtskos-
ten innert 20 Tagen von der Mitteilung an gerechnet beim Oberge-
richt mit Beschwerde angefochten werden.
2.2.
Die Vorinstanz auferlegte dem Verurteilten mehr als fünf Jahre
nach Rechtskraft des gegen ihn in der Sache ergangenen Urteils vom
12. Juni 2003 einen Anteil der gesamten Mietkosten betreffend die
J. S. G. in W., welche ihr bis zum Abschluss des vom Mitangeklagten
R.U.B. angestrengten Rechtsmittelverfahrens angefallen waren.
Gegenstand des vorinstanzlichen Urteils bildet somit nicht die
Festsetzung der Höhe von Gerichtskosten, sondern deren nachträgli-
che Auferlegung.
Gegen einen solchen Entscheid der Vorinstanz steht dem Verur-
teilten die Kostenbeschwerde im Sinne von § 94 Abs. 1 GOG i.V.m.
§ 33 lit. g GOD nicht zur Verfügung.
2.3.
Gemäss § 217 Abs. 2 StPO können mit Berufung auch Mängel
des vorinstanzlichen Verfahrens gerügt werden, soweit sie nicht mit
dem Rechtsmittel der Beschwerde gesondert anfechtbar sind. Urteile
der Bezirksgerichte können nicht mit dem Rechtsmittel der Be-
schwerde im Sinne von § 213 StPO angefochten werden.
Die Beschwerde des Verurteilten ist demnach als Berufung
im Sinne von § 217 StPO an die Hand zu nehmen.
2009
Strafprozessrecht
55
3.
Die Vorinstanz auferlegte dem Verurteilten mit Urteil vom
28. August 2008 in Ergänzung der Ziffer 7 ihres Urteils vom 12. Juni
2003 zusätzliche Verfahrenkosten mit der Begründung, dass dem
Verurteilten gemäss Ziffer 7 dieses Urteils 15 % der Auslagen aufer-
legt worden seien. Auslagen seien jene Kosten, welche dem Gericht
während der Dauer des Verfahrens anfielen. Während der ganzen
Dauer des Verfahrens seien Mietkosten betreffend die J.S.G.. in W.
angefallen. Nachdem die Vernichtung der darin gelagerten Infra-
struktur erst nach Rechtskraft des Verfahrens habe erfolgen können
und die gesamte Miete 13 500 Franken (18 mal 750 Franken) aus-
mache, seien dem Verurteilten somit 2025 Franken aufzuerlegen.
4.
4.1. Gerichte sind - anders als Verwaltungsbehörden - an ihre
einmal verkündeten oder zugestellten Sach- oder Prozessurteile ge-
bunden und dürfen diese nicht in Wiedererwägung ziehen bzw. wi-
derrufen. Einmal erlassene Entscheidungen dürfen folglich durch die
erlassende Instanz aus eigener Macht weder aufgehoben noch er-
gänzt werden. Dies kann nur durch eine übergeordnete richterliche
Instanz erfolgen. Diesem Prinzip folgt auch das aargauische Prozess-
recht (vgl. Beat Brühlmeier, Kommentar zur aargauischen Strafpro-
zessordung, 2. Auflage, Aarau 1980, Ziffer 5 zu § 166 StPO; Bühler/
Edelmann/Killer, Kommentar zur aargauischen Zivilprozessordnung,
2. Auflage, Aarau/Frankfurt am Main 1998, § 280 ZPO N 1 ff.; Hau-
ser/Schweri/Hartmann, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6.
Auf-
lage, Basel 2005, § 45 N 19; Häfelin/ Müller/Uhlmann, Allgemeines
Verwaltungsrecht, 5. Auflage, Zürich/Basel/Genf/St. Gallen 2006,
N 994 S. 206 f.).
4.2.
Ausnahmsweise hat der Richter gemäss § 169 Abs. 2 erstem
Satz StPO die Möglichkeit, nach Eintritt der Rechtskraft eines Ur-
teils, von Amtes wegen oder auf Gesuch hin, Missschreibungen und
Missrechnungen sowie offenbare Irrtümer von Amtes wegen zu be-
richtigen. Dabei ist es dem Richter nicht gestattet, am Entschei-
dungsinhalt seines Urteils Korrekturen vorzunehmen, was dann der
Fall ist, wenn dadurch etwas Neues ausgedrückt wird. Eine Än-
2009
Obergericht
56
derung ist nur insoweit zulässig, als das Urteil unklar ist oder ein-
zelne unklare oder sich widersprechende Anordnungen enthält (vgl.
Brühlmeier, a.a.O., § 169 Abs. 2 lit. c). Wenn der Richter hingegen
Kosten nicht richtig verteilt, liegt ein Fehler in der Willensbildung
des Richters vor, welcher einer Urteilsergänzung in diesem Sinne
nicht zugänglich ist (vgl. Bühler/Edelmann/Killer, a.a.O., § 281 N 6
und 8), und für nachträgliche Änderungen eines eröffneten Ent-
scheids bleibt kein Raum.
5.
5.1.
Die Vorinstanz hatte dem Verurteilten mit Urteil vom 12. Juni
2003 die bis zu jenem Zeitpunkt angefallenen Verfahrenskosten in
der Höhe von insgesamt Fr. 12 270.05 abschliessend und vorbehalt-
los auferlegt. Den vorinstanzlichen Erwägungen im Urteil vom
28. August 2008 ist zu entnehmen, dass dieses nicht die Berichtigung
von Missschreibungen und Missrechnungen im Sinne von § 169 Abs.
2 erster Satz StPO zum Zweck hatte. Namentlich wurde die mit Ur-
teil vom 12. Juni 2003 festgesetzte Höhe der Verfahrenskosten weder
falsch berechnet noch unrichtig geschrieben.
5.2.
Die nachträgliche Auferlegung von zusätzlichen Kosten ist un-
ter diesen Umständen nicht möglich. Soweit die Vorinstanz im Zeit-
punkt der Urteilsfällung am 12. Juni 2003 tatsächlich damit hätte
rechnen müssen, dass bei Ergreifung eines Rechtsmittels durch einen
oder mehrere Angeklagte weitere Mietkosten betreffend die J. S.G. in
W. anfallen würden, hätte sie einen entsprechenden Vorbehalt im Ur-
teilsdispositiv anbringen müssen.
5.3.
Ungeachtet dessen können einem Verurteilten nach Rechtskraft
des ihn betreffenden erstinstanzlichen Urteils nicht Kosten auferlegt
werden, welche durch das Rechtsmittelverfahren eines Mitangeklag-
ten entstanden sind. Ein solches Vorgehen widerspräche dem Verur-
sacherprinzip, da die Straftat des Verurteilten unter diesen Um-
ständen nicht mehr als Ursache des Rechtsmittelverfahrens gelten
kann. Der Zeitpunkt der Rechtskraft des den Verurteilten betreffen-
den erstinstanzlichen Urteils unterbricht die Kausalität zwischen sei-
2009
Strafprozessrecht
57
ner Straftat und einem nicht von ihm selbst in Gang gebrachten
Rechtsmittelverfahren. | 1,756 | 1,390 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2009-10_2009-05-02 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2009-10.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2009-10.pdf | AGVE_2009_10 | null | nan |
c959c05f-e8b4-5420-95fb-0ef02a766d22 | 1 | 417 | 869,706 | 1,133,222,400,000 | 2,005 | de | 2005
Strafprozessrecht
85
[...]
20
§ 139 f. StPO; Kosten und Entschädigung bei Einstellung des Strafverfah-
rens.
Die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft nach § 139 Abs. 1 und § 140
Abs. 1 StPO gilt auch für Teileinstellungsverfügungen. Der Entscheid
über die Kostentragung und eine allfällige Entschädigung darf nicht ohne
Not dem Sachrichter überbunden werden.
Aus dem Entscheid des Obergerichts, Beschwerdekammer in Strafsachen,
vom 29. November 2005 i.S. H.H.
Aus den Erwägungen
1. Gemäss § 139 Abs. 1 StPO entscheidet die Staatsanwaltschaft
bei Einstellung der Untersuchung in der Einstellungsverfügung
zugleich über die Untersuchungskosten, und gemäss § 140 Abs. 1
StPO hat sie auch über ein Entschädigungsbegehren zu befinden, das
vom Beschuldigten, gegen den das Verfahren eingestellt worden ist,
innert 30 Tagen seit Zustellung der Einstellungsverfügung einzurei-
chen ist (§ 140 Abs. 3 StPO).
2005
Obergericht
86
Dies gilt selbstverständlich auch für Teileinstellungsverfügun-
gen, wo die Einstellung nur für Teile der durchgeführten Untersu-
chung erfolgt und im Übrigen Anklage erhoben wird. Angesichts des
klaren Gesetzeswortlauts darf der Entscheid über die Kostentragung
und eine allfällige Entschädigung in solchen Fällen nicht ohne Not
(und schon gar nicht generell) dem Sachrichter überbunden werden,
es sei denn, eine Beurteilung hänge wesentlich vom Ausgang des Ge-
richtsverfahrens ab und sei durch die Staatsanwaltschaft gar nicht
möglich. Keinen Grund, die Beurteilung dem Sachrichter zu überlas-
sen, bieten Schwierigkeiten bei der Kostenausscheidung. Eine
pflichtgemässe Ausscheidung und Abschätzung der Kosten für den
eingestellten Teil der Untersuchung ist von der zuständigen Instanz
ohnehin vorzunehmen.
An den aufgeführten Grundsätzen vermag die von der Staatsan-
waltschaft geltend gemachte "langjährige Praxis", bei Teileinstellun-
gen den Sachrichter über die gesamten Kosten entscheiden zu lassen,
nichts zu ändern. Der Gesetzeswortlaut bietet keinen Raum für eine
derartige Auslegung; es liegt - entgegen der Auffassung der Staatsan-
waltschaft - selbstverständlich keine Gesetzeslücke vor. Dass die
Staatsanwaltschaft grundsätzlich auch bei Teileinstellungen entschei-
det, ist im Übrigen auch folgerichtig, hat sie sich doch mit den Akten
der eingestellten Untersuchung eingehend befasst. | 490 | 405 | AG_HG_001 | AG_HG | AG | Northwestern_Switzerland | AG_HG_001_AGVE-2005-20_2005-11-29 | http://agve.weblaw.ch/html//AGVE-2005-20.html | https://agve.weblaw.ch/pdf/AGVE-2005-20.pdf | AGVE_2005_20 | null | nan |